Ulbrichtfilm verschwand im Giftschrank
Sowjetische Genossen rügten 1953 zu hastige Schritte für den Aufbau des Sozialismus in der DDR



Walter Ulbricht als Alleskönner und Übervater auf einem Plakat von 1952 sowie bei der Besichtigung des Ostberliner Stadtmodells, für das viele Neubauten geplant waren. Im Vordergrund der Dom am Lustgarten und Schinkels Altes Museum. Das Time-Magazin vom 25. August 1961 dürfte dem Mauerbauer mit dem Spitzbart kaum gefallen haben.



Gegen Frust und Enttäuschung bei vielen DDR-Bewohnern vermochten auch bunte Plakate und kernige Politparolen nichts auszurichten. Was 1953 sowjetische Kommunisten erkannten, war den Betonköpfen um Ulbricht verschlossen.



Während ostdeutsche Arbeiter von der Sowjetunion lernen, um siegen zu lernen, und ihre ganze Kraft dem Aufbau des Sozialismus widmen, ärgern sich westdeutsche Alt- und Neonazis und Imperialisten gemeinsam mit Bundeskanzler Konrad Adenauer über den Neuen Kurs der SED. Dass die Sowjets diesen den ostdeutschen Genossen quasi aufgezwungen haben, verschwieg die Propaganda.



Stalins Tod am 5. März 1953 bescherte der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten viele Probleme. Während in der Sowjetunion für einige Zeit das Tauwetter ausgerufen wurde, tat die SED-Führung in der DDR nur so, als würde sie die Zügel lockern.



Die in Westberlin herausgegebene Satirezeitschrift "Tarantel" nahm auf unnachahmliche Weise die Gebrechen und Verbrechen des SED-Systems aufs Korn. Wer sich mit dem "Hetzblatt", so der DDR-Jargon, im Arbeiter-und-Bauern-Staat erwischen ließ, kam als so genannter Volksfeind vor Gericht wurde zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Dass schon die Nationalsozialisten den Begriff auf Widerstandskämpfer angewendet haben, störte kaum jemand. (Repros: Caspar)

Nach dem Tod des hymnisch als Vater aller Werktätigen, größter Genius unserer Epoche und bester Freund des deutschen Volkes verehrten Diktators Josef Stalin am 5. März 1953 begann in der Sowjetunion die Periode des Tauwetters. Für kurze Zeit konnten dort Kunst und Literatur aufblühen. Enge Gefolgsleute des Diktators wie Berija, Chruschtschow, Mikojan und Molotow stritten um die Macht, sorgten sich um die Stabilität des Regimes, boten dem Westen Gespräche zur Entschärfung des Kalten Kriegs und des Wettrüstens an und gaben den von ihnen abhängigen Parteien und Regierungen in den Ostblockstaaten als Hinweise getarnte Befehle für vorsichtige Kurskorrekturen und Lockerungen. Erst 1956 fand durch den neuen Parteichef Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU eine interne Abrechnung mit Stalins Verbrechen statt, die man allerdings nicht so benannte, sondern nur als "Auswüchse des Personenkults" verharmloste.

Dass sich im Frühsommer 1953 etwas zusammenbraut, haben die SED und ihr verlängerter Arm, das sich selber als "Schild und Schwert der Partei" bezeichnende Ministerium für Staatssicherheit, wohl registriert, aber daraus keine Konsequenzen gezogen, die den Druck aus dem Kessel hätten nehmen können. Während tausende DDR-Bewohner tagtäglich das Land in Richtung Westen verließen, versuchte die Parteiführung, sich erst einmal mit den Folgen des Todes von Stalin am 5. März 1953 klar zu werden und auf seinen Nachfolger einzustellen. Außerdem war die SED-Führung mit der Frage beschäftigt, wie sie den 60. Geburtstag von Walter Ulbricht am 30. Juni 1953 feiern soll. Der ihm gewidmete Dokumentarfilm "Walter Ulbricht - Baumeister des Sozialismus" wurde niemals gezeigt und erst 1997 uraufgeführt. Er feiert den SED-Chef als allseits verehrten, weisen, immer präsenten Landesvater und malt den Aufbau der DDR in den schönsten Facetten aus. Der von Personenkult und Unterwürfigkeit nur so triefende Streifen endet mit dieser Eloge: "Genosse Walter Ulbricht ist der Schöpfer unserer Pläne, der Mann scharfen Blicks und schnellen Entschlusses, der Freund des Lebens und der Jugend, der Generalsekretär der Partei des arbeitenden Volkes."

