Verdrängt, verschwiegen, aber nicht vergessen
Berliner Stadtverwaltung und Gesundheitsbehörden versagten vor über hundert Jahren im Kampf gegen die Spanische Grippe





Besucher von Armenküchen und Bewohner der dumpfen, lichtlosen und überbelegten Berliner Slums mit Außentoilette auf dem Hof waren schutzlos Gefahren und Seuchen aller Art und am Ende des Ersten Weltkriegs auch der Spanischen Grippe ausgesetzt.



Die Spanische Grippe traf vor allem die auf der untersten Sprosse der gesellschaftlichen Stufenleiter vegetierenden Menschen. Sie vor allem waren es, die die "Seuchensuppe", wie man damals sagte, auslöffeln mussten.



Die Bilderfolge aus der Kaiserzeit schildert den sich auch in der Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsversorgung manifestierenden Unterschied zwischen Arm und Reich, Oben und Unten auf drastische Weise.



Die wohlgenährten Leute auf der Karikatur konnten sich in ihren Villen gut abschirmen und mit leichter Hand gute Ärzte und teure Medikamente bezahlten.





Uneinsichtige Politiker und Mediziner wollten den von der Spanischen Grippe bedrohten Leuten die Stimmung durch Schließung von Kinos und andern Vergnügungsstätten nicht verderben, wie sie Heinrich Zille in seiner unnachahmlichen Weise mit seiner Zeichnung eines Sommergartens geschildert hat. Stattdessen setzten die Mächtigen des Landes auf Unterdrückung von Berichten über gesundheitliche Gefahren und auf Durchhalteparolen. (Repros: Caspar)

Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 forderte auf allen Seiten nach vorsichtigen Berechnungen etwa zehn Millionen Tote, hinzu kommen unzählige verletzte und oft bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Soldaten und Zivilisten. Nicht eingerechnet sind die ins Elend gestürzten und aus der Bahn geworfenen Menschen, die rechten und linken Rattenfängern auf den Leim gingen, womit der Keim für weitere Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelegt war. Eines der wenig bekannten Ereignisse am Ende des bis dahin schlimmsten aller Kriege war die so genannte Spanische Grippe, die zwischen 1918 und 1920 mindestens 25 Millionen, nach anderen Berechnungen bis zu 50 Millionen Todesopfer forderte. In Geschichtsbüchern und Chroniken spielt diese Pandemie aus unerklärlichen Gründen eine untergeordnete Rolle.

Das von prominenten DDR-Historikern verfasste Buch "Geschichte Berlins von den Anfängen bis 1945" (Dietz Verlag Berlin 1987) beschreibt zwar, wie es zur Novemberevolution von 1918, zum Sturz der Monarchie und zur Gründung der Kommunistischen Partei kam. Dass aber in der Reichshauptstadt zahllose Menschen an den Folgen der Seuche starben, war den Autoren keine Zeile wert. Im Harenberg-Lexikon "Schlüsseldaten 20. Jahrhundert. Alle Ereignisse knapp und klar auf einen Blick" (Dortmund 1993) wird im Jahr 1918 neben vielen andern wichtigen Daten erwähnt, dass in den USA der Stummfilm "Tarzan" mit großem Erfolg läuft und Heinrich Manns Roman "Der Untertan" nach vorherigem Verbot erscheint, dass aber das Deutsche Reich und mit ihm zahlreiche andere Länder Millionen Menschen durch die Pandemie verloren haben, fällt auch hier unter den Tisch.

Abwarten und Tee trinken

So konnte es kommen, dass bei der aktuellen Debatte um die Covit 19-Pandemie, populär auch Corona-Pandemie genannt, über unser Wohl und Wehe entscheidende Politiker erst von Medizinern und den Medien darauf aufmerksam gemacht werden mussten, dass die Spanische Grippe vor über hundert Jahren weltweit mit so vielen Toten gewütet hat. Historiker vergleichen sie mit der Pest von 1348, der etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel. Selbstverständlich wurden 1918 die Katastrophenmeldungen über die Seuche, die nur zufällig mit Spanien in Verbindung gebracht wurde, in den Dienst der Kriegspropaganda gestellt. So hat man in den USA, die erst 1917 in den Kampf gegen Deutschland, Österreich-Ungarn und ihre Verbündeten eingetreten waren, das Gerücht in Umlauf gebracht, die Keime seien von deutschen Agenten verbreitet worden.

