Sturm auf die Stasi-Bastille
Seit dem 15. Januar 1990 waren Mielkes Leute in der Berliner Normannenstraße nicht mehr unter sich



Im Berliner U-Bahnhof Magdalenenstraße gleich neben dem früheren Ministerium für Staatssicherheit berichtet ein in die Wand eingelassenes Foto von einer Mahnwache an der Ruschestraße, mit der im Verlauf des Jahres 1990 Forderungen zum Zugang von Stasi-Opfern zu ihren Akten bekräftigt wurden: "Die Akten gehören nicht den Herrschenden, weder den alten noch den neuen, sondern den Bürgern und besonders den Opfern der Staatssicherheit."





Was von den Stasi-Akten nicht sofort vernichtet wurde, landete in Papiersäcken. Deren Inhalt wird seit 30 Jahren analysiert, und manche Dokumente konnten mit Hilfe modernster Technik sehr zum Ärger der Täter und zur Genugtuung der Opfer rekonstruiert werden.



Als am 15. Januar 1990 das Ministerium für Staatssicherheit an der Ruschestraße/Normannenstraße in Berlin gestürmt wurde, war das Ende des DDR-Geheimdienstes gekommen. Seine Mitglieder haben seither nichts unversucht gelassen, ihr Tun als verfassungsgemäß und gesetzestreu zu rechtfertigen und die juristische und politische Aufarbeitung dieses besonders dunklen Teile der DDR-Geschichte als Siegerjustiz und Rachfeldzug des "Gegners" zu diffamieren.





In ein Museum umgewandelt sind die Räume, von denen aus Erich Mielke sein Stasi-Imperium geleitet hat. Die Panzerschränke wurden im Wendeherbst 1989 vorsorglich geleert.



Der DDR-Geheimdienst und der sowjetische KGB, hier repräsentiert durch ihre Embleme aus Metall, vermochten es nicht, die Opposition in den jeweiligen Ländern auszuschalten. In Falle der Sowjetunion beschleunigte die von Michail Gorbatschow seit 1985 betriebene Politik von Glasnost und Perestroika die Erosion des kommunistischen Weltsystems und half zudem, den seit Jahrzehnten tobenden Kalten Krieg zu beendet.





In Leipzigs Runder Ecke ist fast alles geblieben, wie es bei Sturm auf die Stasizentrale ausgesehen hat. Besucher können sich authentisch von den anderen Machenschaften des DDR-Geheindienstes in den weitgehend informieren. (Fotos: Caspar)

Opfer von Stasiminister Erich Mielke und seines Überwachungs- und Verfolgungswahns haben um den Jahreswechsel 1989/90 mit wachsendem Entsetzen bemerkt, wie sich seine Leute aus ihren Dienststellen verdrückten und neue Jobs annahmen. Im Minutentakt wurden ihnen die Entlassungspapiere ausgehändigt, derweil sich in Hinterzimmern die Schredder mit den zur Vernichtung bestimmten Akten heiß liefen und in den Öfen im Heizungskeller Sonderschichten gefahren wurden. Da nicht alle Spitzelberichte, Abhörprotokolle, IM-Verpflichtungen und andere Materialien wie Fotos, Filme und Tonbänder vernichtet werden konnten, blieb eine große Masse erhalten und steht seit nunmehr 30 Jahren für die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der DDR-Geschichte und zur Selbstvergewisserung seiner Bewohner zur Verfügung.

Der neue Hoffnungsträger Hans Modrow, als Nachfolger von Willi Stoph DDR-Ministerpräsident und früherer SED-Chef des Bezirks Dresden, tat sich mit der von den DDR-Bürgern geforderten ehrlichen Aufarbeitung der Stasi-Verbrechen schwer, wissend, dass es kaum möglich ist, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen. Als erstes wurde das Ministerium für Staatssicherheit in das Amt für nationale Sicherheit (AfNS) zurückgestuft. Damit wollte man signalisieren, dass das Mielke-Ministerium nicht mehr Staat im Staate und "Schild und Schwert der Partei", also der SED, ist, die sich gerade in Auflösung befand, sondern dem Vorsitzenden des Ministerrates untersteht. Modrow erwartete von dem weiterhin mit alten Stasi-Kadern besetzten Amt "neues Denken in Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit" und ließ den krakenartig tätigen Apparat verkleinern. Näheres sollte ein Gesetz regeln, das aber nie verabschiedet worden ist.

