Ende und Anfang
Wegen der Corona-Pandemie findet der 75. Jahrestag der Befreiung und des Kriegendes still und vor allem im Internet statt



Vor 75 Jahren war der Zweite Weltkrieg nach Berlin, zu seinem Ausgangspunkt zurück gekommen. Die Reichshauptstadt war ein einziges Trümmerfeld.



Leichenberge in Bergen-Belsen und weiteren Konzentrations- und Vernichtungslagern und viele andere Bilder und Berichte aus dem von Deutschen angerichteten Inferno sind präsent, als am 8. Mai 2020 an das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Untergang des Naziregimes erinnert wurde.



Wie 1812 der französische Kaiser Napoleon I. das eisige Russland fluchtartig unter Zurücklassung seiner Grande Armée verließ, so ergeht es auch Hitler, lautet die Botschaft dieses Plakats aus den frühen 1940er Jahren.



Die Freiluftausstellung der Berliner Topographie des Terrors führt über das Kriegsende und den Untergang des Nazireichs hinaus bis fast in die Gegenwart. Die Schautafel schildert den Alltag der Deutschen im Krieg, andere zeigen, wie er am Ende Leid und Zerstörung über sie bringt. Viele Menschen brauchten lange, um zu erkennen, was Ursache und was Wirkung war, manche verdrehen auch heute die Tatsachen und machen aus dem Volk der Täter ein Volk der Opfer.





Ins offizielle Bild der sich fürsorglich um die Nöte der Befreiten kümmernden Rotarmisten passten die traumatischen Erlebnisse vieler Frauen und Mädchen nicht. Wer in der DDR davon sprach und sein Recht und Wiedergutmachung verlangte, bekam es mit der Stasi- und SED-Justiz zu tun.



In der Bundesrepublik wollten sich unzählige Menschen nicht eingestehen, dass in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern Millionen Juden und andere Gefangene umgebracht wurden. Die so genannte Auschwitzlüge ist unter Strafe gestellt. (Fotos/Repros: Caspar)

Zu allen Zeiten ist in Kriegen gemordet, geraubt und vergewaltigt worden. Die Sieger kannte in den besetzten Ländern keine Gnade, und die Zivilbevölkerung hatte unendlich zu leiden. An diesem 8. Mai 2020 wurde laut darüber nachgedacht, was geschehen wäre und wie die Welt heute aussähe, wenn Hitler und Nazideutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Zum Glück ist dieser schreckliche Fall dank des aufopferungsvollen Kampfes der Anti-Hitler-Koalition nicht eingetreten. Es bedurfte erst der totalen Niederlage der Wehrmacht und des Nazistaates, um einen Neuanfang zu wagen. Das Gedenken am 75. Jahrestag des Kriegsendes und der Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur fand wegen der Corona-Pandemie vor allem im Stillen und im Internet statt. Abgesagt waren große Veranstaltungen am Brandenburger Tor in Berlin und an anderen Orten. Ebenso fiel der zentrale Staatsakt der Bundesrepublik Deutschland vor dem Reichstagsgebäude aus, wo Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit zahlreichen Gästen aus dem Ausland an Kriegsende und Befreiung erinnern wollte. Er und die Spitzen der anderen Verfassungsorgane legten in der Gedenkstätte Neue Wache Unter den Linden Kränze nieder.

