Otto der Faule war Liebling der Schüler
Vor 120 Jahren wurde am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin über ein skurriles Aufsatzthema geschrieben



Was Kaiser Wilhelm II. im Bereich der Kunst schön empfand und ihm für sein Regime als nützlich erschien, hat er großzügig gefördert, was ihm widerstrebte, tat er als "Rinnsteinkunst" ab. Der kaiserliche Stifter der auch Puppenallee genannten Siegesallee soll die 16 Figurengruppen mit je 50 000 Mark angeblich aus seiner Privatschatulle bezahlt haben.



Markgraf Otto der Faule wartet auf seinen Umzug in das Skulpturenmuseum der Spandauer Zitadelle. Von seinem Beinamen, dem "blöden Gesicht" und schlaffen Waden schlossen pfiffige Schüler messerscharf, mit ihm könne nicht viel los gewesen sein und er habe ein fürstliches Leben in Trägheit und Faulheit verbracht.



"In Berlin sind die Vogelscheuchen sogar aus Marmor", staunen Besucher aus der Provinz beim Anblick der Siegesallee im Tiergarten.





Die Standbilder, Assistenzfiguren und Marmorbänke der Siegesallee sind schon längst vergangen. Die Fotos zeigen oben Joachim Friedrich, den Stifter des Joachimsthaler Gymnasiums, in der Kaiserzeit, darunter Aufstellung der Relikte, die den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, in der Spandauer Zitadelle. Vor der Einrichtung des Skulpturenmuseums in der Spandauer Zitadelle waren die Marmorfiguren längere Zeit unter freiem Himmel aufgestellt.



Olaf Gulbransson nahm in der Münchner Satirezeitschrift "Simplicissimus" die serienmäßige Fertigung von Denkmälern kritisch aufs Korn. Hier nimmt der Bildhauer am Telefon Bestellungen im Dutzend an. (Fotos/Repros: Caspar)

Ein Lehrer des Joachimsthalschen Gymnasiums in Wilmersdorf bei Berlin, Professor Dr. Otto Schroeder, ließ 1901, als man den 200. Jahrestag der Krönung des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. zum König Friedrich in Preußen feierte, auf die skurrile Idee, seine Schüler einen Hausaufsatz über "Die Beinstellung der Denkmäler in der Siegesallee" schreiben. Die Niederschriften von vier Oberprimanern der renommierten Schule gelangten auf verschlungenen Pfaden unter die Augen Kaiser Wilhelms II., des Stifters der mit Standbildern brandenburgisch-preußischer und anderer Herrscher geschmückten Siegesallee im Berliner Tiergarten. Der Monarch las die Aufzeichnungen mit Wohlgefallen, zensierte sie noch einmal und versah sie mit Randbemerkungen, wie er es auch bei Staatsdokumenten, Depeschen, Bittschriften und anderen Schriftstücken tat.

Des Kaisers Anmerkungen kamen ins Museum

Am Joachimsthalschen Gymnasium wurden die durch Kaisers Hand "veredelten" Hefte wie Reliquien aufbewahrt. Wenigstens bis 1945 sollen sie sich im Archiv der Schule im uckermärkischen Templin befunden haben. Vorsichtshalber waren von den Aufsätzen Faksimiles angefertigt und dem Berliner Hohenzollern-Museum übergeben worden. Um unnötiges Aufsehen zu vermeiden und den Monarchen vor Kritik zu schützen, erging 1902 an den Museumsdirektor Professor Dr. Paul Seidel die Anweisung, die Kopien vor unbefugte Blicken zu schützen, hoffend, dass man "die Sache" nach Jahrzehnten milder beurteilt. Nach dem Zweiten Weltkrieg infolge von kriegsbedingter Auslagerung im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Merseburg verwahrt, wurden die Aufsätze erstmals 1960 von dem sieben Jahre zuvor bei Walter Ulbricht in Ungnade gefallenen und an das Archiv abgeschobene SED-Funktionär Rudolf Herrnstadt unter dem Titel "Die Beine der Hohenzollern" publiziert worden.

