Sprache aus einem verschwundenen Land
Berliner Dudenverlag beschreibt in unterhaltsam zu lesendem Buch Wörter und Wendungen aus der ehemaligen DDR



Die SED bestimmte im Arbeiter-und-Bauern-Staat, was "Linie" ist. Die allgegenwärtige Propaganda verströmte Optimismus, dabei blieb vielen DDR-Bewohnern angesichts nicht erfüllter Versprechungen das Lachen im Halse stecken. Die Überflutung der DDR-Bewohner durch Propaganda und Wettbewerbsaufrufen nutzte am Ende nichts.



Während Antje Baumann 2020 sprachwissenschaftlich Wörter und Wendungen aus der DDR untersucht und interpretiert, hat der Berliner Historiker Helmut Caspar 2009 den Versuch unternommen, in einem Lexikon Begriffe und Parolen vor dem Vergessen zu bewahren.



Reklame für den Konsum war in der DDR eigentlich unnötig, weil das Angebot schmal war und man gerade zu Weihnachten alles kaufte, was gerade da war. Das Plakat lässt nicht auf den Inhalt der Pakete schließen, die der elegant gekleidete Mann aus der Berliner Stalinallee nach Hause trägt.



Solidaritäts- und andere Marken in Ausweise aller Art war eine lästige Sache. Erst nach dem Ende der DDR wurde bekannt, dass Spendengelder nicht in arme Bruderländer gelangt sind, sondern bei Pfingstreffen, Jugendfestivals und anderen Veranstaltungen "verbraten" wurden.



An Orden und Auszeichnungen herrschte in der DDR kein Mangel, hier die Spangen "Kollektiv der sozialistischen Arbeit" und für Teilnehmer an Zivilverteidigung.



Auf zahlreichen Trödelmärkten kann man Hinterlassenschaften des zweiten deutschen Staates für wenige Euro erstehen.






Die SED behauptete, dass die Chemie Schönheit und Wohlstand bringt. Und so verwundert es nicht, dass in einem Jugendweihebuch eine idealisierte Darstellung von einem Chemiekombinat inmitten saftig-grüner Wiesen zu finden ist. Die graue und stinkende Wirklichkeit strafte solchen Botschaften Lügen. (Fotos/Repros: Caspar)

Dreißig Jahre nach dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung wird lauter als je zuvor darüber nachgedacht, was 1989, 1990 und danach beim Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten gut gelaufen ist und was schief gegangen ist, was man bei mehr Nachdenken und gutem Willen aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat hätte übernehmen können und was zu Recht auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet ist. Kritisch und selbstkritisch wird darüber gesprochen, welche Tragödien sich bei der Zerstörung von Betrieben und Biographien ereignet haben und warum ehemalige DDR-Bewohner den 3. Oktober 1990 nicht als glücklichen Tag der Wiedervereinigung, sondern als Tag der Übernahme und Kolonisierung empfinden. Sie tun dies nicht, weil sie sich die Bevormundung durch die SED und die Überwachung durch die Stasi zurück wünschen, sondern weil sie das Empfinden haben, über den Tisch gezogen und von arroganten Wessis, auch Westgermanen genannt, ausgebootet worden zu sein.

Falsche Aussprache kann verräterisch sein

Als ungerecht wird seit 30 Jahren das große Lohngefälle bei vergleichbarer Arbeit und Leistung zwischen West und Ost kritisiert gibt, ja dass der "Osten" als Billiglohnland betrachtet und ausgenutzt wird. Politiker und Ökonomen mögen das alles von sich weisen, im Alltag aber erleben viele Bewohner der "neuen Länder", die inzwischen garnicht mehr so neu sind, nach wie vor krasse Unterschiede und Zurücksetzungen, dies übrigens auch bei der Besetzung von Leitungsposten durch Leute aus dem Westen. Dass sich nicht wenige DDR-Bewohner angesichts dieser ungelösten Probleme radikalisiert haben und rechtsextremen Parteien und Gruppen hinterherlaufen, dürfte aus den erlebten Frustrationen und Erniedrigungen herrühren.

