Wir sind ein Volk
Im Frühjahr 1990 war keine Zeit für langes Diskutieren und Abwarten, alle Zeichen standen auf Wiedervereinigung



Bei Bekanntwerden des Mauerfalls erhoben sich am Abend des 9. November in Bonn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und sangen gemeinsam die 3. Strophe des Deutschlandlieds. Bundesminister Rudolf Seiters bezeichnete in seiner Regierungserklärung die Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen aus der DDR als "Schritt von überragender Bedeutung". Die Fraktionsvorsitzenden aller Parteien würdigten den Ost-Berliner Reisebeschluss. Die Mauer habe nach 28 Jahren ihre Funktion verloren, sagt Hans-Jochen Vogel (SPD). Auch Alfred Dregger (CDU/CSU) begrüßt den Erfolg, den die Demonstranten in der DDR mit dem Ende der Mauer erreicht haben.



In der SED hoffte man weitermachen zu können wie bisher, wenn man sich erst einmal stalinistischer Fesseln entledigt hat, gibt diese Karikatur zu verstehen.



Auf der Karikatur pumpt ein grinsender Bundeskanzler Helmut Kohl erst einmal den Rettungsring auf, nach dem die untergehende DDR verzweifelt ruft.



Gedenkmünzen der Bundesrepublik Deutschland würdigen anlässlich von Gedenktagen die friedliche Revolution in der DDR und die deutsche Einheit.



Nach seiner Wahl bekommt der neue PDS-Chef Gregor Gysi einen großen Besen, damit er den "Saustall SED" ausmisten kann, und macht sich auf der Karikatur von 1990 mit dem SED-Vermögen aus dem Staub.



Arbeiter entfernen im Herbst 1990 das DDR-Emblem von der Fassade des Hauses des Ministerrats im damaligen Ostberlin. (Fotos/Repros: Caspar)

Für die Bundesrepublik wurde im Frühjahr der Strom der Übersiedler zunehmend zur Belastung. 1989 hatte man 380 000 DDR-Bürger gezählt, davon 200 000 unter 30 Jahren, die im Westen einen Neuanfang wagten, im Januar 1990 waren es 55 000 und für den Februar 1990 wurden 70 000 erwartet. Ein Ende dieses Zustroms war nicht abzusehen. Für die Bundesrepublik Deutschland wurde diese "Abstimmung mit den Füßen" zum Problem. Also musste gegengesteuert werden, und das bedeutete die Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die das Fortgehen von DDR-Bürgern aus ihrem Land überflüssig machte. Für Bundeskanzler Helmut Kohl war es wichtig, dass er in der neuen Koalitionsregierung unter Lothar de Maizière eine kooperationsbereite Partnerin fand. Für langes Abwarten und Diskutieren war keine Zeit, jetzt mussten die Voraussetzungen für einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland schnell geschaffen werden, um ein Ausbluten des zweiten deutschen Staates zu verhindern.

Wir lassen unsere Landsleute nicht im Stich

Kurz vor Weihnachten überschlugen sich die Ereignisse. Am 19. und 20. Dezember 1989 trafen sich Bundeskanzler Helmut Kohl zu Gesprächen mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow in Dresden. Beide Regierungschefs vereinbarten Verhandlungen über eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft. Eigentlich habe er nicht vorgehabt, in Dresden eine Rede zu halten, schrieb Kohl im Rückblick, doch habe für ihn festgestanden, dass er zu den Menschen sprechen müsse, und er tat das vor der Ruine vor der Frauenkirche. Im Unterschied zu den Pfiffen, mit denen er am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus empfangen worden war, wurde der Bundeskanzler fünf Wochen später von den Dresdnern mit Jubel begrüßt. Befriedigt stellte Kohl fest: "Als ich die Treppe zur Holztribüne hinaufstieg, spürte ich, welch große Hoffnungen und Erwartungen die Menschen in mich setzten. Ich rief den Landsleuten einen herzlichen Gruß ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik Deutschland zu. Schon bei diesen Worten kam großer Jubel auf. Mit einer Geste gab ich zu verstehen, dass ich weitersprechen wollte. Es wurde sehr still. Dann fuhr ich fort: ,Das zweite, was ich sagen möchte, ist ein Wort der Anerkennung und der Bewunderung für diese friedliche Revolution in der DDR. Es ist zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, dass in Gewaltfreiheit, mit Ernst und Ernsthaftigkeit und in Solidarität die Menschen für die Zukunft demonstrieren. Dafür danke ich Ihnen allen sehr, sehr herzlich." Dies sei eine Demonstration für Demokratie, für Frieden, für Freiheit und für die Selbstbestimmung unseres Volkes, fuhr Kohl fort und betonte: "Wir wollen und wir werden niemanden bevormunden. Wir respektieren, was Sie entscheiden für die Zukunft des Landes. [...] Wir lassen unsere Landsleute in der DDR nicht im Stich. Und wir wissen - und lassen Sie mich das auch hier in diese Begeisterung, die mich so erfreut, hinein sagen -, wie schwierig dieser Weg in die Zukunft ist. Aber ich rufe Ihnen auch zu: Gemeinsam werden wir diesen Weg in die deutsche Zukunft schaffen."

