Wo nichts ist, wird was erfunden
Juan Moreno rechnet in einem neuen Buch mit dem Artikelfälscher Claas Relotius und seinen Helfern ab



Claas Relotius war für einen wichtigen Posten in Hamburger Nachrichtenmagazin vorgesehen, bevor er von Moreno gegen vielfältigen Widerstand als Hochstapler und Lügner entlarvt wurde. Was von Relotius zu halten ist, hätte die Redaktion eigentlich selber herausfinden können. Denn als er mal gefragt wurde, ob er sich beim SPIEGEL nicht fest anstellen lassen möchte, verneinte er mit Hinweis auf seine krebskranke Schwester, um die er sich kümmern müsse. Doch der clevere Claas hatte überhaupt keine Schwester.



Die 1983 unter spektakulären Umständen vom STERN veröffentlichten Hitler-Tagebücher wurden ziemlich dilettantisch von dem Fälscher Konrad Kujau fabriziert und lösten einen riesigen Presseskandal aus.





Der Fall Relotius ist in Wahrheit auch ein Fall SPIEGEL, der traurige Höhepunkt in der Geschichte des so genannten Qualitätsjournalismus. Dass er Aussagen einer 99 Jahre alten, in den USA lebenden Traute Lafrenz aus der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" zu Umtrieben ultrarechtrer Gruppen in Deutschland verfälschte, ist eine besondere Unverschämtheit und Respektlosigkeit, die ihm aber in der Heimat viel Lob einbrachte, solange er hoch in der Gunst seiner Redaktion stand. Juan Moreno geht in seinem Buch darauf zur kurz ein und schreibt, er habe die alte Dame nicht behelligen wollen.



Es versteht sich, dass die Machenschaften des Claas Relotius von Politikern, Medienexperten, Satirikern und Karikaturisten wie hier Oliver Schopf kritisiert und kommentiert wurde, denn auch hier stimmt der Satz "Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen."(Repros aus DER SPIEGEL und Oliver Schopf)

Mit wachsender Spannung las ich das mir von Angelika geschenkte Buch über den Artikelfälscher Claas Relotius. Juan Moreno hat eine wichtige und notwendige Abrechnung auch mit dem SPIEGEL verfasst, in dem ein Journalist wie der so nette, bescheidene, vielfach preisgekrönte und in seinem Gesellschaftsressort geradezu vergötterte Claas einen rasanten Aufstieg erlebte. Wenige Tage vor Weihnachten 2018 las die staunende Welt: "Kurz vor dem Ende seiner Karriere kommen sich Glanz und Elend im Leben des Claas Relotius einmal ganz nah. Es ist der Montag vor drei Wochen, der 3. Dezember, am Abend wird Relotius, SPIEGEL-Mitarbeiter seit sieben, SPIEGEL-Redakteur seit eineinhalb Jahren, in Berlin auf eine Bühne gerufen. Er hat nach Meinung der Jury des Deutschen Reporterpreises 2018 wieder die beste Reportage des Jahres geschrieben, über einen syrischen Jungen diesmal, der im Glauben lebt, durch einen Kinderstreich den Bürgerkrieg im Land mit ausgelöst zu haben. Die Juroren würdigen einen Text ,von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert'", beschreibt der indirekt in den Skandal verwickelte Ullrich Fichtner im Nachrichtenmagazin das Debakel. "Aber in Wahrheit ist, was zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen kann, leider alles offen. Alle Quellen sind trüb. Vieles ist wohl erdacht, erfunden, gelogen. Zitate, Orte, Szenen, vermeintliche Menschen aus Fleisch und Blut. Fake. [...] Es ist alles nur ein Arrangieren von Rohmaterial, vor allem fremdes, das ist die eigentliche Methode Relotius. Er bedient sich aus Bildern, aus Facebook-Posts, YouTube-Videos, er fleddert alte Zeitungen, entlegene Blogs, und aus den Teilen und Splittern und Fetzen und Krümeln erschafft er seine Kreaturen wie ein verspielter kleiner Gott. Chris Jaeger, Gayle Gladdis, Neil Becker aus Fergus Falls, Nadim und Khalid in Kirkuk, Ahmed und Alin aus Aleppo, Mohammed Bwasir aus Guantanamo, sie sind keine Menschen aus Fleisch und Blut, sie leben nur auf dem Papier, und ihr Schöpfer heißt Claas Relotius. Manchmal lässt er sie singen, manchmal weinen, manchmal beten. Und wenn es ihm gefällt, wie in ,Jaegers Grenze', dann lässt er seine Hauptfigur auch einmal schießen, mit einem Sturmgewehr, mit scharfer Munition, in die Nacht hinein, einfach so, und weil es an den Schluss seines Märchens gerade so gut passte." Mit Claas Relotius verloren weitere Redakteure wie Matthias Geyer und Ullrich Fichtner ihren Job. Geyer hatte als Leiter des Gesellschaftsressorts von 2016 bis 2018 die Arbeiten von Relotius betreut und ging, verblendet wie er war, seinen Lügengeschichten auf den Leim, so wie auch berühmte Preisrichter und die vielgepriesene Dokumentationsabteilung des SPIEGEL alles billigte, was der Lügenbold ihnen vorgesetzt hatte, weil alles so schlüssig, schön und überzeugend klang.

