Wider den Geist des Vertrauens
Bismarcks Kritik an Wilhelm II. konnte erst nach dem Ende der Monarchie publiziert werden



Ungeachtet mancher politischer Differenzen war das Verhältnis des deutschen Kaisers und preußischen Königs Wilhelm I. und Bismarck gut. Oft konnte der Kanzler den Monarchen davon überzeugen, dass seine Politik vernünftiger als das ist, was andere dem ihm einzuflüstern versuchen. Die Büsten stehen in der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Unter den Linden in Berlin.



Stapelweise erreichten den 1890 von Wilhelm II. in Pension geschickten "Vakanzler" Grußadressen, Briefe und Geschenke. Dem jungen Kaiser dürften diese Sympathiebekundungen kaum gefallen haben.



Dass er 1890 aus dem Reichskanzlerpalais an der Wilhelmstraße in Berlin regelrecht hinausgeworfen wurde, hat Otto von Bismarck nie verwunden.



Die von John Tenniel gezeichnete Karikatur "Dropping the Pilot - Der Lotse geht von Bord" in der britischen Zeitschrift "Punch" vom 23. März 1890 zeigt den verbitterten Abgang Otto von Bismarck, wobei er von Kaiser Wilhelm II. mit einer russischen Krone auf dem Kopf grinsend beobachtet wird. In der Mitte gibt der Kanzler mit den Worten "Eure Pflicht beginnt - meine endet" zu verstehen, dass er seine Arbeit beendet hat und sie an andere abgibt.



Nach seinem erzwungenen Rücktritt war der Ex-Kanzler Otto von Bismarck nicht faul, die "Hamburger Nachrichten" avancierten zu seinem Sprachrohr. Deren Redakteur Hermann Hofmann suchte den Altkanzler regelmäßig in Friedrichsruh auf und schrieb seine Auslassungen mit. Diese erschienen als gegen den Neuen Kurs Wilhelms II. gerichtete Zeitungsartikel, ohne dass sie jemals mit Bismarcks Namen gezeichnet wurden. Die Karikaturen zeigen Bismarck als Stichwortgeber, was auf seinem Schreibtisch liegt und wie er versucht, Wilhelm II. vor einem Schritt in den Abgrund zu bewahren.



Wilhelm II. setzte sich über Bismarcks Warnungen hinweg und betrieb vor und nach 1900 eine gefährliche Schaukelpolitik, die das Deutsche Reich in schwere internationale Konflikte trieb. Der vom Kanzler befürchtete Krieg begann 1914 und führte vier Jahre später zum Ende der Monarchie.



Reichskanzler Otto von Bismarck hört Wilhelm II. bei einer Thronrede im Berliner Schloss zu und macht ihm auf der Propagandapostkarte im Ersten Weltkrieg Mut. Genutzt haben solche Mühen wenig. Die Kriegsmüdigkeit der Deutschen war am Ende zu groß. (Fotos/Repros: Caspar)

"Ich brauche keine Denkmäler, mein Denkmal ist das Deutsche Reich" soll Otto von Bismarck, der erste deutsche Reichskanzler und engste Mitarbeiter des preußischen Königs und ab 1871 deutschen Kaisers Wilhelm I., gesagt haben, als man ihn um Genehmigung für öffentliche Ehrungen bat. Doch niemand hielt sich an dieses Gebot, denn schon zu seinen Lebzeiten und erst recht danach wurden dem ebenso verehrten wie gefürchteten Politiker zu Ehren zahllose Statuen, Steine und Türme errichtet. Dabei war dem aus einer altmärkischen Gutsbesitzerfamilie stammenden Politiker, der im Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin sowie an den Universitäten in Berlin und Göttingen eine humanistische und juristische Ausbildung erhalten hatte, ein solch steiler Aufstieg in die höchsten Höhen der Politik nicht vorbestimmt.

Die Karriere des "tollen Junkers", wie man Bismarck nannte, begann bescheiden als Deichhauptmann von Schönhausen, seinem Gut in der Nähe von Stendal, und führte ihn als Landtagsabgeordneter nach Berlin, wo sich der junge Konservative als scharfer Gegner des Liberalismus und jeder Art von Bürgerbeteiligung der politischen Macht einen Namen machte. Seine unbedingte Treue zur preußischen Monarchie bewog König Friedrich Wilhelm IV., ihn auf diplomatische Missionen zu schicken, erst als preußischer Gesandter zum Frankfurter Bundestag, dann nach Sankt Petersburg und nach Paris. Bismarcks Ziel als Diplomat wie auch ab 1862 als preußischer Ministerpräsident waren Erhalt und Ausbau der preußischen Großmacht und das Streben nach der deutschen Einheit unter der Führung des Hauses Hohenzollern, also Preußens, wobei er auch Kriege und militärische Konfrontationen einkalkulierte.

