Deportiert nach Auschwitz
Deutsches Historisches Museum Berlin zeigt Tagebuchaufzeichnungen eines ungarischen Mädchens, das den Holocaust überlebt hat



Felix Nussbaums Gemälde "Dreierporträt mit Judenstern" aus dem Jahr 1944 weist den Besuchern den Weg in die Ausstellung mit den Aufzeichnungen, die Sheindi Ehrenwald auf Papierseiten und Karteikarten eines Rüstungsbetriebs schrieb, in dem sie Zwangsarbeit verrichten musste.



Mit erhobenen Händen werden ungarische Juden unter den Augen lachender Landsleute in den sicheren Tod geführt. Von den 825.000 Menschen, die in Ungarn innerhalb der Grenzen von 1941 bis 1945 lebten und als Juden angesehen wurden, kamen im Holocaust etwa 565.000 ums Leben, 260.000 überlebten. Nach der Befreiung waren viele der 260 00 Menschen, die die Nazihölle überstanden hatten, aus rassistischen Gründen und weil man sie für Volksfeinde hielt, Drangsalierungen und Ausgrenzungen ausgesetzt, jetzt unter kommunistischen Vorzeichen.



Sheindi Ehrenwald hat die Aufzeichnungen wie ihren Augapfel gehütet, doch gerieten sie lange nach ihrer Befreiung und Umsiedlung nach Israel in Vergessenheit, bis sie vor einiger Zeit wiederentdeckt und in ihrem historischen Wert erkannt wurden.





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Die in Auschwitz angekommenen Gefangenen mit dem Gelben Stern auf der Brust ahnten nicht, dass sie in Kurze mit Zyklon B getötet und danach verbrannt werden. Die Dose mit dem Giftgas Zyklon B wird in der neuen Ausstellung als Symbol für den nationalsozialistischen Massenmord gezeigt. Die Fotos stammen aus dem von SS-Leuten angefertigten Auschwitz-Album mit dem harmlosen Titel "Umsiedlung der Juden aus Ungarn.



Die Ausstellung schildert an Schicksalen, was es bedeutete, als Sklavenarbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie schuften zu müssen.



Das satirisch gemeinte "Gesellschaftsspiel" aus der Allgemeinen Jüdischen Illustrierten vom Juni 1951 zeigt, welche Hürden zur Erlangung von Anerkennung und Wiedergutmachung zu überwinden sind, um am Ende nach dem Motto "Gib auf. Schicksalsbedingte Schäden haben keinen Anspruch auf Rente" rüde auf den Ausgangspunkt verwiesen zu werden. (Fotos/Repros: Caspar)

Das Deutsche Historische Museum dokumentiert in der neuen Ausstellung "Deportiert nach Auschwitz - Sheindi Ehrenwalds Aufzeichnungen", wie die Deutschen 1944/45 im besetzten Ungarn gehaust und große Teile der jüdischen Bevölkerung ausgerottet haben. Im Mittelpunkt der in Zusammenarbeit mit der BILD Zeitung und der Axel Springer SE gestalteten Dokumentation stehen 1944/45 von dem vierzehnjährigen Mädchen Sheindi Ehrenwald heimlich geschriebene Tagebuchaufzeichnungen, ergänzt und kommentiert durch Schrifttafeln, Bilder, Plakate, Videos und andere Objekte. Die kurz vor dem 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee eröffnete Sonderschau erinnert daran, dass deutsche Truppen am 19. März 1944 Ungarn besetzt haben. Sie sollten einem von der Naziführung als möglich erachteten Seitenwechsel des mit dem Deutschen Reich verbündeten Horthy-Regimes vorbeugen. Im Frühjahr 1943 war der italienische Mussolini von den eigenen Leuten entmachtet worden. Nach der Landung der Alliierten Anfang Juli 1943 auf Sizilien gab es in Italien einen Stimmungsumschwung, und das Deutsche Reich hatte einen Verbündeten weniger. Ungarn sollte kein "zweites Italien" werden.

