Rentnerschwemme, Dönermorde, Umwelthysterie
Seit 1991 wird im vereinigten Deutschland das Unwort des Jahres gekürt, doch nicht jedem gefällt die Auswahl

Sprachwissenschaftler und andere Experten wählen seit 1991 aus vielen Vorschlägen Wörter oder Wendungen aus, die im zurückliegenden Jahr Schlagzeilen machten oder besonders unangenehm aufgefallen waren, die ein aktuelles Ereignis zynisch oder auch grob vereinfachend beschrieb oder die Menschenwürde verletzte. Die Suche nach dem treffendsten Unwort des Jahres ist ein komplizierter Prozess, und nicht jedem sagt das Ergebnis zu, denn es stehen zahlreiche Einsendungen zur Auswahl. Ganz gewiss hätten es manche Formulierungen verdient, in die wenig schmeichelhafte Liste aufgenommen zu werden. Bundespräsident Johannes Rau erklärte in seiner "Berliner Rede" im Mai 2000: "Wer sich über die Untaten aus Fremdenfeindlichkeit empört, der darf die Unworte nicht überhören oder gar selber gebrauchen, die viel zu häufig die Runde machen. Unworte bereiten Untaten den Boden."

Es ist an dieser Stelle aus Platzgründen nur möglich, einzelne Unwörter Jahr für Jahr aufzuführen. Ihre ausführliche Interpretation und Bewertung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen: 1991 "Ausländerfrei" nach ausländerfeindlichen Ausschreitungen im brandenburgischen Hoyerswerda analog zu "judenfrei" in der Zeit des Nationalsozialismus; 1992 "Ethnische Säuberungen" als verharmlosende Umschreibung für den Völkermord im ehemaligen Jugoslawien und in weiteren von Bürgerkriegen betroffenen Ländern; 1993 "Überfremdung" als populistisches Argument zur Abwehr des Zuzugs von Ausländern nach Deutschland; 1994 "Peanuts" als hochmütige Umschreibung des damaligen Chefs der Deutschen Bank Hilmar Kopper für einen angeblich zu vernachlässigenden Millionen-Verlust, der in der Bilanz des Geldinstituts kaum auffällt, die Betroffenen aber in existenzielle Krisen stürzte; 1995 "Diätenanpassung" als verniedlichende Umschreibung für eine dem Wählervolk nicht zu vermittelnde Erhöhung von Angeordnetenbezügen; 1996 "Rentnerschwemme" als diskriminierendes Wort für steigende Zahlen von Rentnern und Pensionären; 1997 "Wohlstandmüll" als Angriff auf Menschen, die es sich angeblich in der Wohlstandsgesellschaft bequem machen und keine Lust zur Arbeit haben; 1998 "Sozialverträgliches Frühableben" als unverschämte Aufforderung an ältere Mitbürger, sich im Interesse der Allgemeinheit aus dem Staub zu machen und ihr durch einen möglichst frühen Tod einen letzten Dienst zu tun; 1999 "Kollateralschaden" meint, dass man in einem bewaffneten Konflikt die Tötung von Unbeteiligten nach dem Motto "Wo gehobelt wird, fallen Späne" im Kauf nehmen muss.