Die deutsche Reichsregierung redete im Sommer 1918 die Seuchengefahr klein, verbot kritische Berichte und erging sich in Durchhalteparolen. Sie glaubte, die Epidemie nach dem Motto "Abwarten und Tee trinken" durch Stillhalten und Verschweigen aussitzen zu können. Aufruhr im Lande konnte sie angesichts der drohenden Niederlage im bis dahin schlimmsten aller Kriege, der auch das Ende der Monarchie bedeutete, nicht gebrauchen, auch nicht die Frage, wie das wirtschaftlich so starke Deutsche Reich es zulassen konnte, dass unzählige Menschen unter unwürdigen und gesundheitlich schädlichen Umständen zusammen leben müssen. Solche Überlegungen stellten sich die in besseren Gegenden im Berliner Westen und im Grunewald wohnenden, medizinisch bestens versorgten "Spitzen der Gesellschaft" nicht. Das Bedauern über die vielen Toten in den Proletariervierteln hielt sich in diesen Kreisen in Grenzen. Sie trösteten sich mit Champagner und gutem Essen, Tanz und leichten Mädchen, und dieses Bild ist es, das wir bis heute von den angeblich so Goldenen Zwanziger vor Augen haben. Dabei sah die Realität alles andere als freundlich und friedlich aus.

Mund zu, warm halten, Hände waschen

Obwohl die Pandemie auch im Kaiserreich massenhaft auftrat, wurden Informationen über ihr Auftreten an den Fronten und in der Heimat von der Zensur unterdrückt. Obwohl ihr Name nach Spanien weist, weil er in der damaligen Presse auf der Iberischen Halbinsel verortet wurde, hatte sie wohl ihren Ursprung in den USA. Ungeachtet vielfältiger Versuche, die Informationen über sie zu unterdrücken, ließ sich nicht verheimlichen, dass da etwas auf die Deutschen zukommt. Zeitungen verbreiteten derweil allgemein gehaltene und freundlich formulierte Ratschläge darüber, wie man sich schützen kann - den Mund zu machen, warm halten, Hände waschen, viel trinken, alles Hinweise, die wir aktuell zu beachten gelernt haben. Die regierungstreuen Medien wollten damals die durch Unterernährung ausgemergelten und von anderen Krankheiten getroffenen, vielfach auf engstem Raum zusammengepferchten, durch die traumatischen Erlebnisse an den Fronten und in der Heimat physisch und psychisch geschwächten Menschen nicht beunruhigen.

Revolutionäre Stimmung lag im Grippejahr 1918 in der Luft, die Niederlage des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten war abzusehen. Im Oktober meldeten die Gesundheitsämter in Berlin zwischen 1200 und 1400 neue Grippefälle am Tag, von denen etwa 40 Patienten starben. Unter ihnen waren erstaunlich viele junge Leute und Säuglinge. Der Berliner Magistrat und die ihm unterstehenden Gesundheitsbehörden legten angesichts der zunehmenden Zahl an Infizierten und Toten die Hände in den Schoß und verschlossen die Augen vor dem Abgrund. Wider besseren Wissens trugen sie durch Verdrängen, Verbieten und Verschweigen dazu bei, dass die Spanische Grippe mörderische Ernte halten konnte.

Warnungen in den Wind geschlagen

Warnungen aus Teilen der Ärzteschaft wurden leichtfertig von den Behörden und den Medien mit dem Hinweis vom Tisch gewischt, es werde schon nicht so schlimm kommen, und mit Gottvertrauen und strammer Haltung könne die Gefahr überwunden werden. Man sei schon mit ganz andern Dingen fertig geworden, warum nicht auch mit dieser Grippe. In diesem Geist wurden hat man in Berlin Schulen mit ihren überfüllten Klassen nicht geschlossen, und die gerade im Aufwind befindlichen Kinos blieben mit dem scheinheiligen Hinweis offen, man könne den Leuten doch nicht den letzten Spaß verweigern.

In einem umfangreichen Beitrag klagt der Historiker Götz Aly in der Berliner Zeitung am 24. März 2020 das "Mörderische Versagen", so die Schlagzeile, der Berliner Stadtväter angesichts des massenhaften Sterbens am Ende des Ersten Weltkriegs an. Nach dem Studium der Beweise für erschreckendes Fehlverhalten und Ignoranz der Behörden kommt Aly zu diesem Schluss: "So einigte man sich immer wieder darauf, auf dringend gebotene Quarantänemaßnahmen zu verzichten. Stattdessen empfahl die politisch verantwortliche Führung Berlins als wirkungslose Quacksalberei, ,täglich mehrmals zu gurgeln'". Statt über den Ernst der Lage zu informieren, forderte der studierte Jurist und Präsident des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, Franz Bumm, Presseberichte über das Auftreten der Epidemie zu verbieten, schließlich sei, so Aly, durch die politischen und militärischen Vorgänge ohnehin beruhigt und niedergedrückt, weshalb unzweckmäßige Nachrichten eine "noch misslichere Stimmung" bewirken würden.

