Furcht vor revolutionärem Umsturz
Zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. folgte 1878 das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie



Mit dem Verbot der Sozialdemokratie und ihrer angeblich gemeingefährlichen Bestrebungen nach den Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. reagierte Reichskanzler Otto von Bismarck 1878 auf eine im Bürgertum und Adel verbreitete Furcht vor revolutionärem Umsturz und Entmachtung der Feudalaristokratie und Großbourgeoisie.



Die Grafik aus den 1880er Jahren zeigt eine Haussuchung bei so genannten "vaterlandslosen Gesellen" durch die politische Polizei.



Die Medaillen mit den Köpfen der Arbeiterführer August Bebel und Wilhelm Liebknecht warben für die Reichstagswahlen von 1890, die der SPD beachtliche Gewinne einbrachten. Trotz vielfältiger Verbote und Hetze vermehrten sich zwischen 1881 und 1890 ihre Stimmen von etwa 312.000 auf 1,4 Millionen.



Otto von Bismarck wurden zu Lebzeiten und danach unzählige Medaillen gewidmet, eine reguläre Gedenkmünze hat die Bundesrepublik Deutschland erst 2015 zu seinem 200. Geburtstag herausgegeben.



Der Reichskanzler bietet in einer Karikatur des "Kladderadatsch" von 1884 den im Reichstag vertretenen Parteien dessen Auflösung im Tausch gegen das Sozialistengesetz an. (Fotos/Repros: Caspar)

Als am 11. Mai und am 2. Juni 1878 Kaiser Wilhelm I. bei Attentaten von Karl Eduard Nobiling und Max Hödel während zweier Kutschfahrten Unter den Linden in Berlin verletzt, aber nicht getötet wurde, war für Reichskanzler Otto von Bismarck das Maß voll. Er nahm die Mordanschläge zum Anlass, um gegen die des Anarchismus verdächtigte linke Opposition vorzugehen. Der Pistolenschütze Hödel wurde zum Tod verurteilt und hingerichtet, Nobiling, der mit Schrotkugeln auf den Kaiser geschossen und ihn verletzt hatte, starb in der Untersuchungshaft an den Folgen eines Selbstmordversuchs. Das aus dem Märkischen Museum entliehene Henkersbeil, mit dem H

In einer Hetzkampagne ohnegleichen wurde den "Roten" die Verantwortung für die Gewaltakte in die Schuhe geschoben. Die 1875 aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hervorgegangene Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), die sich wachsenden Zulaufs vor allem in der Arbeiterschaft erfreute, war für Bismarck der Hauptfeind. Ähnlich wie in Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern herrschte auch im deutschen Bürgertum und beim Adel große Furcht vor revolutionären Bestrebungen ähnlich denen in den Jahren 1848/49 und gewaltsamen Umsturzversuchen durch die sich gossen Zulaufs erfreuenden Arbeiterbewegung.

Reichsfeind Nummer 1

Mitte der 1870er Jahre hatte die sich lautstark zu Wort meldende Sozialdemokratie im Deutschen Reich den politischen Katholizismus als "Reichsfeind Nummer 1" abgelöst. Nachdem Bismarck den Kulturkampf gegen Einflüsse von Papst und Klerus gewonnen, die Kompetenzen katholischer Institutionen stark beschnitten und die Zivilehe eingeführt hatte, konnte er sich voll und ganz auf den Kampf gegen die ihm so verhasste Sozialdemokratie konzentrieren. Um die deutsche Linke zu unterdrücken und ihr die Mitsprache am politischen Leben streitig zu machen, drückte der Reichskanzler in aufgeheizter Lage nach einer Neuwahl des Reichstags, die man wegen des Anlasses auch Attentatswahl nannte, die Annahme des Gesetzes "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" durch. Am 21. Oktober 1878 in Kraft gesetzt, wurden auf seiner Grundlage brutal und unerbittlich polizeistaatliche Mittel gegen linke Parteiorganisationen und Gewerkschaften angewandt. Arbeitervereine, Versammlungen sowie Verlage, Zeitungen und Druckereien wurden bei Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen verboten.