Lösung der Einheitsfrage ohne Österreich

Indem er die "kleindeutsche" Lösung der Einheitsfrage anstrebte, brachte er Österreich-Ungarn auf den Plan, das 1866 mit einer Reihe deutscher Fürstentümer in einem der drei deutschen Einigungskriege besiegt wurde. Indem er einige Bundesgenossen des österreichischen Kaisers Franz Joseph ihrer Kronen beraubte, allen voran König Georg V. von Hannover, schonte er andere Monarchen wie die Könige von Sachsen und von Bayern in der Annahme, sie irgendwann einmal in einem Krieg gegen Frankreich zu Hilfe zu rufen. Das geschah tatsächlich 1870/71, in dessen Verlauf König Wilhelm I. von Preußen zum deutschen Kaiser ausgerufen wurde.

Mit außerordentlichen Kompetenzen ausgestattet und nur seinem Kaiser und König rechenschaftspflichtig, machte sich Bismarck oft gegen den Widerstand von Reichstagsabgeordneter, die er in geschliffenen Reden attackierte, an die Lösung innen- und wirtschaftspolitischer Aufgaben. Außenpolitisch erwarb es sich als "ehrlicher Makler" bei der Lösung internationaler Konflikte einen Namen. Indem er Bündnisse mit Österreich, Italien und Russland abschloss und sich auch um korrekte Beziehungen zum französischen "Erbfeind" bemühte, stärkte er die Stellung des jungen Kaiserreichs im Konzert der damaligen Großmächte. Vom Gottesgnadentum der Monarchie überzeugt, schreckte der 1871 in den Fürstenstand erhobene Kanzler im Inneren vor drastischen Mitteln nicht zurück, als er beispielsweise im Rahmen des "Kulturkampfes" die Macht der katholischen Kirche beschnitt und jeder Form von Liberalismus eine Absage erteilte. Die sich angesichts schwerer sozialer Spannungen stark entwickelnde Arbeiterbewegung bekämpfte Bismarck durch das Sozialistengesetz (1878). Als es 1890 aufgehoben wurde, war die deutsche Sozialdemokratie stärker als je zuvor. Verdienste erwarb sich der Kanzler durch die Sozialgesetzgebung, die für das damalige Europa vorbildlich war und bei uns in Teilen bis heute Gültigkeit besitzt.

Rauswurf aus der Reichskanzlei

Dramatisch war Bismarcks Sturz 1890, zwei Jahre nach der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. Der politisch unerfahrene Monarch neigte zum Vabanquespiel und wollte keinen starken Gegenspieler und Mahner an seiner Seite dulden, wie der Reichskanzler einer war. Nach der Entlassung, besser gesagt dem Rauswurf des Reichskanzlers unter wenig ehrenvollen Umständen im März 1890 verlängerte Wilhelm II. das Sozialistengesetz nicht. Das ehemals gute Verhältnis zwischen dem jungen Kaiser, als dieser noch Thronfolger war, und dem alten Kanzler war zerrüttet. Bismarck hätte die Unterdrückungsmaßnahmen gegen die "sozialistischen Reichsfeinde" noch länger beibehalten, stieß aber bei Wilhelm II. auf wenig Gegenliebe. Diesem assistierte der verbitterte, ins Abseits gedrängte Politiker einen Hang zur Selbstüberhebung, Mystik, Prunksucht, Verstellung und Kostümierung und zog bei ihm sogar einen wenig schmeichelhaften Vergleich zwischen den sexuellen Ausschweifungen seines Vorfahren, König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, und ähnlichen Ambitionen bei dem jungen Herrn, wie Bismarck den Kaiser intern und despektierlich zu nennen pflegte.

In seinem Buch "Gedanken und Erinnerungen" sagte der auf seine Güter in Varzin (heute Warcino in der polnischen Woiwodschaft Pommern) beziehungsweise Friedrichsruh bei Hamburg abgeschobene, gegen seinen Willen mit dem leeren Titel eines Herzogs von Lauenburg versehene Altkanzler dem Kaiser Treulosigkeit gegenüber seinen Untergebenen nach. "Die Leichtigkeit, mit welcher er bewährte Diener, auch solche, die er bis dahin als persönliche Freunde behandelt hat, ohne Klarstellung der Motive von sich scheidet, fördert nicht, sondern schwächt den Geist des Vertrauens, wie er seit Generationen in den Dienern der Könige von Preußen gewaltet hat", schrieb Bismarck und meinte damit sich und andere Personen am Berliner und Potsdamer Hof und in der Regierung, die beim Kaiser oft aus nichtigen Gründen in Ungnade gefallen oder ihm und seinem "persönlichen Regiment" im Weg waren.