Personenkult trieb seltsame Blüten

Das Machwerk kam auf sowjetischen Befehl in den Giftschrank. Offenbar hatten die Besatzer besser als die SED-Führung erkannt, dass die cineastische Hymne auf Ulbricht nicht in die Zeit passt und die Leute noch mehr gegen den "Spitzbart aus Sachsen" aufbringen könnte als es schon der Fall war. Dessen 60. Geburtstag wurde zwei Wochen nach der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 mit verhaltener Begeisterung begangen. Spätere Feiern arteten hingegen zu prunkvollen Veranstaltungen und den üblichen Selbstverpflichtungen aus, "noch" höhere Ergebnisse im sozialistischen Wettbewerb zu erzielen. Im damaligen Museum für Deutsche Geschichte im Zeughaus Unter den Linden in Berlin hat man in einer dem SED- und Staatschef gewidmeten Ausstellung unzählige Ergebenheitsadressen und selbst gebastelte Geschenke gezeigt, um die "Verehrung" der Werktätigen aller Klassen und Schichten für ihren großen Führer zu unterstreichen.

Der Ulbricht-Kult trieb seltsame Blüten. So trugen die Leuna-Werke und ein Stadion in Ostberlin seinen Namen, und auch die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam-Babelsberg schmückte sich mit seinem Namen. Damit war 1971 Schluss, als Erich Honecker den Parteichef und Staatsratsvorsitzenden mit der Fistelstimme stürzte und seinen Platz besetzte. Honecker ließ vergleichbare Ehrenbezeugungen zwar nicht zu, aber er war unbestritten der erste Mann im zweiten deutschen Staat und sorgte dafür, dass nahezu keine Ausgabe des Zentralorgans NEUES DEUTSCHLAND ohne sein Konterfei gedruckt wurde und er immerzu im Fernsehen präsent war. Sein Wort galt, und wer gegen ihn auch im allerhöchsten Zirkel der Macht opponierte, wurde unbarmherzig gefeuert.

Die neue Führung in Moskau sah 1953 klarer als die in Ostberlin, welcher Sprengstoff sich in dem kleinen Land zwischen Elbe und Oder und damit an der Grenze zwischen zwei Welt- und Militärsystemen angesammelt hat, und mahnte Korrekturen an. Diesbezügliche Aufforderungen blieben bis zum Ende der SED-Herrschaft streng geheim. In dem Buch "Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1941-1961" (Serie Piper Dokumentation, Piper Verlag München 1993) sind die Vorhaltungen und Anweisungen der sowjetischen Führung "zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik" veröffentlicht.

Parteikonferenz der SED mit schlimmen Folgen

Das von den sowjetischen Genossen verfasste und als Anlage zum Protokoll einer SED-Politbürositzung vom 5. Juni 1953 überlieferte Dokument räumt ernste Unzufriedenheit der Werktätigen "in Bezug auf die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen in der DDR" ein, die zur massenhaften Flucht allein vom Januar bis April 1953 von 447 000 Menschen in den Westen geführt habe. Unter ihnen seien viele "werktätige Elemente", also Arbeiter, aber auch Mitglieder und Kandidaten der SED und Mitarbeiter der bewaffneten Organe, also der Volkspolizei und der Staatssicherheit. In den Vorhaltungen aus Moskau werden Verantwortliche für die Misere, allen voran SED-Chef Walter Ulbricht, nicht genannt. Der Stalinist reinsten Wassers hatte im Juli 1952 auf der II. Parteikonferenz der SED den "planmäßigen Aufbau des Sozialismus" in der DDR ausgerufen und damit die Zuspitzung der Verhältnisse in der DDR sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs heraufbeschworen. Sache aller fortschrittlichen Kräfte sei es, so heißt es im Beschluss dieser Konferenz, " aus den Erfahrungen des Kampfes der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) und vom großen Stalin zu lernen, wie der Sozialismus aufgebaut wird."

Seine sowjetischen Genossen, die zugleich Befehlshaber und Kontrolleure in ihrer DDR genannten Besatzungszone waren, rügten Versorgungsmängel, Repressalien gegen die Kirche, jähe Einschränkung der Privatinitiative, die Kollektivierung in der Landwirtschaft, die Ausdrängung des mittleren und kleinen Privatkapitals, nackte Administration und andere "grobe Fehler". "Die bis zu dieser Zeit durchgeführte Propaganda über die Notwendigkeit des Übergangs der DDR zum Sozialismus [ist] als unrichtig zu betrachten, da sie die Parteiorganisationen der SED zu unzulässigen vereinfachten und hastigen Schritten sowohl auf dem politischen als auch auf dem wirtschaftlichem Gebiet treibt."