Regieanweisungen an Reporter

Der Abschlussbericht zu dem Skandal wirft Matthias Geyer vor, er sei den Hinweisen von Moreno nicht nachgegangen und habe die Aufklärung verzögert. Juan Moreno zitiert Regieanweisungen von Geyer, wonach er und Relotius ganz bestimmte Leute für eine bestimmte Story finden sollen. Der Artikel "Jaegers Grenze" erschien, wie es Geyer haben wollte, Morenos in dem Buch genau belegte Einwände haben er und Relotius vom Tisch gewischt. Der Spanier stand dienstlich unter Relotius, er konnte als freier Mitarbeiter jederzeit gefeuert werden. Das hätte ihm und seiner Familie die Existenz als "fester Freier" gekostet. Dennoch ließ er sich nicht einschüchtern. Am Ende seines Buches dankt Moreno Leuten, die zu ihm gehalten und ihn in seiner Aufklärungsarbeit bestärkt haben. Der von dubiosen Personen handelnde Beitrag von 2018 über eine schießwütige Bürgerwehr an der Grenze zwischen den USA und Mexiko ist in dem Buch abgedruckt.

Erfindungen und Lügen wurden in zahlreichen Artikeln von Relotius im SPIEGEL und anderen Medien erst nachgewiesen, als der Skandal aufgedeckt war. So ist auch das Interview "Kehrt nicht auch das Böse, wenn man es lässt, eines Tages zurück?" (SPIEGEL 39/2018) mit Traute Lafrenz, der letzten Überlebenden der Widerstandsgruppe Weiße Rose, gespickt mit Erfindungen und Verfälschungen. Lafrenz hatte das Interview nicht autorisiert, was in den Vereinigten Staaten, wo sie lebt, nicht üblich ist aber zu den Prinzipien des Hamburger Nachrichtenmagazins gehört. Nach dem Bekanntwerden des Skandals gab die alte Dame an, niemals Bilder von den Ausschreitungen in Chemnitz 2018 gesehen zu haben, zu der sie sich in wunderbar klarer, von Relotius aber formulierter Sprache geäußert haben soll. Das habe man ihr in den Mund gelegt. Ihre Schwiegertochter, die bei dem Gespräch anwesend war, widersprach zudem Darstellungen von Relotius über die Länge des Interviews und der Art der Aufzeichnung.

Erfinden, biegen, drechseln, feilen

Der Hang des Vielgeliebten und nach Aufdeckung des Skandals Vielgeschmähten, unglaubliche Geschichten erzählen zu müssen und die Dinge so hinzubiegen, drechseln und zu feilen, bis sie wie einzigartig und unerhört erscheinen, und schnöde Wahrheiten noch schöner zu machen, um am Ende einen tollen Preis zu gewinnen, mit dem sich der Autor und sein Blatt schmücken, wird in Morenos Buch als übles Haschen nach Ruhm und Auflage entlarvt. An die 500 Journalistenpreise soll es geben, Relotius hat die höchsten gewonnen und wunderbare Lobesworte empfangen. Alle diese Preise hat er wieder abgeben müssen. Moreno schildert, wie Geschichten mit Blick auf mögliche Preise in Auftrag gegeben und geschrieben wurden.