Wenn man bedenkt, dass 1831 in Preußen angesichts der menschenverschlingenden Cholera der preußische König Friedrich Wilhelm III. ein Gesetz erließ, das ausdrücklich Quarantäne für gefährdete Personen vorschrieb und Verstöße dagegen bis hin zur Todesstrafe zu ahnden androhte, bedeutet die ignorante Haltung, die sich die Behörden bei der Spanischen Grippe rund 90 Jahre später erlaubten, einen nicht zu entschuldigenden Rückschritt. Die Todesstrafe anzuwenden, wäre nicht mehr zeitgemäß gewesen, aber härter gegen Gesetzesverstöße vorzugehen schon.

Schulen und Kinos blieben offen

Im Sommer und Herbst 1918 hat man in verschiedenen deutschen Städten die Schulen geschlossen, in Berlin blieben sie mit einer Überbelegung von bis 50 oder 60 Schülern weiter geöffnet. Wie Götz Aly berichtet, argumentierte der Magistrat, eine Schließung lohne sich erst, wenn ein Drittel der Schüler erkrankt ist. So hat man Ende Oktober 1918 die Schüler zu Hause gelassen und ein paar Tage später wieder unterrichtet. Ob die Rücknahme der Anordnung mit den Unruhen und revolutionären Kämpfen in der Reichshauptstadt und dem Übergang von der Monarchie zur Republik zu tun hat und man Kinder und Jugendliche lieber in den Schulen unter Kontrolle halten wollte, müsste noch untersucht werden. Naheliegend wäre dieses Verhalten schon.

Die Erlaubnis von Kinovorführungen und anderen Volksbelustigungen von damals klingt ähnlich wie die Genehmigung für große Fußballspiele im Februar 2020 in Mailand und an anderen Orten, bei dem sich unzählige auch mit Covit 19 (Corona) infizierte Fans jubelnd in den Armen lagen und gegenseitig ansteckten. Die Begegnung in Mailand wurde im Nachhinein als "Sprengsatz" für die in Norditalien sich exponentiell angewachsene Infektion mit aktuell 80 500 Infizierten und 8200 Toten gewertet. Man muss allerdings nicht so weit gehen, denn ähnlich ging es bei einem Fußballspiel zwischen RB Leipzig und Tottenham Hotspur in Leipzig am 10. März 2020, das entgegen der nicht ernst genommenen Warnung des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn veranstaltet wurde. Eine unheilige Allianz von Lokalpolitikern, Touristikverbänden und Restaurantbesitzern haben es im Tiroler Après-Ski-Mekka Ischgl, auch "Ballermann der Berge" genannt, vermocht, dass Corona-Infizierte ungehindert feiern und saufen und auch den Keim nach Bayern und weiter in den deutschen Norden tragen konnten.

Fußballfans lagen sich in den Armen

Hier wie dort haben die Behörden mit Blick auf Einnahmen und Angst vor dem Unmut in der Bevölkerung Warnungen von Medizinern beiseite gewischt und sowie große und kleine Ansammlungen einschließlich von Rockkonzerten, Sportwettkämpfen und Karnevalsitzungen erlaubt. Diese wurden erst verboten, als der von weitsichtigen Medizinern vorausgesagte Infektionsgrad nicht mehr zu leugnen war. Das gilt auch für die spektakuläre Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio auf das kommende Jahr. In den USA hat Präsident Trump lange Zeit die Corona-Pandemie als "kleine Grippe" verniedlicht, jetzt breitet sich dort das Coronavirus ungehemmt aus und fordert hunderte Todesopfer, allein in der Stadt und im Bundesstaat New York zählte man bereits 400. Die Zahl der Infizierten und Verstorbenen in den USA hat inzwischen die der Opfer in China übertroffen, von wo aus die Pandemie sich Ende 2019 rasant über die ganze Welt ausbreitete.

Die Frage ist nun, wie lange die Ausgangs- und Veranstaltungssperren andauern, wie die Wirtschaft sie verkraftet und wie die Bevölkerung sie aushält. Schon kommen Forderungen nach Lockerungen und Rücknahme der Restriktionen. Kanzleramtschef Braun hat klargestellt, dass es vor dem 20. April 2020 keine Lockerungen geben wird. Er betonte, dass ältere und kranke Menschen ihre Kontakte noch deutlich länger reduzieren müssten. Aus der Bundesärztekammer verlautet, dass vor diesem Datum eine verlässliche Bewertung der Maßnahmen nicht möglich ist. Eine verfrühte Lockerung könnte die Zahl der Neuinfektionen wieder hochschnellen lassen. Kurz und bündig erteilte Bundesinnenminister Seehofer allen Spekulationen über ein vorzeitiges Ende der Beschränkungen mit den Worten "Eine Exit-Strategie kann man aus meiner Sicht erst dann angehen, wenn man die schnelle und aggressive Verbreitung des Virus im Griff hat" eine Abfuhr.

28. März 2020

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