Prozess der revolutionären Erneuerung

Neuer Amtschef in der Stasi-Bastille war Erich Mielkes früherer Stellvertreter, der Stasi-General Wolfgang Schwanitz. Er schwor seine Leute auf einen "Prozess der revolutionären Erneuerung" ein, bildete Kommissionen zur Neustrukturierung und forderte die über das ganze Land verteilten Diensteinheiten auf, passende Vorschläge einzubringen. Praktisch von einem Tag auf den andern sollten die alten Feindbilder nicht mehr gelten, jetzt war die "imperialistische Bundesrepublik Deutschland" kein Schreckgespenst sondern Partner. Außerdem fuhr der Zug in Richtung Wiedervereinigung. Man wollte die bisher als so genannte feindlich-negativen Elemente in der DDR bekämpften "Andersdenkenden" tolerieren und statt ihrer nur noch "Verfassungsfeinde" bekämpfen. Dabei war nicht klar, wer das sein sollte, denn die auf die Vorherrschaft der SED ausgerichtete Verfassung hatte ausgedient.

Wolfgang Schwanitz' Entschuldigung für das, was die Genossen "von der geheimen Front" getan haben, war wohlfeil und ging ihm und anderen schnell über die Lippen. Staatstragende Bekenntnisse waren die eine Sache, die massenhafte Vernichtung von Akten, die Verwischung von Spuren und die Abschaltung von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) eine andere. Unter Stasileuten, den offiziellen und den inoffiziellen, muss eine furchtbare Stimmung geherrscht haben. Von Verunsicherung, Enttäuschung und Demotivation wurde vor 30 Jahren berichtet. Da und dort mag es auch Scham und selbstkritisches Nachdenken darüber gegeben haben, was man im Dienst des MfS angerichtet hat. Da die Medien in der Noch-DDR und in der Bundesrepublik geradezu genussvoll Namen und Adressen von Stasileuten veröffentlichten und bei Demonstrationen kategorisch "Stasi an die Stanze" oder "Stasi in den Tagebau" gefordert wurde, verbreitete sich unter Mielkes Mannen Angst und oft auch Verzweiflung bis hin zu Suiziden.

Brisante Akten vor der Vernichtung bewahrt

Bürgerrechtler und Opfer taten derweil alles, um Licht in die Machenschaften der Geheimdienstler zu bringen. Bereits 1990 wurden die ersten Bücher mit Dokumenten und Erlebnisberichten veröffentlicht. Die Bevölkerung bewertete die Umwandlung des Ministeriums in ein Amt kritisch, und es kam in den folgenden Wochen zu Besetzungen von Stasi-Dienststellen quer durch die Republik. Bereits am 4. Dezember 1989 wurde die MfS-Zentrale des Bezirks Erfurt von erbosten Bürgern gestürmt, nachdem verbreitet worden war, dass dort Akten vernichtet werden. Ähnlich gingen Bürgergruppen auch in Leipzig, Rostock und weitern Bezirksstädten vor. Besonders spektakulär verlief der große Sturm auf das Ministerium für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg am 15. Januar 1990.

Mit dem Aufruf "Schreibt Eure Forderungen an die Mauern der Normannenstraße! Bringt Farbe und Spraydosen mit! Wir schließen die Tore der Stasi! Bringt Kalk und Mauersteine mit!" rief das Neue Forum an jenem Tag zum Sturm auf die Mielkes Hauptquartier an der Ruschestraße im Ostberliner Bezirk Lichtenberg auf. Mit der spektakulären Aktion wollten Bürgerrechtler "Ohne Gewalt - mit Farbe und Phantasie", so eine Plakatüberschrift, den Druck auf die Modrow-Regierung verstärken, die Auflösung des DDR-Geheimdienstes zügig voranzutreiben und Ermittlungsverfahren gegen seine Mitarbeiter einzuleiten. Erst nach diesem spektakulären Ereignis sah sich die Regierung genötigt, die Arbeit des einst mächtigen Repressionsapparats einzustellen.