Liebedienerische Unterwerfung der Hofschranzen

Dieses und weitere für Wilhelm II. wenig freundliche Zitate sind im dritten Band der von Bismarck verfassten "Gedanken und Erinnerungen" zu finden, der erst 1919, also nach dem Ende der Monarchie und der Flucht des Kaisers ins niederländische Exil, gegen den Willen der Familie des 1898 verstorbenen Reichskanzlers erschien. Solange der Kaiser an der Macht war, hätte sich kaum jemand und auch Bismarck niemand getraut, solche Anschuldigungen zu publizieren, die der Autor nicht aus der Luft gegriffen hatte. Der am Hofe Wilhelms II. gepflegte Umgangston, namentlich die kritiklose, liebedienerische Unterwerfung von Hofschranzen, Militärs, Künstlern, Poeten, Geschichtsschreibern, Journalisten und anderen Personen unter den absoluten Willen des Monarchen, wurde von dessen Gegnern mit dem Begriff Byzantinismus umschrieben. Dies geschah in Anlehnung an das starre, bis ins Letzte ausgefeilte Hofprotokoll, das bei den in Byzanz residierenden oströmischen Kaisern gepflegt wurde und keinen Spielraum für Kreativität und schnelles Reagieren auf ungeplante Ereignisse und Gefahren erlaubte. Auch in anderen Machtzentren trieb der Byzantinismus durch kriecherisches und schmeichlerisches Verhalten seltsame Blüten, denken wir an das, was sich im Umkreis des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. oder um die Person des überall Feinde witternden sowjetischen Diktators Josef Stalin oder seiner ostdeutschen auf Kritik überaus empfindlich reagierenden Amtskollegen Walter Ulbricht und Erich Honecker abspielte. Dass die Untertanen Wilhelms II. den hohenzollernschen Personenkult nicht immer mitmachten, zeigen zeitgenössische Karikaturen und Spottgedichte.

Auch Otto von Bismarck musste sich einiges in dieser Richtung gefallen lassen, vor allem aus der linken Ecke wurden giftige Pfeile auf ihn geschossen. Konnte man die damaligen Kronenträger nicht treffen, um nicht wegen Majestätsbeleidigung zur Verantwortung gezogen zu werden, so waren ihre Untergebenen vielfältiger Angriffe ausgesetzt. Man brauchte schon ein dickes Fell und großes Selbstbewusstsein, um sie anzuhalten und seinen Geschäften nachzugehen. Otto von Bismarck muss ein solcher Mensch gewesen sein. Auf der anderen Seite reagierte er ausgesprochen dünnhäutig, als Wilhelm II. ihn mit gewundenen Floskeln und verbaler Hochschätzung seiner Verdienste um Kaiser und Reich aus dem Reichskanzleramt warf. Dabei wich seine bis dahin gleichmütige Stimmung "naturgemäß einem Gefühl der Kränkung", das sich steigerte, "als Caprivi [General Graf Leo von Caprivi, bis 1894 Bismarcks Nachfolger als Reichskanzler, H. C.], noch ehe ich den Bescheid auf mein Abschiedsgesuch erhalten hatte, von einem Teile meiner Dienstwohnung Besitz nahm. Darin lag eine Exmission ohne Frist, die ich nach meinem Alter und der Länge meiner Dienstzeit wohl nicht mit Unrecht als eine Rohheit ansah. Ich bin noch heute nicht von den Folgen dieser meiner überhasteten Exmission frei. Unter Wilhelm I. war dergleichen unmöglich, auch bei unbrauchbaren Beamten."