Während sich am ersten Dezembersonntag 1989 quer durch die DDR eine Menschenkette bildete, um der Hoffnung auf eine demokratische Erneuerung Nachdruck zu verleihen, traten in Berlin das SED-Zentralkomitee und das Politbüro geschlossen zurück, nicht ohne hohe Funktionäre, allen voran Honecker, Mittag, Stoph, Mielke und Tisch, aus der SED auszuschließen. Als der Staatsratsvorsitzende Krenz, dem Druck von unten nachgebend, am 6. Dezember 1989 seine Ämter aufgab, schob er alle Schuld an der Krise auf die abgehalfterte Führung unter Honecker, der er selber angehört hatte. Jetzt wurden auch empörende Einzelheiten über die Machenschaften der auch in Waffenschiebereien verstrickten "Kommerziellen Koordinierung" bekannt. Deren Chef Alexander Schalck-Golodkowski tauchte einige Tage unter und stellte sich schließlich den Westberliner Behörden.

Gespräche am Runden Tisch

In dieser Situation wurden Forderungen von Vertretern des "Neuen Forum" nach einem Generalstreik zur Durchsetzung freier Wahlen und zur konsequenten Demokratisierung laut. Außerdem sollte die Aktion die bisher unbefriedigende Aufklärung über Amtsmissbrauch, Korruption, Wahlbetrug und die Spitzeltätigkeit des Geheimdienstes beschleunigen. Doch der Plan fand sowohl in der Regierung Modrow als auch in den eigenen Reihen und in der Bevölkerung angesichts der angespannten Wirtschaftslage nur geringes Echo und wurde wieder zurückgenommen. Gespräche am Runden Tisch seien erfolgreicher, hieß es in Oppositionskreisen. "In tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land" forderten die Teilnehmer des ersten "Runden Tisches" in Berlin am 7. Dezember 1989 die Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Situation der DDR und verlangten in Entscheidungen der Regierung einbezogen zu werden. Das Gremium, in dem Vertreter von 14 Parteien und Organisationen zusammen saßen, verstand sich als "Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land". Es einigte sich auf den 6. Mai 1990 als Termin für freie Wahlen und kam überein, die Nachfolgeorganisation des Stasiministeriums aufzulösen. Derweil warnte der Verteidigungsminister vor Gefahren für "die Sicherheit dieser Republik, für die wir auf Wacht stehen" und Plünderungen der Armeedepots.