In ihrem Buch "Mit der Schwalbe zur Datsche - Wörter aus einem verschwundenen Land" (Dudenverlag Berlin 2020, 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 12,40 Euro ISBN 978-3-411-74532-6) weist Antje Baumann auf den so genannten Schibolleth-Effekt hin, abgeleitet von Ähre oder Flut, nach dem man einen Menschen nach der Art zu sprechen als einheimisch oder fremd identifizieren kann. Die falsche Aussprache von "Schibolleth" konnte jemandem nach einer uralten Geschichte das Leben kosten. Laut Altem Testament (Lutherbibel LUT 2017, Richter 12, 4-6) besetzten die Gileaditer die Furten des Jordans vor Ephraim. "Wenn nun einer von den Flüchtlingen Ephraims sprach: Lass mich hinübergehen!, so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein!, ließen sie ihn sprechen: Schibbolet. Sprach er aber: Sibbolet, weil er's nicht richtig aussprechen konnte, dann ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordans, so dass zu der Zeit von Ephraim fielen zweiundvierzigtausend."

Hier Plaste, dort Plastik

Das verlangte Losungswort falsch auszusprechen oder, allgemeiner gesagt, sich durch seine Sprache oder Aussprache als Fremder zu erkennen zu geben, konnte in biblischen Zeiten Leben und Existenz kosten und ist auch heute ein Problem. Die Buchautorin betont beim Stichwort "Plaste", dass die Ostdeutschen inzwischen gelernt haben, Plastik zu sagen, um nicht als Menschen aus dem zweiten deutschen Staat erkannt zu werden. "Die soziolinguistische Erklärung dafür: Die kleinere oder unterprivilegierte Gruppe lernt beide Varianten bzw. Codes. - Es läuft alles wie zu erwarten ab, fast könnte man sagen, ,das geht seinen sozialistischen Gang'", schreibt Antje Baumann und betont an anderer Stele, ihr Büchlein wolle dabei helfen, "die manchmal nachwirkende Wirklichkeit hinter den Wörtern aufscheinen zu lassen. Das könnte wiederum das Verstehen zwischen Ost und West befördern." Auf der Begleitseite www.duden.de/schwalbe Willkommen auf der Begleitseite zum DDR-Wörterbuch "Mit der Schwalbe zur Datsche sind die in dem Buch erwähnten und erläuterten Wörtern weitere Informationen zum Thema zu finden, und man kann hier auch eigene Erinnerungen und Geschichten mitteilen. Außerdem enthält die Internetseite weitere Informationen und Literatur.

Da Sprache manchmal entlarvend sein kann, erkennt man ehemalige DDR-Bewohner mitunter daran, dass sie Plaste statt Plastik, Kaufhalle statt Supermarkt, Poliklinik statt Ärztehaus oder Kosmonaut statt Astronaut, Kindergarten statt Kita, BRD statt Bundesrepublik Deutschland, Arbeiter statt Arbeitnehmer, Vertragsarbeiter statt Gastarbeiter, Datsche statt Wochenendgrundstück usw. sagen. Manchmal geht es um entlarvende Details. Wenn die erste Silbe im Wort Konsum betont wird, gibt man sich als Bewohner der früheren DDR zu erkennen und meint eine in der DDR bekannte Handelskette. Bei dem auf der zweiten Silbe betonten Wort ist ganz allgemein Verbrauch gemeint. In der DDR verwendete Begriffe wie Kultur- und Geistesschaffende oder Kollektiv haben es in unseren gesamtdeutschen Alltag geschafft, während Antifaschistischer Schutzwall, Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, Arbeiter-und-Bauern-Staat, Ausreiseantrag, Bausoldaten, Begrüßungsgeld, Beratungsmuster, Brigadetagebuch, Bruderländer, Chemieprogramm, Diktatur des Proletariats, Einheitsliste, Exquisit, Feindlich-negative Existenzen, Frauenruheraum, Halbstaatlicher Betrieb, Intelligenzrente, Intershop, Isolierungsobjekte, Jugendfestival, Kaderleiter und Reisekader, Klassenstandpunkt, Kritik und Selbstkritik, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, Linientreu, Menschengemeinschaft, Neuererbewegung, Parteilichkeit, Pfingsttreffen, Republikgeburtstag, Rotlichtbestrahlung, Schwarzer Kanal, Selbstschussanlagen, Solibeitrag, Sozialistische Planwirtschaft, Weltfestspiele, Westfernsehen, Westpaket und viele andere Wörter nur noch in Büchern, Filmen und Fernsehspielen zur DDR-Geschichte zu finden sind.