Leichenbegängnis erster Klasse

Wie groß die Abneigung und das Mistrauen Wilhelms II. gegenüber Bismarck trotz gegenteiliger Schmeichelworte und Ehrenbezeigungen war, geht aus der bitteren Bemerkung des Geschassten im dritten Band seines Erinnerungsbuches hervor, dass niemand ihn nach seiner Entlassung um Rat gefragt hat. "Im Gegenteil scheint meinen Nachfolgern untersagt zu sein, über Politik mit mir zu sprechen. Ich habe den Eindruck, dass für alle Beamte und Offiziere, welche an ihrer Stelle hängen, ein Boykott nicht nur geschäftlich, sondern auch sozial mir gegenüber besteht. Dieselbe hat in den sozialen Erlassen meines Nachfolgers wegen Diskreditierung der Person seines Vorgängers im Auslande einen wunderlichen amtlichen Ausdruck gefunden." Offiziell hat Wilhelm II. Bismarcks Entlassung mit dessen angeblich angegriffener Gesundheit begründet, dabei erfreute sich der Ex-Kanzler bis zu seinem Tod im Jahr 1898 einer guten Gesundheit. Der Gefeuerte hat seinen von militärischen Ehrenbezeugungen begleiteten Abschied aus Berlin als "Leichenbegängnis erster Klasse" bezeichnet. Die nun gewonnene Zeit hat Bismarck für seine Memoiren und journalistische Polemik gegen "die da in Berlin" genutzt.

Otto von Bismarck hielt mit direkter und versteckter Kritik am kaiserlichen Reichsoberhaupt nicht hinterm Berg, ja er "fütterte" ihm ergebene Journalisten mit Informationen, die Wilhelm II., den ihm nachfolgenden Reichskanzlern und der kaiserlichen Kamarilla kaum gefallen haben dürften. Der Altkanzler kannte alle diese Streber und Ohrenbläser bestens, und er fällte drastische Urteile. Er konnte sich das leisten, besaß er doch im Volk als "Schmied des Reichs" auch dank groß angelegter Eigenpropaganda viel Popularität, von jenen Menschen abgesehen, die unter den gegen die Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung gerichteten Zwangsmaßnahmen gelitten hatten und unter weiterer Unterdrückung stöhnten, sowie jenen, denen die preußische Hegemonie im Reich und die Dominanz des Protestantismus nicht schmeckten.

Mühen des Kaisers um die Liebe seiner Untertanen

Der sprunghafte, um Popularität und die Liebe seiner Untertanen bemühte Wilhelm II. gab 1890 die "Februarerlasse" nicht aus Mitleid für die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen deutscher Proletarier heraus sondern als eine Art Beruhigungspille und Maßnahme zur Festigung seines "persönlichen Regiments". "Ich bin entschlossen, zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten so weit die Grenzen es gestattet, welche Meiner Fürsorge durch die Notwendigkeit gezogen werden, die deutsche Industrie auf dem Weltmarkte konkurrenzfähig zu erhalten und dadurch ihre und der Arbeiter Existenz zu sichern", ließ der Kaiser seine Untertanen im Erlass vom 4. Februar 1890 wissen.

Hintergrund der aus "Fürsorge für den wirtschaftlich schwächeren Teil des Volks", wie der Kaiser schrieb, verfassten Erlasse war ein Streit zwischen dem Kaiser und seinem Kanzler über Arbeiterpolitik und Arbeitsschutzmaßnahmen. Der große Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet von 1889 nötigte die Reichsregierung zur Ausarbeitung von Arbeitsschutzmaßnahmen. Otto von Bismarck hielt nicht viel von den Maßnahmen und trat als preußischer Handelsminister zurück, ließ aber die Erlasse ausarbeiten, in denen einerseits die neue Sozialpolitik Wilhelms öffentlichkeitswirksam angekündigt wurde, andererseits aber versucht wurde, die Umsetzung zu verzögern. Nach den Erlassen war es Aufgabe des Staates, "die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, dass die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben."

Obwohl Bismarck von einer Veröffentlichung abriet, ließ der Kaiser die Erlasse ohne vorgeschriebene Gegenzeichnung durch Bismarck im Reichsanzeiger veröffentlichen. Der so brüskierte Kanzler drohte mit seinem Rücktritt vom Amt des preußischen Ministerpräsidenten, blieb aber weiter im Amt. So waren die Februarerlasse ein Stein auf dem Weg zu Bismarcks Sturz wenige Tage später. Verbittert stellte Bismarck gegenüber hohen Beamten fest, "dass der Verzicht auf den Kampf gegen die Sozialdemokratie und die Erregung von unerfüllbaren Hoffnungen derselben mich mit schwerer Besorgnis erfüllt habe." Bismarck zitiert in seinem Erinnerungsbuch den Generalstabschef und Feldmarschall Helmuth Graf von Moltke, der nach einer Information des Kaisers an die Generalität über die bevorstehende Entlassung des Reichskanzlers gesagt haben soll: "Das ist ein sehr bedauerlicher Vorgang; der junge Herr wird uns noch manches zu raten geben". In der Tat gab Wilhelm II. seinen Zeitgenossen und der Nachwelt nicht nur viel zu raten, sondern noch mehr zu fürchten und zu ängstigen.

3. Juni 2020

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