Erbauliches, Schauerliches, Schönes
Theodor Fontane setzte den Neuruppiner Bilderbogen ein bemerkenswertes literarisches Denkmal



Das Museum in der Neurupiner August-Bebel-Straße 14/15 bewahrt unter anderem Bilderbogen von Gustav Kühn und zwei weiteren Verlagen und solche aus anderen Gegenden auf.





Neuruppin ehrte Theodor Fontane mit einem eindrucksvollen Denkmal aus Bronze, die DDR und die Bundesrepublik tat das gleiche 1966 und 1969 silbernen Gedenkmünzen mit den Köpfen von Schinkel und Fontane.





Friedlich geht es bei der Königsparade Unter den Linden in Berlin zu. Der Bilderbogen darunter schildert, wie in der Märzrevolution 1848 preußisches Militär aufbegehrende Berliner zusammenschießt. .



Der künstlerische und gesellschaftliche Wert der Bilderbogen ist sehr unterschiedlich. Manche Darstellungen sind trotz der damaligen Massenauflage nur noch als Einzelstücke vorhanden. Von diesem Blatt mit dem berühmten, von Leonardo da Vinci gemalten Abendmahl, gibt es in der Neuruppiner Museumssammlung vier Versionen.



Die Bilderbogen sind sehr spezielle Zeitdokumente, auch wenn sie mitunter nur einen Teil der für viele Menschen sehr traurigen Wirklichkeit abbilden, ja sie verkitschen und verniedlichen, wie das biedermeierlich anmutende Werben schöner Menschen umeinander zeigt.



Mit bunten Beschäftigungs- oder Ausschneidebögen konnten sich Kinder ihre eigene Welt zusammenbasteln.



Mit zahlreichen Bildergeschichten befriedigten Gustav Kühn und die anderen Neuruppiner Verlage die Neugier des Publikums nach Ereignissen im Hause Hohenzollern und in anderen Herrscherfamilien, hier ein Mordanschlag von 1850 in Potsdam auf König Friedrich Wilhelm IV.



Sogar lokale Ereignisse wie ein Gartenkonzert in dem mit vielen Figuren geschmückten Tempelgarten in Neuruppin war 1884 der Druck eines Bilderbogens wert. (Fotos/Repros: Caspar)

Was heute Fernsehen, Kino, Internet und soziale Medien sind, waren seit Erfindung der Buchdruckerkunst oft mit Holzschnitten geschmückte Flugschriften und Pamphlete. Große und kleine Druckereien und zahllose, meist unbekannte Autoren und Illustratoren versahen die Menschen mit Informationen und Bildern. Verkäufer zogen zu Fuß über das Land und boten die Blätter und Hefte für ein paar Pfennige auf Jahrmärkten an. Schaulustige und Wissbegierige versammelten sich um sie und vernahmen allerhand Schauriges, Abenteuerliches, Schönes und Erbauliches und sahen zu den wahren und erfundenen Geschichten die passenden Bilder.

Die Drucksachen waren zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt, kaum jemand hielt sie für würdig, aufgehoben zu werden. Heute sind Museen und Bibliotheken glücklich, wenn sie die auf billigem Papier gedruckten, daher auch fragilen Hinterlassenschaften ihr eigen nennen können. Da sie viel über alte Zeiten erzählen, und zwar auch über Lebens- und Denkweisen, die in üblichen Dokumenten nicht geschildert werden, sind die Drucke, aber auch Zeitschriften und Zeitungen herausragende Geschichtsquellen, die man in Bibliotheken, nach und nach auch im Internet einsehen kann. Kurz vor Weihnachten 2021 wurde bekannt, dass die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB), eine von Bund und Ländern finanzierte virtuelle Bibliothek, 4,5 Millionen Zeitungsseiten aus 600.000 historischen Ausgaben deutschsprachiger Printmedien zwischen 1761 und 1950 im Internet zugänglich gemacht hat (siehe https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper). Die Seiten lassen sich nach Stichwörtern durchforsten, man kann in ihnen aber auch nach selbst gewählten Kriterien suchen.