Versehen mit ätzenden Kommentaren im Sinne des marxistisch-leninistischen Klassenstandpunkts, ist Herrnstadts die Edition ein für die Zeit des Stalinismus und des Kalten Kriegs charakteristisches, ja hasserfülltes Dokument dafür, wie Kommunisten die Ära Wilhelms II. sahen und sehen wollten. Der im Zusammenhang mit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und unter dem Vorwurf, er habe Ulbricht und seine Clique absetzen wollen geschasste Chefredakteur des Parteiorgans "Neues Deutschland" konnte sein Buch nicht unter seinem richtigen Namen tun, sondern musste das Pseudonym R. E. Hardt benutzen. 1990 und 2001 erfolgten aktualisierte Neuausgaben, in denen Hintergründe des merkwürdigen Aufsatzthemas beleuchtet und auch der Name des Klassenlehres genannt wurde, der seine Schüler mit der Forderung traktierte, aus der Beistellung der Marmorfiguren Schlüsse auf deren Charakter, Leben und Werk zu ziehen.

Schüler mussten Beinstellung bewerten

Wir wissen nicht, wie Otto Schroeder die Aufgabe für den Aufsatz erläuterte, ob er es humorvoll oder streng wissenschaftlich tat und was die Schüler im Tiergarten anstellten, als sie die Figuren besichtigten. Die Oberprimaner unternahmen Detailstudien vor allem an den Beinen, zählten stramme Schenkel und schlaffe Waden zusammen und verglichen sie miteinander. Schaut man sich die Schüleraufsätze an, so wird man unschwer feststellen, dass der Lehrer bei der Korrektur seine Not hatte, den Gedanken seiner Zöglinge zu folgen. Kräftige Striche mit blauem Stift am Seitenrand, Fragezeichen, Klammern und andere Markierungen im Text sind der Beweis. Schroeders Urteil fiel meist weniger freundlich aus, das des Kaisers hingegen ist positiver, denn natürlich glaubte der Denkmalstifter mehr von Kunst und Geschichte zu verstehen als ein subalterner Gymnasialprofessor.

Genialisches ist bei den Aufsätzen nicht zu entdecken. Die Schüler hielten sich streng an die Vorgaben, betrachteten schematisch erst die rechten Fürstenbeine, die vorgestellt sind, dann die linken Beine oder umgekehrt. Sie registrierten auch abweichende Stellungen und Körperhaltungen wie das als weichlich geltende Übereinanderschlagen der Beine und das Anlehnen an einen Baumstamm. Diese Stellungen werden eher kraftlosen, unkriegerischen, bequemen Herrschern zugeordnet. Deren Tun und Lassen stimmte so gar nicht mit dem Ideal eines energiegeladenen Landesherrn überein, der Entscheidungen mehr mit "Blut und Eisen" herbeiführt als dass er mit dem Kopf und klugen Beratern arbeitet. Letzteres scheint in der kaiserzeitlichen Wertehierarchie niedriger angesiedelt gewesen zu sein als die Durchsetzung monarchischer Ziele mit Schwert und kasernenhofmäßigen Befehlston.

Außenseiter mit blödem Gesicht

Bei aller Mühe, aus der Beinstellung auf Charakter und historische Leistung eines Herrschers zu schließen, war es für die Gymnasiasten sicher erholsam, auf eine Figur zu treffen, der man humorvolle Betrachtungen widmen konnte. Ein solcher Monarch war König Friedrich Wilhelm II., der Neffe und Nachfolger Friedrichs II. Wurde der Große König als Musensohn und Bauherr, vor allem aber als großer Feldherr verehrt, so kannte man den "dicken Wilhelm", wie die Berliner den Nachfolger Friedrich Wilhelm II. nannten, eigentlich nur als Frauenheld und Lebemann. Ein solcher Herrscher konnte nur mit schlaffen Knien dargestellt werden, träge, triebhaft, aufgeblasen. Wie Friedrich Wilhelm II., der als Begründer des Klassizismus in Preußen und Bauherr des Brandenburger Tors in Berlin in die Geschichte einging und seinem Reich das "Allgemeine Landrecht" brachte, so passte auch ein anderer Herrscher nicht richtig in die marmorne Heldensammlung - Markgraf Otto der Faule, ein Vertreter der vor den Hohenzollern auf dem brandenburgischen Thron sitzenden, ansonsten in Bayern regierenden Wittelsbacher.

Auf den vom Bildhauer Adolph Brütt gestalteten Markgrafen Otto stürzten sich die Gymnasiasten mit besonderer Wonne. Mit ihrem Interesse an dem Schwächling waren sie nicht allein, denn es ist überliefert, dass sich Berliner Kinder und Schüler bei Führungen entlang der Siegesallee vor diesem in ziemlich lascher Haltung und mit "blödem Gesicht", wie man sagte, dargestellten Außenseiter versammelten und ihre Witze machten. Ein solcher Mensch war eigentlich unwürdig, brandenburgische Geschichte auf der Siegesallee zu repräsentieren. Da aber Wilhelm II. auf Vollständigkeit bestanden hatte, konnte man Otto V., den Faulen, nicht einfach ignorieren.