Bei Dialekten wird es schwierig

Die DDR-Sprache ist nicht ganz verloren, ja manche Zeitgenossen benutzen mehr oder weniger ironisch und bewusst Begriffe von damals, weil sie sich als aus dem Land zwischen Elbe und Oder, Rügen und Rennsteig stammend zu erkennen geben und/oder aus unterschiedlichsten Gründen ihre "Ossi"-Herkunft betonen und sie als Qualitäts- und Alleinstellungsmerkmal empfinden. Wer heute "Freunde" sagt und dabei grinst, denkt möglicherweise an die sowjetischen Besatzungssoldaten, die erst in den frühen 1990er Jahren, Kasernenruinen und verseuchte Böden hinterlassend, abgezogen sind. Natürlich geben sich ehemalige DDR-Bewohner Mühe, ihren "Geburtsmakel" sprachlich zu kaschieren und Begriffe aus dem ehemaligen Alltag nicht mehr zu verwenden.

Das ist gut zu schaffen, aber wenn ein Mensch sächsischen oder thüringischen Dialekt spricht, ist sehr schnell seine Herkunft klar. Bei Leuten aus Bayern, dem Schwabenland oder Hessen wird man den Dialekt hingegen eher akzeptieren. Im Übrigen: Ist schon jemand aufgefallen, dass im Theater sowie Spiel- und Fernsehfilmen, die etwa in Dresden oder Leipzig spielen, stets Hochdeutsch gesprochen wird, während in solchen aus München, Mainz, Saarbrücken oder Frankfurt am Main mitunter schwer verständlich genuschelt wird. Wo man noch Mundart hört, dann auf speziellen Bühnen oder im Kabarett, um "sprachentechnisch" einen bestimmten Typus festzulegen und die Botschaft in eine bestimmte Richtung zu weisen.

Dass sprachliche Anpassung kein Phänomen unserer Tage sondern uralt ist, sei ein Hinweis auf die Übernahme französischer Wörter und Wendungen, die im späten 17. Jahrhundert von eingewanderten Hugenotten in Berlin und an anderen Orten übernommen wurden. Die Einheimischen übernahmen nicht nur das technische Know-how der Fremden, sondern auch deren Umgangsformen und Elemente ihrer Sprache. In besseren Kreisen bis hin zur Herrscherfamilie parlierte man französisch, das gemeine Volk integrierte aufschnappte Ausdrücke, so dass die Umgangssprache ein kurioses Gemisch von Berliner Mundart und französelnden Ausdrücken wurde. "Die teutsche Sprach' kommt ab, ein' andre schleicht sich ein. / Wer nicht Französisch redt, der muss ein Simpel sein", lautete ein Reim von damals, und ein anderer stellte fest: "Wer nicht französisch kann, der kömmt zu Hof nicht an." Da die Hugenotten lange in ihrer Blase lebten, wie wir heute sagen würden, sahen viele keine Notwendigkeit, deutsch zu lernen. Weitsichtige Leute allerdings sahen in der Pflege der Zweisprachigkeit ein Mittel, sich im Alltag und der Arbeitswelt zu behaupten.

Noch besser, noch schneller, noch schöner

Hier sei darauf hingewiesen, dass sich heutige Politiker mitunter einer dem "Sprech" der 1989/90 abgehalfterten Machthaber in der DDR nicht unähnlichen Ausdrucksweise bedienen, etwas wenn sie sagen, etwas noch besser, noch genauer, noch eindringlicher machen zu wollen. Was nichts anderes bedeutet, als sei der gegenwärtige Zustand schon gut. In der DDR ließ die Propaganda keine Gelegenheit verstreichen, die "werktätigen Menschen" aufzufordern, die von der Staatspartei SED vorgegebenen Ziele im Volkswirtschaftsplan noch besser und schneller zu erfüllen, damit sich die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus noch stärker erweise. Dazu gab es 1969 einen sarkastischen Kommentar in Form dieses Zweizeilers: "Keine Kartoffeln im Keller, keine Kohle im Sack. / Es lebe der 20. Jahrestag."

17. Oktober 2020

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"