Steindruck erlaubte massenhafte Produktion

Die per Holzschnitt oder Kupfertiefdruck nach gezeichneten oder gemalten Vorlagen bekannter und unbekannter Künstler geschaffenen Bilder waren teuer und erlebten relativ geringe Auflagen. Da kam der um 1797 von Alois Senefelder erfundene Steindruck, auch Lithographie genannt, zu Hilfe. Dieses Vervielfältigungsverfahren erlaubte massenhaften Druck in gleichbleibender Qualität. Nach und nach lernte man auch, die Seiten mit Hilfe von Schablonen zu kolorieren, also farbige Bilder herzustellen. Bald schon war es möglich, von Gemälden oder auch tagesaktuellen Ereignissen Mehrfarbendrucke herzustellen, ebenso nahezu täuschend echt wirkende Reproduktionen von Gemälden. Viele Kunstdrucke waren von zweifelhaftem Kunst- und Informationswert, wenn wir an patriotische Heldenbilder, kitschige Heimatmotive oder süßliche Geschichten aus der Bibel denken, die viele Wohnzimmer schmückten.

Drei Verlage, die sich glänzend auf schnell und billig gemachte, populäre Bildergeschichten verstanden, hatte ihren Sitz in Neuruppin, der Heimatstadt des bedeutenden Architekten Karl Friedrich Schinkel und des Schriftstellers Theodor Fontane. Ziemlich zu Beginn seiner "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" setzte Fontane den Verlegern Gustav Kühn, Oehmigke & Riemschneider und F.C. Bergemann und ihren in alle Welt verschickten Neuruppiner Bilderbogen ein bemerkenswertes literarisches Denkmal. Die preußische Garnisonstadt war im 19. Jahrhundert zum bedeutendsten Zentrum des damals beliebten Massenmediums in Deutschland avanciert und erhielt durch Fontanes Beschreibung eine Art literarischen Adel. In den Druckereien und Kolorierstuben der Firmen wurden zwischen 1810 und 1935 mehr als 20.000 Drucke in einer Millionenauflage produziert. Das Neuruppiner Museum besitzt mit über 12.000 Blättern die größte deutsche Sammlung dieser populären Druckgrafik. Die Ausstellung in einem Bürgerhaus in der August-Bebel-Straße 14/15 würdigt nicht nur Leben und Werk von Schinkel und Fontane und schildert die ereignisreiche Geschichte der 1788 durch einen verheerenden Brand fast ganz vernichteten und danach wieder auf einem neuartigen Grundriss aufgebauten Stadt, sondern präsentiert auch in einer Auswahl die von hier in die Welt verschickten Bilderbogen.

Das merkwürdige Jahr 1848/49

Obwohl in Massenauflage je nach Motiv und Ereignis zwischen mehreren tausend bis mehrere Millionen Exemplaren hergestellt, sind viele Drucke heute sehr selten. Sie waren zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt, und wenn man sie nicht mehr brauchte oder ein Ereignis im öffentlichen Bewusstsein durch ein anderes verdrängt war, verwendete man sie zum Einwickeln von Fischen oder zum Anzünden von Feier, bestenfalls aber man sie beiseite und vergaß sie, bis man sie neu entdeckte. Wie einer Broschüre des Neuruppiner Heimatmuseums von 1984 zu entnehmen ist, bekam es immer wieder Exemplare aus Betriebsarchiven und von Sammlern, und es machte immer wieder durch Ausstellungen auf diesen besonderen Schatz aufmerksam, der auch durch Bücher im Eulenspiegel-Verlag Berlin weithin bekannt wurde.