Fette Abfindung für den Markgrafen

Die Gedankenspiele rund um diesen Markgrafen basieren auf dem ihm erst später angedichteten lateinischen Beinamen Otto ignavus, was so viel heißt wie Otto der Faule oder der Träge. Nach einer anderen Deutung aber soll der Wittelsbacher, ein Schwiegersohn Kaiser Karls IV., eine Hautkrankheit gehabt haben, was ihm einen anderen Beinamen, nämlich "der Faulige oder der Finnige" verschaffte. Mag sein, dass Otto V. aufgrund von menschlichen oder medizinischen Unzulänglichkeiten, aber auch aus wirtschaftlichen und politischen Gründen in seiner Handlungsfähigkeit beeinträchtigt war. Wie ein Blick in die Historie zeigt, war Otto keineswegs "faul" im herkömmlichen Sinne, etwa wie ein Schüler, der seine Aufgaben nicht oder unwillig erledigt. Vielmehr war er sogar ziemlich gewitzt, weil er sich aus Brandenburg zurückzog, als er sah, dass er gegen die Übermacht seines zur Herrschaft in der Mark drängenden Schwiegervaters Kaiser Karl IV. nichts ausrichten konnte.

Sein volkstümlicher Beiname könnte damit zusammenhängen, dass er sich nach seiner mit einer hohen Abfindung von 500 000 Gulden verbundenen Abdankung ein bequemes, man könnte auch sagen faules Leben gönnte. Seines Reichstums konnte sich Otto V. nicht lange erfreuen, denn er starb bereits mit 30 Jahren. Sein Denkmal, das den ehrenrührigen Beinamen ausdrücklich erwähnt, stellt einen durch Nichtstun gealterten Mann in schlaffer Körperhaltung dar, und so lautete die Botschaft die Gegenwart: Seht, so werdet ihr sein, wenn ihr faul, träge und schlafend wertvolle Zeit vertut.

Mit der prunkvollen Skulpturengalerie wollte der kaiserliche Stifter deutlich machen, dass sich Brandenburg-Preußen dank seiner Fürsten von einem unbedeutenden Fleck auf der Landkarte, der als "Streusandbüchse" des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation verlachten Markgrafschaft Brandenburg, zum mächtigsten deutschen Staat entwickelt hat und das Deutsche Reich unter Führung der Hohenzollern zu imperialer Größe emporwächst. Der Kaiser erwartete von den Berlinern, sie mögen sich ohne Wenn und Aber seinem Willen unterordnen, auf oppositionellen Geist verzichten und sich seinem Kunstgeschmack unterwerfen. Denn die Hohenzollern hatten schon immer - mal mehr, mal minder - mit aufmüpfigen Gedanken und Taten der Berliner zu tun, und als geschichtlich gebildeter Mensch wusste Wilhelm II., dass es 1448 sogar einen blutigen Aufstand gegen die frisch in der Mark Brandenburg etablierten Hohenzollern gegeben hat, den "Berliner Unwillen". Exakt 400 Jahre später kam es in der Revolution von 1848 sogar zu blutigen Barrikadenkämpfen, an deren Ende König Friedrich Wilhelm IV. das für ihn und seine Sippschaft traumatische Erlebnis hatte, den Hut vor den am Schloss vorbei getragenen Toten ziehen zu müssen.

Wilhelm II. verlangt Dank und Unterordnung

Hinter der Alleenstiftung steckten eine politische Anliegen und ein erzieherischer Auftrag. Dazu heißt es im Entwurf zu dem erwähnten Erlass gebieterisch: "Ich erwarte, dass die Bürgerschaft Berlins dieses Mein Geschenk allezeit in Ehren halten wird und noch zukünftige Geschlechter sich beim Anblicke der Männer aus vergangener Zeit gegenwärtig halten werden, was sie Thron und Vaterland an Treue und Aufopferung schuldig sind". Möglicherweise hat der Monarch erkannt, dass diese Forderung doch sehr anmaßend gegenüber den "lieben Berlinern" klingen und sie vielleicht gegen das Ehrengeschenk aufbringen würde. Jedenfalls fehlt diese Aufforderung in dem dann veröffentlichten Erlass, wohl aber war unverkennbar, dass der Kaiser Respekt und Unterordnung erwartete.