"Unternehmen Margarethe"

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn veränderte sich schlagartig die Lage der jüdischen Bevölkerung. Ihre Zahl wurde im Protokoll zur Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 über die "Endlösung der Judenfrage" mit742 000 angegeben. Jetzt kam auch die in wohlhabenden Verhältnissen in der Kleinstadt Galánta lebende Familie von Sheindi Ehrenwald in Bedrängnis. Wie andere Juden musste auch sie den gelben Stern tragen, wurde verhaftet und kam in ein Ghetto, wohl mit der Hoffnung, dass es nicht so schlimm werden wird, denn die Propaganda sprach euphemistisch von Umsiedlung und Arbeitseinsätzen. Tatsächlich haben unter Leitung von Adolf Eichmann SS-Einheiten und Gestapo mit Unterstützung der ungarischen Gendarmerie und der faschistischen Pfeilkreuzler im Rahmen des "Unternehmens Margarethe" Jagd auf Juden gemacht, sie zu Sammelstellen gebracht und von dort in Viehwaggons der Deutschen Reichsbahn nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager verschleppt. Den Massendeportationen fielen über eine halbe Million ungarische Juden zum Opfer. Wer "Glück" hatte, musste unter unmenschlichen Bedingungen Sklavenarbeit in der Rüstungsindustrie verrichten und blieb ausgehungert und geschwächt am Leben. Viele Menschchen, die die Befreiung erlebt haben, haben nie oder sehr verspätet über ihre traumatischen Erlebnisse gesprochen. Sheindi Ehrenwald war da keine Ausnahme.

Sheindi Ehrenwald begann ihr Tagebuch mit dem Eintrag "Die Deutschen sind einmarschiert, wir sind verloren" und schrieb seit dem Tag der Besetzung auf, wie sie die Ausgrenzung, Entrechtung, Hilflosigkeit und diese schreckliche Angst erlebte, was sie angesichts des Elends und der dachte und der ungewissen Zukunft fühlte. Indem sie sich ihrem Tagebuch anvertraute, verschaffte sie sich ein wenig Erleichterung, vergleichbar vielleicht mit dem, was Anne Frank in ihrem Amsterdamer Versteck aufschrieb. Während die SS Sheindis Großeltern, Eltern und Geschwister ermordete, mussten sie und ihre Schwester in einem Rüstungsbetrieb Zwangsarbeit leisten und überlebte als so genannter Depothäftling ohne eintätowierte Nummer wie durch ein Wunder den Holocaust. Das Mädchen schrieb in engen Zeilen seine Beobachtungen und Gedanken heimlich auf Papier und die Rückseiten von insgesamt 54 weggeworfenen Karteikarten, die sie in der Fabrik aufgesammelt hatte. Mit der Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau brechen die Notizen ab. Sheindi hat ihre aus 54 Blättern bestehenden Aufzeichnungen durch alle Stationen ihrer Leiden wie einen Schatz gehütet und nach der Befreiung bei sich behalten.