Verboten wurden in den folgenden zwölf Jahren etwa 1.300 sozialdemokratische Druckschriften sowie mehr als und über 330 Arbeiterorganisationen, darunter auch die SAP und Gewerkschaftsverbände. Außerdem wurden die Vollmachten der Polizei hinsichtlich der Ausweisung von so genannten vaterlandslosen Gesellen erweitert, die man auf Schwarzen Listen erfasst hatte. Aufgrund des Sozialistengesetzes wurden tausende Menschen verhaftet, hunderte hat man wegen staatsfeindlicher Betätigung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Ungezählte "Politische" verloren ihre Arbeit und hatten nach ihrer Ausweisung große Probleme, an einem anderen Ort Arbeit zu bekommen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Trotz Parteienverbot im Reichstag präsent

So weit es den Zensurbehörden möglich war, unterdrückten sie jede Form von Kritik an den Zwangsmaßnahmen, der Regierung, den oft zum Himmel schreienden Arbeitsbedingungen und sozialen Verhältnissen. Doch fanden Schreiber und Zeichner immer wieder Wege, um ihrer Wut und ihren Forderungen nach gesellschaftlichem Wandel Ausdruck zu verleihen. So gab das zunächst bis zum 31. März 1881 gültige und danach vom Reichstag regelmäßig verlängerte Sozialistengesetz der Polizei und Justiz reichliche Handhabe, um massiv gegen Sozialdemokraten und andere politisch missliebige Personen und Gruppen wegen des Vorwurfs des Hoch- und Landesverrats, der Aufwiegelung zur Rebellion, der Majestätsbeleidigung und anderer Delikte vorzugehen.

Zwar konnte die Staatsmacht aufgrund des Sozialistengesetzes gegen vermeintliche Reichsfeinde vorgehen und die Opposition niederhalten. Die sozialen und politischen Konflikte aber spitzten sich weiter zu. Ungeachtet des Parteienverbots waren die wenigen im Reichstag vertretenen Sozialdemokraten politisch weiter tätig, außerdem durften sie in das höchste deutsche Parlament gewählt werden. Im Unterschied zu dem, was der Opposition 55 Jahre später von den Nationalsozialisten angetan wurde, fielen die Strafen relativ moderat aus, waren aber für die Betroffenen dennoch schmerzhaft und nicht hinnehmbar.

Konflikte, Streiks, Proteste

Obwohl alles unternommen wurde, der im Untergrund tätigen Sozialdemokratie das Leben schwer zu machen, ließ sich ihr Siegeszug nicht aufhalten. Ihre Mitglieder waren bei der Umgehung des Gesetzes sehr kreativ. Sie arbeitete in der Illegalität oder Halblegalität auf regionaler Ebene weiter, indem sie vermeintlich unverdächtige Turn-, Naturfreunde- oder Radsportvereine gründeten oder in Lesezirkeln und ähnlichen Tarnorganisationen zusammenkamen. In der Zeit des Sozialistengesetzes wurden im Deutsche Reich wichtige sozialpolitische Maßnahmen eingeführt, die auch für andere Länder vorbildlich waren. Mit ihnen suchten Wilhelm I., Bismarck und ihresgleichen die Arbeiterschaft für sich zu gewinnen und den Druck aus dem Kessel zu nehmen und das Land als Wohlfahrtsstaat zu deklarieren. So wurden 1883 Gesetze zur Krankenversicherung und 1884 zur Unfallversicherung erlassen, gefolgt 1889 von der Alters- und Invalidengesetzgebung und 1891 dem Arbeitsschutzgesetz. So vorbildlich alle diese Neuerungen damals im Vergleich zu den Verhältnissen in anderen Ländern waren, so wenig konnten sie die sozial und finanziell benachteiligte Mehrheit nicht mit dem Staat versöhnen, und so blieben Konflikte, Streiks und Massendemonstrationen sowie Kritik und Proteste in den Medien nicht aus.