Dem Siegesallee-Plan, dessen künstlerische Verwirklichung und Überwachung dem von Wilhelm II. protegierten und mit prestigeträchtigen Aufträgen bedachten Bildhauer Reinhold Begas übertragen wurde, war am kaiserlichen Hof ein längerer Meinungsbildungsprozess voran gegangen, bei dem es um die Ausschmückung der Hauptstadt mit repräsentativen Bauten ging. Mit dem monumentalen Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal setzte sich Wilhelm II. als großartiger Denkmalstifter in Szene. Von der 1897 eingeweihten Anlage blieb nur der Unterbau mit imposantem Gewölbe erhalten. Er lässt ahnen, welche Dimensionen dieses Erinnerungsmal gegenüber dem Stadtschloss hatte, von dem nur noch vier brüllende Bronzelöwen im Tierpark Friedrichsfelde erhalten sind. Irgendwann soll auf dem Sockel das ebenso lange geplante wie umstrittene Freiheits- und Einheitsdenkmal zur Erinnerung an die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung 1989/90 errichtet werden. Ob es je dazu kommt, wird man sehen. Der Unterbau ist saniert und restauriert, sonst aber ist aber noch nichts zu sehen.

Wer sich in der Landesgeschichte auskannte, bemerkte sofort, dass auf der Siegesallee nicht nur unmäßiger Hohenzollernkult betrieben wurde, sondern auch Vertreter anderer Fürstenhäuser berücksichtigt wurden, die hier vor ihnen zum Teil unter chaotischen Verhältnissen regierten. Vor den Hohenzollern schwangen die Askanier, die Luxemburger und die Wittelsbacher das Zepter in der Mark Brandenburg. Erst durch die Belehnung des Burggrafen Friedrich von Nürnberg aus dem Hause Hohenzollern mit der Mark Brandenburg und seiner Aufnahme in das siebenköpfige Kurfürstenkollegium im Jahr 1415 begann die bis 1918 währende Hohenzollernherrschaft in Brandenburg und Preußen.

Alle Landesherren wurden genommen

Nach dem Wunsch des Kaisers sollten den Standbildern die Büsten je eines für seine Zeit besonders charakteristischen Mannes, sei es Soldat, Staatsmann oder Bürger, beigefügt werden. Aus inhaltlichen Erwägungen und Gründen der Symmetrie wurden den Herrscherfiguren zwei Büsten zugeordnet und die Skulpturen auf halbrunden Bänken platziert. Man kann sich gut vorstellen, wie hinter den Kulissen darum gerungen wurde, wer von den führenden Familien der Mark Brandenburg der Ehre teilhaftig werden soll, durch eine Büste vertreten zu sein. Bei den Landesherren gab es keine Fragen - alle wurden genommen, ganz gleich, wie segensreich oder auch nicht ihr Wirken für das Land war. Hingegen ging man bei den Assistenzfiguren streng nach Protokoll und Proporz.

Gemäß kaiserlicher Ausschreibung und den Gesetzen des Zeitgeistes, welcher nur Männern zugestand, Geschichte zu machen, wurden Frauen auf der Siegesallee nicht berücksichtigt. Nicht einmal die populärsten Königinnen Sophie Charlotte, die Namengeberin von Charlottenburg, und die legendäre, früh verstorbene Luise, Gemahlin Friedrich Wilhelms III., die nun wirklich einiges zur Entwicklung der Monarchie beigetragen haben, hat man der Erwähnung für würdig befunden. Lediglich die Kurfürstin Elisabeth wurde auf einem bescheidenen Bildnisrelief an der Rückenlehne der Marmorbank betend zu Füßen ihres Gemahls, des 1415 mit der brandenburgischen Kurwürde belehnten Friedrich I., dargestellt. Dass ihrer in der Siegesallee gedacht wurde, mag mit der Verehrung zu tun zu haben, die sie als hohenzollernsche Stammesmutter genoss. In ähnlicher Weise wurden Martin Luther am Denkmal Joachims II., der 1539 die Reformation in der Mark Brandenburg eingeführt hatte, und der Bildhauer Johann Gottfried Schadow am Denkmal Friedrich Wilhelms III. geehrt.

27. Februar 2020

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