Neben manchen Sujets, die uns heute als verstaubt und kitschig, wie in rosarote Farben getaucht erscheinen, gibt es realistische, detailgetreu gezeichnete und kolorierte Bogen, die viele Informationen über die die Leute von damals aufwühlende Ereignisse, aber auch über die Lebensumstände im 19. und frühen 20. Jahrhunderts vermitteln. Manche Verse und Spruchweisheiten haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren. Schauen wir uns die Bilderbogen genauer an, dann erkennt man solche mit religiösen, historischen und allgemein "moralischen" Motiven, wie man damals sagte, aber auch mit tagesaktuellen Themen sowie dazu passenden kurzen Texten. Es gibt überdies Bilderbogen zu Themen wie Liebe und Leid, Ehe und Familie, Leben und Tod. Da Gustav Kühn ein königstreuer Mann und Neuruppin eine durch und durch preußische Stadt war, stechen auch preußische Motive heraus, darunter Ereignisse aus den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815, aus der Revolution "im merkwürdigen Jahr 1848/49", die mit einer knapp hundertteiligen Bilderserie gewürdigt wurde. Hinzu kamen die Kriege von 1864, 1866 und 1870/71, die zur deutschen Einigung von 1871 führten.

Beliebt waren Porträts von Herrscherfamilien und Bilder aus fernen Ländern sowie Naturschauspiele, Brandkatastrophen und politische Attentate. Als sich das Deutsche Reich Kolonien zulegte, haben Neuruppiner Bilderbogen den Landraub und Völkermord bunt untermalt. Geld kam auch mit so genannten Beschäftigungsbögen herein, mit denen sich Kinder eine schöne Welt zusammen basteln konnten. Sie ließen überdies ausgeschnittene Papiersoldaten paradieren und erfreuten sich an bunten Weihnachtskrippen, Kaufmannsläden und Bauernhöfen. Solche Drucke waren es, die die drei unterschiedlich großen Verlage am Leben hielten. Denn nach und nach kamen die "normalen" Bilderbogen aus der Mode und wurden durch illustrierte Zeitungen und Zeitschriften abgelöst.

Begründer der Bilderbogen war der Neuruppiner Buchdrucker Johann Bernhard Kühn. Seine ersten, noch als Holzschnitte gedruckten Blätter entstanden vor 1800. Sein zeichnerisch begabter Sohn Gustav Kühn absolvierte während der Befreiungskriege in Berlin eine Ausbildung für Holzschnitt sowie Stahl- und Kupferstich. 1819 trat er als Teilhaber in das Unternehmen des Vaters ein und leitete es von 1822 an beinahe 40 Jahre lang. Kühn war sowohl als Kaufmann wie auch als Grafiker mit einem Gespür für Motive erfolgreich, die gerade aktuell diskutiert und gefragt waren. Viele seiner Bilderbogen zeichnete er selbst und versah sie mit eigenen Texten und Gedichten - immer königstreu und als Verfechter von Ordnung und Moral. Indem er seine Blätter selber gestaltete, sparte er sich das Honorar für andere Grafiker, das mit etwa zwei Talern pro Nummer nicht gerade üppig war und in Berlin den Gegenwert einer Flasche Champagner entsprach.

Wenige Pfennige, viele Taler

Gustav Kühn schaffte 1825 eine Lithografiepresse an, mit der er seine Produktion deutlich steigern und profitabler machen konnte. Die Beschäftigung von Schulkindern mit der farbigen Ausmalung der schwarz-weiß-gedruckten Seiten mit Hilfe von Schablonen wirft einen dunklen Schatten auf Kühn und die anderen Verlage. Kinderarbeit war eigentlich verboten, aber es fanden sich Gerichte, die sie in engen Grenzen erlaubten. Niemand zählt die Tränen, die die zum Zuverdienst ihre armen Familien verurteilten Jungen und Mädchen beim monotonen Auspinseln der Bilderbogen geweint haben. Sie bekamen einen schäbigen Tageslohn von wenigen Pfennigen während der Prinzipal viele harte Taler scheffelte. Fontane, der sonst so aufmerksam seine Zeit und Umgebung studierte, hat dies nicht wahrgenommen, sondern nur erkannt, dass die Neuruppiner Offizin clever, wie wir heute sagen würden, auf alles reagierte, "was obenauf schwimmt, was das eigentliche Tagesinteresse bildet." Er, Fontane, habe Personen mit sichtlichem Interesse vor diesen Bildern verweilen sehen."