Von der Rampe bis zur Gaskammer

Die junge Frau ging dann für vier Jahre in ihre Heimat zurück und wurde dort missmutig bis feindlich aufgenommen. Sie heiratete später Emil Müller (Miller) und ging mit ihm 1949 nach Israel. Dort lagen die Aufzeichnungen unbeachtet in einem Küchenschrank, bis ein Freund der Familie ihren historischen Wert erkannte und sich mit der BILD-Zeitung in Verbindung setzte, die ihrerseits das Deutsche Historische Museum kontaktierte. So kam diese einzigartige Ausstellung über das Schicksal der ungarischen Juden vor und nach dem Holocaust zustande. Zu sehen ist dort an einem Monitor das verharmlosend "Umsiedlung der Juden aus Ungarn" genannte Auschwitz-Album mit Fotos, die SS-Leute von den Gefangenen von der Ankunft an der Rampe bis zu dem Moment gemacht haben, wo sie nichtsahnend in das Gas geschickt werden. Eine Bild- und Schrifttafel in der Ausstellung berichtet, dass die Gaskammern in den Krematorien II und III unterirdisch angelegt waren und die ermordeten Menschen mit Aufzügen nach oben zu den Verbrennungsöfen gebracht wurden. Die technischen Vorlagen für die Aufzüge der Erfurter Firma Linse stammten aus Schlachthöfen. Andere Tafeln zeigen SS-Leute, die die Mordtaten leiteten. Es wird an anderer Stelle berichtet, dass den Überlebenden vielfach die Anerkennung ihrer Leiden sowie Entschädigungen verweigert wurden. Zu sehen ist auch in Form einer Karikatur eine Art Würfelspiel über das entwürdigende Hin und Her bei den Versuchen der Opfer und ihrer Familien, einen Ausgleich für ihre Leiden zu erlangen.

Eine Frage bei der Pressekonferenz, wie das heutige Ungarn zur Kollaboration von damaligen Polizisten und Pfeilkreuzlern mit dem Naziregime steht, wurde mit beredtem Schweigen übergangen. Da die eigene faschistische Vergangenheit in Ungarn kaum aufgearbeitet wurde, ist es rechten Kräften und nationalistischen Kräften möglich, jede Schuld an der Ermordung der ungarischen Juden von sich zu weisen und einzig und allein den Deutschen in die Schuhe zu schieben. Zwar wurde der der mit den Deutschen kollaborierende Pfeilkreuz-Führer Ferenc Szálas 1946 öffentlich erhängt, aber viele seiner Mordgesellen konnten untertauchen oder ins Ausland fliehen.

Roman eines Schicksallosen

Antisemitismus gab es in Ungarn schon vor Horthy und Szálas. 1920 wurden dort die ersten antisemitischen Gesetze erlassen, als sie im übrigen Europa noch nicht aktuell waren. In den Jahren 1938, 1939 und 1941 verabschiedete Gesetze lehnten sich an die Nürnberger Rassegesetze von 1935 an. Adolf Eichmanns Sonderkommando bestand nur aus rund 60 Personen, die Drecksarbeit überließ er ungarischen Helfern. Dazu bemerkte der Historiker Götz Aly: "Tatsächlich war es für Veesenmayer [Edmund Veesenmayer, SS- Brigadeführer und Bevollmächtigter des Großdeutschen Reichs in Ungarn, H. C.] und Eichmann ein Leichtes, die Radikalisierung der antijüdischen Politik mit einigen zielgerichteten Anregungen, Maßnahmen und personellen Umbesetzungen einzuleiten oder zu fördern. Aus der Perspektive der Opfer traten habsüchtige magyarische Beamte, Nachbarn oder Mitbürger auf den Plan, die ihnen die letzten Habseligkeiten vom Leib rissen, sie körperlich durchsuchten." Die den Holocaust überlebt haben, versuchten, in ihre Heimat zu gelangen, wo sie vielfach erneut antisemitischen Anfeindungen und Ausgrenzung ausgesetzt. Auch dies wird in der sehenswerten Schau dokumentiert.