Nach wie vor hält sich das Gerücht, der Sturm auf das MfS und die Demolierung von Versorgungseinrichtungen und Mobiliar sei von der Stasi inszeniert wurden, um unbemerkt brisante Akten beiseite zu schaffen und die Bürgerbewegung als doch nicht so gewaltfrei in Misskredit zu bringen. Erste Vermutungen in dieser Richtung kamen unmittelbar nach der spektakulären, von den Medien begleiteten Aktion auf und wurden seither in diversen Publikationen über das Ende von Mielkes Truppe erörtert, nicht aber endgültig geklärt. Tausende Demonstranten waren an jenem Montagabend den noch im Ministerium für Staatssicherheit tätigen Geheimdienstlern auf den Pelz gerückt und setzten ihrer Arbeit ein vorzeitiges Ende. Zur symbolischen Einmauerung des Geländes kam es, wie man weiß, nicht. Das Tor wurde rechtzeitig von innen geöffnet, von wem, ist nie wirklich geklärt worden.

Akteneinsicht nach wie vor möglich

Der Umgang mit den in großen Mengen hinterlassenen Dokumenten des früheren Ministeriums für Staatsicherheit wurde durch das Stasi-Unterlagen-Gesetz geregelt, das vom Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedet wurde und am 29. Dezember 1991 in Kraft trat. Wichtigstes Ziel des Gesetzes war und ist die vollständige Öffnung der Akten des ehemaligen DDR-Geheimdienstes. Es eröffnete von Repression und Haft betroffenen Personen die Möglichkeit, die sie betreffenden Akten zu lesen. Bürger aus beiden deutschen Staaten lasen Spitzelberichte und andere Unterlagen, die über sie angelegt wurden. Das Interesse an der Akteneinsicht ist bis heute ungebrochen.

Um zu verhindern, dass die Stasiakten irgendwo im Nirwana verschwinden, wurde Amt des/der Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BstU) eingerichtet. Es wurde zunächst von dem Rostocker Pfarrer, DDR-Bürgerrechtler und späteren deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck geleitet und daher Gauck-Behörde genannt, hieß später Birthler-Behörde nach der DDR-Bürgerrechtlerin Marianne Birthler und untersteht jetzt dem früheren DDR-Bürgerrechtler Roland Jahn, einem früheren Journalisten, der 1983 einer der Mitbegründer der oppositionellen Friedensgemeinschaft Jena war und noch im gleichen Jahr zwangsweise ausgebürgert und in den Westen abgeschoben wurde.

Vergeblich war von der DDR-Regierung versucht worden, eine Nachfolgeeinrichtung in Gestalt des Amtes für Nationale Sicherheit sowie einen Auslandsnachrichtendienst oder den Verfassungsschutz der DDR zu etablieren. Stasi-Leute bewerteten den Sturm auf die Stasi-Bastille als weiteren bedeutsamen Akt der Selbstaufgabe der DDR und als "Sieg der Konterrevolution". Mitte Januar existierten Kreis- und Objektdienststellen nicht mehr, von den 15 Bezirksverwaltungen des MfS waren acht durch Besetzung nicht mehr arbeitsfähig. Das ganz und gar demoralisierte Stasi-Wachregiment war nicht mehr in der Lage, die MfS-Objekte zu schützen. Die meisten Stasileute von Generalen bis zu Rängen ganz unten waren entlassen, und auch die Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst war unterbrochen.

"Hinrichtung ohne Urteil - alles Käse"

An die Unterdrückung und Bespitzelung der DDR-Bevölkerung erinnert eine Ausstellung in der "Runde Ecke" in der Leipziger Innenstadt. Sie gehört wie die Stasi-Zentrale Normannenstraße und das Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen in Berlin sowie die Zuchthäuser Bautzen, Brandenburg und Hoheneck zu den furchterregenden Orten der untergegangenen DDR. 40 Jahre war das Eckgebäude am Leipziger Dittrichring Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit. Am 6. Dezember 1989 wurde sie im Beisein von Journalisten und aufgebrachten Bürgern von der Volkspolizei besetzt. Ab jetzt war es nicht mehr möglich, brisante Dokumente zu vernichten. Berge von zerschnipseltem Papier und leere Aktenordner dokumentieren in der Runden Ecke den Versuch, die unbequeme Vergangenheit zu entsorgen.