Langer und schmerzhafter Weg

In seiner Rede vor der Neuen Wache in Berlin betonte Steinmeier, es habe viele Jahre gebraucht, sagte Steinmeier, bis dieser "Tag der Befreiung" in den Köpfen und Herzen der Deutschen angekommen sei. An die junge Generation appellierte er, das Erinnern an die Geschichte niemals zu vernachlässigen. Es gebe kein Ende des Erinnerns, es gebe keine Erlösung von unserer Geschichte. Wer einen Schlussstrich fordere, der verdränge nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur, der entwerte auch alles Gute, was man seither errungen habe. Dass sich Deutschland stets der eigenen Vergangenheit gestellt habe, sei die Voraussetzung für neues Vertrauen gewesen. Man dürfe nicht zulassen, dass die Friedensordnung zerrinne. "Die Befreiung war 1945 von außen gekommen. Sie musste von außen kommen - so tief war dieses Land verstrickt in sein eigenes Unheil, in seine Schuld. Und auch wirtschaftlicher Wiederaufbau und demokratischer Neubeginn im Westteil Deutschlands wurden nur möglich durch die Großzügigkeit, Weitsicht und Versöhnungsbereitschaft der ehemaligen Kriegsgegner." Die innere Befreiung sei nicht am 8. Mai 1945 geschehen, "sie war ein langer, ein schmerzhafter Weg. Aufarbeitung und Aufklärung über Mitwisserschaft und Mittäterschaft, quälende Fragen in den Familien und zwischen den Generationen, der Kampf gegen das Verschweigen und Verdrängen. Es waren Jahrzehnte, in denen viele Deutsche meiner Generation erst nach und nach ihren Frieden mit diesem Land machen konnten. Es waren Jahrzehnte, die bei unseren Nachbarn neues Vertrauen wachsen ließen, die vorsichtige Annäherung ermöglichten, vom europäischen Einigungsprozess bis hin zu den Ostverträgen. Und es waren Jahrzehnte, in denen Mut und Freiheitsliebe im Osten unseres Kontinents sich nicht mehr einmauern ließen - bis hin zu jenem glücklichsten Moment der Befreiung: der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung. Diese Jahrzehnte des Ringens mit unserer Geschichte waren Jahrzehnte, in denen die Demokratie in Deutschland erst reifen konnte." An seine Landsleute gewandt, sagte Frank-Walter Steinmeier zum Abschluss seiner Rede: "Gedenken Sie heute in Stille der Opfer des Krieges und des Nationalsozialismus! Befragen Sie - ganz gleich, wo Ihre Wurzeln liegen - Ihre Erinnerungen, die Erinnerungen Ihrer Familien, die Geschichte unseres gemeinsamen Landes! Bedenken Sie, was der 8. Mai, was die Befreiung für Ihr Leben und Ihr Handeln bedeutet! 75 Jahre nach Kriegsende dürfen wir Deutsche für vieles dankbar sein. Aber nichts von all dem Guten, das seither gewachsen ist, ist auf ewig gesichert. Der 8. Mai war nicht das Ende der Befreiung - Freiheit und Demokratie sind sein bleibender Auftrag, unser Auftrag!"

Das Gedenken an der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft und ein ökumenischer Gottesdienst im Dom am Lustgarten fanden unter strengen Hygieneauflagen und ohne Publikum statt. Zahlreiche Veranstaltungen zum 75. Jahrestag waren geplant, sie sind ausgefallen. Im Internet ist bis zum 2. September die virtuelle Ausstellung "Nach Berlin" unter der Adresse 75jahrekriegsende.berlin zu sehen. Über die App "Augmented Berlin" können Interessierte überdies vergleichen, wie historische Orte heute aussehen und wie ihr Zustand 1945 war. Ganz analog wird am 8. Mai ein Dank in den Sprachen der vier Siegermächte ans Brandenburger Tor projiziert.

Ursache, Wirkung und Folgen

Der 8. Mai wurde in der DDR prunkvoll im Geiste der deutsch-sowjetischen Freundschaft mit Paraden und Ansprachen, Demonstrationen und Kranzniederlegungen gefeiert. Nicht zugelassen und als staatsfeindlich eingestuft und bestraft wurden Fragen an das, was die Rote Armee vor und nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 getan hat und wie die Ostdeutschen von einer Diktatur in die andere gerieten. Wenn Bilder und Berichte zum Thema "Befreiung von Faschismus" veröffentlicht wurden, dann drehte sich alles um stets hilfsbereite, freundliche und besorgte Rotarmisten, die Essen an die hungernde Bevölkerung verteilen und sich um den Aufbau der antifaschistisch-demokratischen Neuordnung der Sowjetischen Besatzungszone kümmern, wie es damals hieß, aus der mit Stalins Segen und ganz und gar von der Sowjetunion abhängig am 7. Oktober 1949 die DDR hervor ging. An die großen Opfer der Sowjetvölker erinnern bis heute zahlreiche Denkmäler und Soldatenfriedhöfe, deren Pflege aufgrund von Abkommen zwischen Moskau und Berlin nach der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland obliegt.

In diesen Tagen wird auf eine große, freilich damals und auch heute nicht unwidersprochen gebliebene Rede verwiesen, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Deutschen Bundestags in Bonn hielt. Darin heißt es: "Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar waren andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang." Der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung gewesen, er habe uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sagte der Bundespräsident vor 35 Jahren. Niemand werde um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. "Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg."

Verlust von Gestaltungsmöglichkeiten?