Gegen Bismarcks Protest wurde 1890 das Sozialistengesetz zu Beginn der Ära Kaiser Wilhelms II. aufgehoben. Im Nachhinein sprach der im gleichen Jahr seiner Ämter enthobenen Reichskanzler von einem großen Fehler. "Der Kaiser hat, in seiner christlichen, aber in den Dingen dieser Welt nicht immer erfolgreichen Tendenz der Versöhnung, mit dem schlimmsten Feinde, der Sozialdemokratie, den Anfang gemacht", schrieb der "Schmied des Reiches" im dritten, allerdings erst nach dem Ende der Monarchie gegen den Willen der Familie Bismarck veröffentlichten Band seines Buch "Gedanken und Erinnerungen", um dann resignierend fortzufahren: "Dieser erste Irrtum, der sich in der Behandlung des Streiks von 1889 verkörperte, hat zu gesteigerten Ansprüchen der Sozialisten und neuen Bestimmungen des Monarchen geführt, sobald sich herausstellte, dass unter dem neuen Regimente ebenso wie unter dem Alten [gemeint ist die Ära Kaiser Wilhelms I. 1861-1888, H. C.] der beste monarchische Wille nicht die Macht hat, die Natur der Dinge und des Menschengeschlechts umzuwandeln."

Das hat Bismarck nicht gewollt

Das Sozialistengesetz hatte der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) erheblichen Zulauf eingebracht, was Bismarck und seinesgleichen nicht gewollt hatten, aber bei genauer Beobachtung der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse hätten voraus sehen müssen. Die "Sozen" konnte ihre Wählerstimmen mehr als verdreifachen und waren im Reichstag, neu formiert als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), mit beachtlichen 35 Abgeordneten vertreten. Diese Zahl wurde ungeachtet vielfältiger Behinderungen und Verleumdungen bis zur Wahl 1912 auf 110 gesteigert. Die zwölf Jahre ihres Verbots hatten der deutschen Linken also mehr genutzt als geschadet, was Bismarck in Rage brachte und von ihm Kaiser Wilhelm II. negativ angerechnet wurde.

Hinter dem Aufschwung und Zulauf, den die Sozialdemokratie damals verbuchen konnte, standen viel menschliches Leid, Elend und Ausgrenzung. Wer Opfer des mehrfach verlängerten und dann 1890 aufgehobenen Sozialistengesetzes wurde, war mit seiner Familie geächtet und hatte Mühe, wieder auf die Füße zu kommen. Otto von Bismarck und seinen Mitstreitern war das Unglück tausender Menschen kein Wort und keine Zeile wert, so wie man bei ihm über die vielen Toten der für Preußens König Wilhelm I. gewonnenen Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870/71 ein Wort des Mitgefühls und Bedauerns vermisst.

Zwar war mit dem Verzicht auf das Sozialistengesetz offiziell die Ausgrenzung abgeschafft, doch wurden Sozialdemokraten und Gewerkschafter wie bisher behindert und schikaniert. Von ihnen organisierte Streiks wurden zum Teil mit blutiger Gewalt niedergeschlagen, und Arbeitervereine standen weiterhin unter polizeilicher Kontrolle, wenn auch nicht einer solch scharfen wie zu Zeiten des Sozialistengesetzes. Dessen Nichtverlängerung führte 1890 zur Neugründung der SAP als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Sie entwickelte sich in den folgenden Jahren zu der mit Abstand mitgliederstärksten Partei im Deutschen Reich und stellte 1912 erstmals auch die stärkste Reichstagsfraktion. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 vertrat sie einen strikt antikapitalistischen, antiimperialistischen und antimilitaristischen Kurs, ließ sich aber dann auf die von Wilhelm II. verkündete Burgfriedenspolitik ein und schwenkte mit Ausnahme linker Sozialdemokraten wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auf seinen Kriegskurs des Kaisers um, was für das Land und die Partei verhängnisvolle Folgen hatte.

2. Juni 2020

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