Ob der sonst so hellsichtige und zeitkritische Autor im Falle der Kinderarbeit bei Gustav Kühn und seinen Kollegen absichtlich weggeschaut hat oder weil ihm die eigentliche, praktische Produktion der Bilderbogen nicht wichtig genug erschien, müsste die Fontane- und Bilderbogen-Forschung klären. Er stellte in den "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" nach einem Blick auf das bescheidene Geschäftshaus von Gustav Kühn mitten in Neuruppin in bester Kenntnis aus seinen Jahren in England einen Vergleich zwischen dem Ruhm der Weltblatt genannten "Times" und dem an, was stets am unteren Bilderrand mit "bei Gustav Kühn in Neu-Ruppin" gezeichnet wurde und auch in abgelegenen Gegenden zu finden war. Fontane sieht in ihnen " dünne Faden, durch den weite Strecken unsrer eignen Heimat, lithauische Dörfer und masurische Hütten und Weiler mit der Welt da draußen zusammenhängen". Mit anderen Worten stellten die Drucke Verbindungslinien von der märkischen Provinz in die weite Welt dar. "Lange bevor die erste ‚Illustrierte Zeitung' in die Welt ging, illustrierte der Kühnsche Bilderbogen die Tagesgeschichte, und was die Hauptsache war, diese Illustration hinkte nicht langsam nach, sondern folgte den Ereignissen auf dem Fuße. Kaum, dass die Trancheen vor Antwerpen eröffnet waren, so flogen in den Druck- und Kolorierstuben zu Neu-Ruppin die Bomben und Granaten durch die Luft; kaum war Paskewitsch in Warschau eingezogen, so breitete sich das Schlachtfeld von Ostrolenka mit grünen Uniformen und polnischen Pelzmützen vor dem erstaunten Blick der Menge aus, und tief sind meinem Gedächtnisse die Dänen eingeprägt, die in zinnoberroten Röcken vor dem Danewerk lagen, während die preußischen Garden in Blau auf Schleswig und Schloß Gottorp losrückten", fügte Fontane mit Blick auf militärische Zeitereignisse hinzu.

Recherche in Museumsdatenbank

Mitte der 1990er Jahre erwarb das Museum Neuruppin mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder eine umfangreiche private Bilderbogen-Sammlung und konnte so seine Bestände erheblich erweitern. Neben einer großen Zahl Bilderbogen Neuruppiner Provenienz kamen nun auch Blätter aus ganz Europa hinzu, die eine vergleichende Perspektive auf das Thema und seine Einordnung in internationale Kontexte ermöglichen. Das Bilderbogenarchiv des Museums erlaubte die Einrichtung eines Dokumentationszentrums, das bis heute wissenschaftliche Anfragen und Forschungsvorhaben begleitet und zahlreiche Sonderausstellungen unterstützt. Um seine Bilderbogen angemessen und attraktiv präsentieren zu können, wurde das Museum saniert und durch einen modernen Ausstellungstrakt erweitert, wo die lichtchtempfindlichen Grafiken angemessen gezeigt werden können. Außerdem wurden alle Bilderbogen erfasst. Die Datenbank museum-digital:brandenburg erleichtert den Zugriff und die Recherche. Schließlich wurden die alten Blätter in alterungsbeständige und säurefreie Mappen und Kartonagen gelegt. Das alles ist eine Aufgabe, die nicht von heute auf morgen bewältigt werden kann. Da die Restaurierung der Blätter pro Stück 150 bis 200 Euro kostet und dies vom Museum Neuruppin nicht allein bewältigt werden kann, bittet die Kulturstiftung der Länder um Hilfe. Jeder Euro zählt.

23. Dezember 2021

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