Die Vorsitzende des Auschwitz-Komitees Deutschland, Esther Bejarano, hat in einem offenen Brief an Bundespräsident Steinmeier und Bundeskanzlerin Merkel angeregt, den 8. Mai zum gesetzlichen Feiertag zu erklären. Dagegen hat sich AfD-Fraktionschef Gauland ausgesprochen. Der Deutsche Bundestag war mit Ausnahme der Linken und der Grünen ebenfalls der gleichen Meinung. Laut Gauland habe der 8. Mai nicht das Potenzial für einen gesetzlichen Feiertag. Für die Insassen der Konzentrationslager sei der 8. Mai ein Tag der Befreiung gewesen. Er stehe aber zugleich für eine absolute Niederlage sowie den Verlust von großen Teilen Deutschlands und den Verlust von Gestaltungsmöglichkeiten. Viele Menschen fragen sich, was Gauland unter Gestaltungsmöglichkeiten versteht. Doch nicht etwa Weltherrschaft, Rassismus, Gleichschaltung, Nationalismus, Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der Kunst? Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat Gaulands Äußerung kritisiert. Dieser zeige einmal mehr, wes Geistes Kind er sei. Seine Sicht finde sich häufig unter Neonazis, die die Deutschen vor allem als Opfer darzustellen versuchen. Der 8. Mai ist in diesem Jahr nur in Berlin einmalig gesetzlicher Feiertag, ob wir ihn eines Tages bundesweit begehen werden, wird sich zeigen, denn den Worten von heute sollten Taten folgen.

In der DDR wurden die von Stalin geführten Sowjetvölker und die Rote Armee hymnisch als Befreier gefeiert. Ausgeblendet wurde, dass mit ihnen neuer Terror in die Gebiete zwischen Elbe und Oder und in die osteuropäischen Länder kam, dass hinterm Eisernen Vorhang schreckliche Verbrechen begangen und ganze Völker unter der sowjetischen Knute leiden mussten. Auch die immer mit Kriegen und Eroberungen verbundenen Raubzüge und Vergewaltigungen passten nicht ins offizielle Bild, das in der DDR von den sowjetischen Befreiern gemalt wurde und das ihren Bewohnern tagtäglich in Form von Denkmälern, Erzählungen und Filmen begegnete. Hinweise auf Untaten der Besatzer, Nachforschungen und Anzeigen waren unerwünscht. Sie wurden als sowjetfeindliche Hetze ausgelegt und verfolgt. Bis zum Ende der DDR war es den Gerichten nicht erlaubt, gegen Rotarmisten vorzugehen, die sich an Deutschen vergangen und sie beraubt hatten. Um sie der DDR-Justiz zu entziehen, hat man die Täter in die Heimat zurück beordert und dort verurteilt, wenn überhaupt.

Honecker wollte die Wahrheit nicht wissen

Die Vorstellung, dass traumatisierte Soldaten auf die Zivilbevölkerung losgehen, passte nicht zur DDR-Propaganda und dem Heroenkult der DDR, mit dem die Rote Armee und ihr opfervoller Weg von Moskau nach Berlin umgeben wurden. Indem Fakten unterdrückt wurden, wollte man alles vermeiden, dass die Deutschen, die unvorstellbare Verbrechen an den Bewohnern der am 22. Juni 1941 von der Wehrmacht überfallenen Sowjetunion und anderen Völkern begangen hatten, eine Opferrolle übernehmen. Die Angst vor Relativierung der deutschen Schuld war auch ein Grund, weshalb man in der DDR über Jahrzehnte über Flucht und Vertreibung ab Anfang 1945 und die Opfer der Vertriebenen nicht laut gesprochen werden durfte. Den in der Bundesrepublik agierenden Vertriebenenverbänden wurde von ostdeutscher Seite unterstellt, sie wollten von den Verbrechen der Deutschen ablenken und diese mit Blick auf die Untaten der anderen kleinreden. Am heutigen Tag ist es angebracht und legitim, bei aller Bewunderung für die Leistungen und Opfer der Armeen der Sowjetunion, Großbritanniens, der USA, Frankreichs und weiterer Staaten im Zweiten Weltkrieg auch an diese dunkle Seite der Nachkriegsgeschichte zu erinnern.

Obwohl SED-Chef Erich Honecker mit seinem sowjetischen Kollegen Michail Gorbatschow wegen dessen Politik von Glasnost und Perestroika ungeachtet gegenteiliger Freundschaftsbekundungen auf Kriegsfuß stand, ließ er es nicht zu, dass irgendein Schatten auf Stalin und die Rote Armee fällt, weshalb er 1988 die deutsche Ausgabe des Magazins "Sputnik" zu allgemeinem Entsetzen verbot, weil dort Wahrheiten verbreitet wurden, die ihm, den notorischen Stalinisten, nicht gefielen. Erst nach dem Ende der SED-Herrschaft kam die lange von Honecker und Genossen unterdrückte Wahrheit ans Licht, und manch einer rieb sich erstaunt die Augen und zeigte sich unwillig, von seinem Kinderglauben Abschied nehmen zu müssen.

8. Mai 2020

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