Terror, Feuer und Bomben

Im neuen Jahrtausend wurden folgende Unwörter des Jahres ausgewählt: 2000 "National befreite Zone" als Charakterisierung einer Region, die von Rechtsextremisten, Ausländerfeinden und Neonazis terrorisiert wird und in die sich so genannte Volksverräter nicht hineintrauen; 2001 "Gotteskrieger" als heroisierende Bezeichnung von bewaffneten Islamisten, die ihre Ziele mit Terror, Feuer, Bomben und Blei durchzusetzen versuchen; 2002 "Ich-AG" als unstatthafte Reduzierung von Menschen auf eine wirtschaftliche Kategorie mit dem Nebenaspekt, dass diese Mini-Unternehmen zwar für die Arbeitslosenstatistik gut sind, vielfach kaum aber Überlebenschancen haben; 2003 "Tätervolk" als ein politisch und moralisch inakzeptabler Vorwurf mit klarer antisemitischer Tendenz; 2004 "Humankapital" beschreibt Menschen lediglich als ökonomisch interessante Kennziffer ohne Herz, Blut und Seele; 2005 "Entlassungsproduktivität" lobt ökonomische Effekte, die sich aus der Freisetzung von "überflüssigen" Arbeitnehmern ergeben; 2006 "Freiwillige Ausreise" umschreibt behördliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Ausländern, denen nichts anderes übrig bleibt als das Land, in dem sie um Asyl nachgesucht hatten, wieder zu verlassen; 2007 "Herdprämie" ist eine ebenso hinterhältige wie frauen- und familienfeindliche Charakterisierung von Zuwendungen an Eltern, die ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken wollen oder können und dafür eine Unterstützung erhalten; 2008 "Notleidende Banken" als ironische Charakterisierung für Geldinstitute, die durch riskante Geschäfte in riesige Schwierigkeiten gerieten, sich zu Opfern stilisieren und wie selbstverständlich staatliche Hilfen in Milliardenhöhen in Anspruch nehmen. Der Begriff stellt die Ursachen und Folgen der Bankenkrise auf den Kopf; 2009 "Betriebsratsverseucht" als Kampfbegriff, mit dem gegen die gesetzlich verankerte Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen in einem Unternehmen vorgegangen und die Tätigkeit von Betriebsräten diskriminiert wird; 2010 "Alternativlos" ist ein von Politikern von Bundeskanzlerin Angela Merkel abwärts gern benutztes Schlagwort dafür, dass bei politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen nur ein Standpunkt gilt und jedwede Diskussion über andere Wege oder Problemlösungen von vorn herein zwecklos sind. In der DDR wurde die Politik der SED als alternativlos bezeichnet, ohne dass dieser Begriff für den Allmachtsanspruch der Staatspartei verwendet wurde; 2011 "Dönermorde" als eine von der Polizei und den Medien verwendete Umschreibung der Verbrechen der Neonazi-Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Mit der türkischen Mahlzeit Döner wird in abwertender Weise eine ganze Bevölkerungsgruppe bezeichnet. Mit dem Begriff werden die Mordtaten verharmlost und die Opfer diskriminiert; 2012 "Opfer-Abo" geht auf den Moderator Jörg Kachelmann zurück, der in Interviews behauptet hatte, dass Frauen in der Gesellschaft ein Opfer-Abo haben. Für Frauen sei es leicht, Männer auch ohne Grund wegen sexueller Gewalt zu beschuldigen. Weil sie damit Erfolg haben, gibt es seiner Meinung nach viele Falschbeschuldigungen; 2013 Sozialtourismus beschreibt abwertend Einwanderung, die angeblich nur dazu dient, im Zielland Sozialleistungen zu erhalten. Indem das Wort Tourismus verwendet wird, entsteht die Vorstellung, Zuwanderung habe mit Vergnügen, Erholung und Gelderwerb zu tun, dabei erfolgt sie in den meisten Fällen aus purer Not und Lebensbedrohung. Der Begriff wurde vom damaligen Staatssekretär Günter Krings (CDU) im Bundesinnenministerium in Umlauf gebracht und von einem Teil der Medien kritiklos übernommen; 2014 Lügenpresse wurde Ende 2014 und Anfang 2015 in Dresden, Leipzig, Berlin und an anderen Orten bei Umzügen der selbst ernannten Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) skandiert. Hitler, Goebbels und andere Nazis bedienten sich in den 1920-er Jahren des Kampfbegriffs und behaupteten, die rote Lügenpresse führe einen Verleumdungsfeldzug gegen die NS-Bewegung. Mit dem Untergang der NS-Diktatur verschwand der im Krieg gegen England und andere Gegner benutzte Begriff ungeachtet seiner klaren politischen und ideologischen Konnotation nicht ganz aus dem Sprachgebrauch. So hat man ihn in der DDR gelegentlich gegen den, wie es hieß, imperialistischen und US-hörigen westdeutschen Staat eingesetzt. Die Jury stellt fest, die pauschale Verurteilung der Medien als Lügenpresse verhinderte fundierte Medienkritik und gefährde die für die Demokratie so wichtige Pressefreiheit; 2015 Der verächtlich gemeinte Begriff "Gutmensch" beleidigt diejenigen, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren, gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime verhindern und sich ganz allgemein für Menschen in Not und Elend einsetzten, von denen es hierzulande leider mehr als genug gibt. Mit dem Vorwurf "Gutmensch" würden Toleranz und Hilfsbereitschaft "pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert", heißt es in der Begründung der Jury; 2016 "Volksverräter" stammt aus dem Vokabular sowohl des Nationalsozialismus als auch kommunistischer Diktaturen. Als Volksverräter diffamiert, wurden unzählige Menschen ermordet oder ins Gefängnis gesteckt, die nicht das rassistische und völkische beziehungsweise marxistisch-leninistische Weltbild von Hitler, Stalin und anderen passten. Manche von denen, die heute "Volksverräter" brüllen, würden heutige Politiker am liebsten am Galgen hängen sehen. 2017 Der Begriff Alternative Fakten geht auf den Umgang mit der Wahrheit in den USA unter Präsident Donald Trump zurück. Der Versuch, die Öffentlichkeit in die Irre zu führen und zu manipulieren, wird als Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung legitimiert und salonfähig gemacht; 2018 Anti-Abschiebe-Industrie geht auf den CSU-Politiker Alexander Dobrindt zurück, der Klagen gegen die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber als Sabotage des Rechtsstaats bezeichnet hatte. Dobrindt unterstelle denjenigen, die abgelehnte Asylbewerber rechtlich unterstützten, die Absicht, kriminell gewordene Flüchtlinge schützen zu wollen, um damit Geld zu verdienen.