Neuer Kurs als Beruhigungspille

Eine Lockerung der politischen Zügel kam ungeachtet sowjetischer Mahnungen für Walter Ulbricht, Otto Grotewohl, Wilhelm Pieck und ihresgleichen nicht infrage. Den Kampf gegen die Kirche einzustellen, den Druck von den Bauern und Gewerbetreibenden zu nehmen, die ideologische Indoktrination der Bevölkerung zu beenden und die Versorgungsprobleme zu lösen, stand nicht auf ihrem Zettel. Offenbar hatten sie nur rudimentäre Vorstellungen davon, was im Lande tatsächlich vor sich geht. Doch dann ruderten die SED und die Regierung am 9. Juni 1953, wenige Tage vor dem Beginn des Volksaufstandes, zurück und verkündete als Beruhigungspille den Neuen Kurs. Dass es unter Kaiser Wilhelm II. schon einmal einen Neuen Kurs, nämlich die Abkehr von der von Bismarck betriebenen Politik der Konfrontation und Spaltung sowie die Hinwendung zu einem "sozialen Kaisertum" und damit verbunden die Zurückdrängung der Sozialdemokratie gegeben hat, mag den SED-Führern nicht aufgefallen sein.

Der Neue Kurs war ein taktischer Richtungswechsel, nur Beschwichtigung in Bezug auf den Aufbau des Sozialismus in der DDR. Mitnichten beabsichtigten Ulbricht & Co. eine Abkehr von ihrer bisherigen Vision, in der DDR schnellstmöglich den Sozialismus aufzubauen. Jetzt war nur eine Verlangsamung des Tempos auf dem Weg dorthin beabsichtigt. Am 9. Juni 1953 "empfahl" das SED-Politbüro als eigentliches Entscheidungsorgan im Lande der Regierung, die Aufwendungen für die mit viel Prestige verbundene und für den Export in die Sowjetunion wichtige Schwerindustrie zu verringern und die Konsumgüterindustrie anzukurbeln, auf die Enteignung der noch vorhandenen privaten Unternehmen zu verzichten, den Mittelstand zu fördern sowie die von üblen Klassenkampfparolen begleiteten Maßnahmen gegen die privaten Bauern und kleinen Unternehmern zu mildern.

Dampf aus dem Kessel nehmen

Mit ihrem Neuen Kurs versuchte die SED-Führung, Dampf aus dem "Kessel DDR" zu nehmen und der Massenflucht einen Riegel vorzuschieben, denn noch waren die Grenzen zum Westen offen. Große Bedeutung im Kalkül der SED-Führung hatte die angekündigte Rücknahme der drückenden Arbeitsnormen, die erst wenige Wochen zuvor deutlich angehoben wurden, ohne dass die Löhne entsprechend verbessert worden wären. Außerdem sollte die Rückkehr von so genannten Republikflüchtlingen erleichtert werden, eine Möglichkeit, die kaum wahrgenommen wurde. Außerdem sollten der Interzonen-Reiseverkehr erleichtert sowie das Verhältnis zu den Kirchen verbessert und Abstand von antireligiöser Hetze und Diskriminierung von Christen genommen werden. Um in der Bevölkerung glaubwürdiger zu werden, wollte das Regime statt verlogener Staats- und Parteipropaganda in den Medien eine offene, wahrheitsgemäße Berichterstattung über die Verhältnisse in der DDR zulassen, brachte es aber nicht über Lippenbekenntnisse hinaus.

Die Verkündung der Neuerungen und das öffentliche Bekenntnis der Parteiführung, "Fehler" gemacht zu haben, wurden von der Mehrheit der Bevölkerung als halbherzig und scheinheilig erkannt. Intern hielt die SED-Führung den ihr von den "sowjetischen Freunden" anbefohlenen Neuen Kurs für falsch. Die Normenerhöhungen wurden nicht zurückgenommen, und auch die Löhne der Industriearbeiter, die ja eigentlich die große Stütze des Arbeiter-und-Bauern-Staates waren, blieben hinter der allgemeinen Lohn- und Rentenentwicklung zurück. Diese Benachteiligungen brachten das Fass zum Überlaufen, und so folgte unmittelbar auf die Verkündung des Neuen Kurses der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der offiziell als faschistischer, vom Westen organisierter Putschversuch deklariert wurde. In den folgenden Jahrzehnten war der 17. Juni für die DDR-Oberen und die Stasi ein rotes Tuch. Sie taten alles, um eine Wiederholung zu verhindern. Intern hielt es Stasiminister 1989, dem Jahr der friedlichen Revolution in der DDR, dies durchaus für möglich.

9. Februar 2020





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