Der ungarische Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész hat in seinem "Roman eines Schicksallosen" die Erlebnisse eines Fünfzehnjährigen in Auschwitz-Birkenau, in Buchenwald und Zeitz geschildert. Das Buch baut auf seinen eigenen Erfahrungen als Heranwachsender in der Nazihölle. Die Familie und Freunde erleben, wie in dem von den Deutschen im März 1944 besetzten Land brutale Jagd auf sie und die vielen anderen Juden unter Leitung von Adolf Eichmann macht, und hoffen, davon verschont zu werden. Das Sondereinsatzkommando Eichmann war eine Spezialeinheit der SS. Ihr Auftrag war es, "die ungarischen Juden aus dem öffentlichen Leben auszuschalten und zu konzentrieren, danach zu deportieren und sie mit Ausnahme der voll Arbeitsfähigen zu vernichten." Am 31. März 1944 wurde ungarischen Juden das Tragen des gelben Judensterns befohlen. György muss seine Schule verlassen und wird zur Zwangsarbeit in einem ungarischen Rüstungsbetrieb abkommandiert. Als Inhaber eines besonderen Ausweises, der ihn als wichtig für die Kriegsproduktion deklariert, ist er nicht sicher, denn er wird mit anderen aus dem Fabrikbus geholt und bald darauf in der Eisenbahn nach Auschwitz-Birkenau transportiert. Eine ungarisch-deutsche Vereinbarung hatte zunächst vorgesehen, dass 100.000 arbeitsfähige Juden in deutsche Fabriken geschickt werden. Doch hat die deutsche Seite den Plan dahingehend geändert, dass die gesamte jüdische Bevölkerung in die Konzentrationslager gebracht wird, wo über ihr weiteres Schicksal entschieden werden sollte. Das allerdings stand schon fest, als Anfang 1942 in einer Villa am Großen Wannsee von Bürokraten des Todes festgelegt wurde, dass die "Endlösung" nur den Tod von Millionen Juden quer durch Europa bedeuten wird.

"Endlösung der Judenfrage"

In dem Geheimprotokoll ist eingangs von der "Zurückdrängung der Juden aus dem Lebensraum des deutschen Volkes" und davon die Rede, das hunderttausende Juden "zur Auswanderung gebracht" wurden, worunter die zwangsweise Deportation mit dem Ziel der Ermordung verstanden wurde. In Eichmanns Mitschrift heißt es weiter, nach dem Verbot der "Auswanderung" von Juden sei nach Kriegesbeginn, "als weitere Lösungsmöglichkeit die Evakuierung nach entsprechender Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten. Diese Aktionen sind jedoch lediglich als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen, doch werden hier bereits jene praktischen Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind. Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund elf Millionen Juden in Betracht". Das bedeutete nichts anderes, als dass elf Millionen Menschen ermordet werden sollten, eine Zahl, die zum Leidwesen der Naziführung nur zur Hälfte erreicht wurde. Historiker gehen davon aus, dass fünf bis sechs Millionen Menschen dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen. Wie Eichmann vor dem Gericht in Jerusalem erklärte, sei während der Besprechung in unverblümten Worten von Töten, Eliminieren und Vernichten gesprochen worden, das Protokoll vermeidet allerdings diese Begriffe.

Parallel zu der Ausstellung entstand der von den BILD-Reportern Peter Hell und Christian Wahl geschaffene Dokumentarfilm "Sheindi's Diary", in dem die heute 90jährige Frau aus ihrem Leben erzählt und die Tagebuchblätter zeigt. Die Schauspielerinnen Iris Berben und Lea van Acken sowie ihr Kollege Christian Berkel sprechen die Texte und zitieren aus dem Tagebuch, das aus "54 Seiten Hoffnung" bezeichnet wird. "Die Männer beten, der ganze Wagon weint. Ein Offizier will eine Frau erschießen. Wir schreien alle vor Angst. Wo sind wir? Wir müssen uns ausziehen, sind ganz rot vor Scham. Dazwischen lachende Männer. Ich sehe Dr. Mengele. Ein SS-Mann sagt: ,Jetzt werden deine Eltern verbrannt.' Ich wundere mich, wie ich dieses Tagebuch schreiben konnte. Ich habe es ganz klein zerknüllt unter dem Stroh versteckt. Ich will nicht, dass man die Menschen vergisst, die alle starben", heißt es in dem Video. Dieses und die Aufzeichnungen von Sheindi Miller-Ehrenwald sind erschütternde Zeitdokumente, von denen sich die Ausstellungsgestalter und Filmemacher erhoffen, dass sie die Besucher und Betrachter aufrütteln, alles zu tun, dass sich die Verbrechen vor über 75 Jahren nicht wiederholen.

24. Januar 2020

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