Auf eine Frage des SPIEGEL, was der Fall Relotius für die Branche bedeutet, sagte Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT: "Allgemein gesprochen: Er ist ein bizarres Weihnachtsgeschenk für all jene, die den Medien ohnehin das Schlimmste unterstellen. Was die Branche anbelangt, beschädigt dieser Fall das Genre Reportage als Ganzes, insbesondere die Figur des Kriegsreporters, der normalerweise in Gebiete geht, in denen die Herrschenden ein besonderes Interesse daran haben, dass keine Informationen nach außen dringen. Einige wenige Kolleginnen und Kollegen riskieren ihr Leben, um der Welt Zeugnis abzulegen. Diese Reporter geraten jetzt unter Generalverdacht, weil es kaum möglich ist, ihre Recherchen vollständig nachzuvollziehen. Dass jetzt an der Wahrhaftigkeit von Berichten gezweifelt wird, für die Leute ihr Leben einsetzen, das ist der eigentliche Schaden. Zweitens müssen wir uns jetzt alle die Frage stellen: Ist es in dem Genre der Reportage zu einer Deformation gekommen, die alle Häuser betrifft?"

"Echt wie Hitlers Tagebücher"

Was aus dem einst so umschwärmten Fälscher und Hochstapler wurde, wird nicht in Morenos Buch nicht berichtet. Krank soll er sein und vermutlich auch einsam. Schon vor ihm gab es immer wieder Fälle, in denen Ungenauigkeiten, Mauscheleien, Übertreibungen, Auslassungen in den Medien aufgeflogen sind. Die gefälschten Hitler-Tagebücher im STERN waren bis zum aktuellen SPIEGEL-Skandal einsame Spitze. Als der Skandal aufgedeckt wurde, meinten Spötter mit Blick auf andere dubiose Machwerke, sie seinen "echt wie Hitlers Tagebücher". Es gab dann auch einen Tom Kummer, der das Fernsehen mit nachgestellten Reportagen aufs Glatteis führte. Unrühmlich ging auch SPIEGEL-Reporter René Pfister in die deutsche Mediengeschichte ein. Er musste den ihm verliehenen Henry-Nannen-Preis abgeben, weil er für ein Porträt des damaligen CSU-Chefs Horst Seehofer als Einstiegsszene dessen berühmte Modelleisenbahn beschrieb. Zwar gibt es diese, aber Pfister hat sie nicht selber gesehen, sondern wusste nur aus "dritter Hand" von ihr. Der Schweizer Journalist Tom Kummer prägte den so genannten "Borderline-Journalismus" - ein Euphemismus für frei erfundene journalistische Inhalte. Seine Pseudo-Interviews mit Hollywood-Stars waren unter anderem in der "Süddeutschen Zeitung" erschienen. Der Filmemacher Michael Born verkaufte in den 1990er-Jahren erfolgreich mehrere gefälschte Reportagen an deutsche Fernsehsender. Darunter waren angebliche Machenschaften des Ku-Klux-Klan in der Eifel. Im Prozess in Koblenz rechtfertigte sich Born mit dem auf Einschaltquoten fixierten Mediensystem und warf nachlässigen Redakteuren eine wesentliche Mitschuld an seinen Fälschungen vor. Das Gericht verurteilte den Fälscher 1996 wegen vollendeten Betrugs in 17 Fällen und versuchten Betrugs in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren.[9] Bei einigen der anderen Filme erkannte das Gericht eine Mitschuld oder den Auftrag durch die beteiligten Sendeanstalten an.

Erst nach Aufdeckung des aktuellen SPIEGEL-Skandals müssen Berichterstatter ihren Redaktionen offenlegen, wie sie an Informationen gelangt sind. Es ist klar, dass sich die AfD durch den SPIEGEL-Skandal in ihrer Medien-Kritik bestätigt fühlte und weiter fühlt. Was Relotius getan hat, ist Wasser auf die Mühlen der Leute, die in Goebbels-Manier alles als "Lügenpresse" bezeichnen, was ihnen nicht in den Kram passt. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel twitterte: "Was vom einstigen ‚Sturmgeschütz der Demokratie' in Zeiten von gesinnungsethisch gefärbtem Meinungsjournalismus übrig geblieben ist, hat mit seriösem Journalismus vielfach nichts mehr zu tun."

9. Januar 2029

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