Der Bundeskanzler kündigte für das Frühjahr 1990 eine Vertragsgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik und der DDR und enge Zusammenarbeit auf anderen Gebieten an. "Wir wollen vor allem auf dem Feld der Wirtschaft eine möglichst enge Zusammenarbeit mit dem klaren Ziel, dass die Lebensverhältnisse hier in der DDR so schnell wie möglich verbessert werden. Wir wollen, dass die Menschen sich hier wohl fühlen. Wir wollen, dass sie in ihrer Heimat bleiben und hier ihr Glück finden können." Entscheidend sei, dass in Zukunft die Menschen in Deutschland zueinander kommen können, dass der freie Reiseverkehr in beide Richtungen dauerhaft garantiert ist, dass sich die Menschen in Deutschland überall, wo sie dies wollen, treffen können. "Sie werden eine frei gewählte Regierung haben", kündigte Kohl an, dann sei der Zeitpunkt gekommen zu dem, was er konföderative Strukturen genannt habe, das heißt gemeinsame Regierungsausschüsse, "damit wir mit möglichst viel Gemeinsamkeit in Deutschland leben können.[...] Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation. Und, liebe Freunde, ich weiß, dass wir dieses Ziel erreichen können und dass die Stunde kommt, wenn wir gemeinsam dafür arbeiten, wenn wir es mit Vernunft und mit Augenmaß tun und mit Sinn für das Mögliche". Helmut Kohl fügte seinem Rückblick hinzu, er habe im Dezember 1989 vor der Frauenkirche den Eindruck gehabt, dass die Versammelten schon auf ein vereintes Deutschland blickten.

Dieses Regime ist am Ende

Für ihn war der Besuch in Dresden ein Schlüsselerlebnis im Prozess der Wiedervereinigung. "Als ich mit meinen Begleitern auf der holprigen Betonpiste des Flughafens Dresden-Klotzsche landete, wurde mir schlagartig bewusst: Dieses Regime ist am Ende. Die Einheit kommt! Tausende von Menschen erwarteten uns auf dem Flughafen, ein Meer von schwarzrotgoldenen Fahnen wehte in der kalten Dezemberluft - dazwischen eine fast vergessene weißgrüne Fahne des Landes Sachsen. Als die Maschine ausgerollt war, stieg ich die Rolltreppe hinab und sah Modrow, der mich etwa zehn Meter davon entfernt mit versteinerter Miene erwartete. Da drehte ich mich zu Kanzleramtsminister Rudolf Seiters um und sagte: ,Die Sache ist gelaufen'". Zehntausende hätten die Straßen gesäumt, so Kohl weiter, ganze Belegschaften seien von der Arbeit ferngeblieben, ganze Schulklassen hätten den Gästen zugejubelt. "Auf den Transparenten stand: ,Kohl, Kanzler der Deutschen' oder: ,Bundesland Sachsen grüßt den Kanzler'".

S wie Sauwirtschaft, E wie Egoismus und D wie Diebstahl

Nur schleppend kamen Anfang Dezember 1989 die Untersuchungen über Amtsmissbrauch der bisherigen DDR-Machthaber, aber auch über die gewaltsamen "Zuführungen" von Demonstranten in die Keller der Volkspolizei und der Staatssicherheit in Gang. Der noch in bisheriger Zusammensetzung tagenden Volkskammer lag ein langer Katalog von Verfehlungen der Prominenz vor. Er reichte von komfortablen Wohnhäusern, die auf Staatskosten gebaut worden waren, bis zur Nutzung spezieller Läden und der Regierungsstraffel für private Zwecke bis zu einträglichen Ehrenmitgliedschaften für Spitzenpolitiker. Doch die Beteiligten hatten wenig Interesse an rückhaltloser Aufklärung. Dies übernahmen die Medien und Oppositionsgruppen. Der neue Leiter des in "Amt für nationale Sicherheit" umbenannten, im wesentlichen aber noch intakten Stasiministeriums behauptete, nichts über die Misshandlungen von verhafteten Demonstranten im Oktober sagen zu können, weil er von seinem Vorgänger Mielke nur "zwei leere Panzerschränke" übernommen habe.

Als neuer Hoffnungsträger bekam in Berlin der neue SED-Chef Gregor Gysi bei seiner Wahl statt Blumen zum Reinemachen einen Besen und versprach, dass der Parteiname künftig nicht mehr so ausgesprochen werden muss: "S wie Sauwirtschaft, E wie Egoismus und D wie Diebstahl". Die bisher führende Partei gab sich am 16. Dezember den Namen SED-PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) und versprach, die "Schuld an der tiefen Krise der DDR" abtragen zu wollen. Ein paar Tage später, am 22. Dezember 1989, wurde bei strömendem Regen, aber bester Stimmung das Brandenburger Tor geöffnet. Kurz zuvor hatten Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Modrow in Dresden eine "Vertragsgemeinschaft" vereinbart.

13. Januar 2020

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