Was 2019 noch zur Auswahl stand

Zum Unwort des Jahres 2019 wurde die "Klimahysterie" erklärt. Die Darmstädter Jury erklärte, mit ihm würden Klimaschutzbemühungen und die Klimaschutzbewegung diffamiert und wichtige Debatten zum Klimaschutz diskreditiert. "Der Ausdruck wurde 2019 von vielen in Politik, Wirtschaft und Medien - von der F.A.Z. über Unternehmer bis hin insbesondere zu AfD-Politikern - verwendet. Er pathologisiert pauschal das zunehmende Engagement für den Klimaschutz als eine Art kollektiver Psychose. Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Klimawandel ist das Wort zudem irreführend und stützt in unverantwortlicher Weise wissenschaftsfeindliche Tendenzen. Außerdem kritisieren wir als Unwörter im Jahr 2019: ,Umvolkung': Der Ausdruck "Umvolkung" erhielt 2019 durch ein ZDF-Interview mit dem neuen AfD-Vorsitzenden Tino Chrupalla größere Aufmerksamkeit. Es handelt sich um einen Schlüsselbegriff einer rechtsextremen Verschwörungstheorie. Diese behauptet, dass es einen geheimen Plan (der sog. Eliten) gebe, die weiße Mehrheitsbevölkerung in Europa, Australien/Neuseeland und den USA durch (vornehmlich muslimische) Flüchtlinge und andere nicht-weiße Einwanderer auszutauschen. Sie ist fester Bestandteil der Ideologie der AfD und bildet die Grundlage für ein politisches Programm, das auf die kulturelle Homogenität der Bevölkerung zielt und zugewanderte Menschen insofern diskriminiert, als sie als gefährliche, sich schnell vermehrende ,Austausch'-Masse dargestellt werden. Zudem diente die mit dem Wort auf einen Begriff gebrachte Verschwörungstheorie im Jahr 2019 auch dem Massenmörder von Christchurch als Legitimationsgrundlage für sein Verbrechen. Sein Manifest zu der Tat trägt den Titel ,The Great Replacement' (,Der große Austausch'). Dennoch erklärte Chrupalla, er halte das Wort ,Umvolkung' ,nicht für rechtsextrem'". Ein anderes Unwort ist die "Ethikmauer". Er stehe wie z.B. auch "Moralkeule" exemplarisch für Ausdrücke, "die jede moralisch-ethische Argumentation als ein Zeichen naiver Fortschrittsverweigerung diskreditieren." Weitere Einsendungen von 671 waren Verschissmus (22x), Deals (16x), Umweltsau (16x, nach dem umgedichteten Kinderlied, in dem die Oma im Hühnerstall Motorrad fährt)), Alte weiße Männer (13x), Verschmutzungsrechte (11x), Klimaleugner (11x), LKW-Vorfall (10x) und Flugscham (10x).

Viele Unwörter verschwanden schon bald aus dem aktiven Sprachgebrauch, so etwa die "spätrömische Dekadenz", die der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle ins Spiel brachte, um vor dem Missbrauch des Sozialstaates durch Schmarotzer und Faulpelze zu warnen, oder die Deutsche Leitkultur, ein Begriff aus dem Jahr 1998. Er geht auf den Göttinger Islamforscher Bassam Tibi zurück, der jedoch von "europäischer Leitkultur" sprach und damit die Bewahrung von Demokratie und Menschenrechten sowie Trennung von Politik, Staat und Kirche und weitere Errungenschaften seit der Aufklärung meinte. CDU-Politiker griffen den Begriff auf und ernteten mit Blick auf Zuwanderer und Personen, die einen so genannten Migrationshintergrund haben, mit ihren Forderungen, sie sollten die deutsche Leitkultur zu Eigen machen, sowohl Beifall und als auch empörte Ablehnung.

16. Januar 2020

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"