Bunter Linoleumfußboden, gelbbraune Tapeten, Scherengitter an Türen und Fenstern, graue Telefone, Tonbandgeräte, Abhöranlagen und Fernsehmonitore, Papierschredder, Kabelkanäle und andere Utensilien sind in der Leipziger Stasizentrale erhalten. Es scheint, als sei die Zeit in der Runden Ecke stehen geblieben. Besichtigt werden kann auch die einzige Hinrichtungsstätte der DDR an der Alfred-Kästner-Straße in der Leipziger Südvorstadt. Hier wurde unbarmherzig vollstreckt, was Stasi-Minister Mielke 1982 aus gegebenem Anlass vor hohen Offizieren seines Imperiums verlangte: "Wir sind nicht davor gefeit, dass wir einmal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüsste, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzer Prozess. Weil ich ein Humanist bin. Deshalb habe ich solche Auffassung. [...] Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil - alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil."

Bald nach dem Sturm auf das Ministerium für Staatssicherheit wurde im Haus 1, dem Sitz des Ministers, ein Museum eingerichtet, das die Geschichte des DDR-Geheimdienstes und seine Verbrechen dokumentiert. Dort kann man nicht nur die nahezu unveränderten Arbeitsräume des Ministers Mielke und weiterer Stasi-Generäle besichtigen, sondern auch Gerätschaften zur Beobachtung des so genannten Klassengegners und von Oppositionellen betrachten. Außerdem werden Methoden zu ihrer Ausgrenzung und Zersetzung des, wie es damals hieß, Klassenfeindes dokumentiert. Die Gedenkstätte ist einer der wenigen weitgehend authentisch erhaltenen Orte des Unterdrückungsapparates in der DDR. Stasigefängnis 1990 besenrein übergeben

Auch das ehemalige Untersuchungsgefängnis an der Genslerstraße in Berlin-Hohenschönhausen, nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt, ist erhalten und zur Erinnerungsstätte umgebaut. Das Geheimgefängnis wurde am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, besenrein an den Berliner Senat übergeben. Die Tigerkäfige genannten Kojen, in denen die wegen des Vorwurfs der Spionage, Sabotage, Republikflucht und so genannter staatsfeindlicher Hetze einsitzenden Häftlinge ein bisschen frische Luft schnappen konnten, waren zu diesem Zeitpunkt abgerissen und sind heute nur noch durch Fotos und Beschreibungen nachzuweisen. Holzpritschen in den Zellen hatte man wegen der "besseren Optik" durch Betten ersetzt, und auch Besucherzimmer, die es nie im Stasi-Knast gegeben hat, wurden eingerichtet. Die quälenden Verhören und schlimmen Erniedrigungen ausgesetzten Stasi-Häftlinge wussten nicht, wo sie sich aufhielten. Sie waren einer strengen Hausordnung unterworfen, besaßen keine Rechte, hatten keine Verbindung zur Außenwelt, bekamen auch keinen anwaltlichen Beistand. Erst Anfang Dezember 1989 erfuhren sie vom Fall der Mauer. Ihnen wurde absichtlich verheimlicht, dass die SED-Herrschaft vorbei ist. Damit wollte man angeblich Meutereien und einem Massenausbruch vorbeugen, und auf jeden Fall wollte man eine Verbrüderung zwischen den Häftlingen und der Bürgerbewegung verhindern.

Während die Gefangenen Ende 1989 aufgrund einer Amnestie entlassen wurden, hat man 1990 neue, prominente Häftlinge nach Hohenschönhausen eingeliefert. Politibürogrößen wie der ehemalige Stasi-Minister Mielke und Wirtschaftschef Mittag hatten es dort "schön" im gewendeten Stasi-Knast. Vielen dort und in anderen Dienststellen des MfS beschäftigten Leuten gelang nach der Wiedervereinigung ein Neuanfang, manche gelangten wegen ihrer "besonderen Art" des Umgangs in führende Positionen in der Wirtschaft, andere mussten tatsächlich ihr Brot in untergeordneten Stellen verdienen und waren Anfeindungen ausgesetzt. Es kam auch vor, dass Journalisten, Rechtsanwälte, Lehrer, Ärzte und andere Menschen ihre Zugehörigkeit zum MfS verheimlichten und Jahre später erst entlassen wurden. Kaum einer wurde zur Rechenschaft gezogen.

8. Januar 2020

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