Steinerne Chronik sagt nicht alles
Historischer Bilderfries aus Terrakottareliefs am Roten Rathaus in Berlin verklärt Stadt- und Landesgeschichte



Von 1866 bis 1871 war das Berliner Rathaus nach Plänen von Hermann Friedrich Waesemann anstelle eines Konglomerats älterer Verwaltungsbauten errichtet, links eine Darstellung aus dem 18. Jahrhundert.



Die weitläufige Vierflügelanlage mit drei Höfen ist im Stil der italienischen Frührenaissance gestaltet. Der 97 Meter hohe Turm hebt die Bedeutung des Roten Rathauses auch gegenüber dem Schloss hervor, das bis zum Abbruch 1950 die Silhouette der Stadt dominierte.





Die zeitliche Spanne der Steinernen Chronik reicht von der so genannten Christianisierung der Mark Brandenburg im hohen Mittelalter und der Stadtgründung bis zum Industriezeitalter, in dem Berlin deutsche Reichshauptstadt wurde und sich auf dem Weg zu einer Weltmetropole machte. Gießer, Schmiede, Dreher und Handwerker sind auf diesem Relief mit der Herstellung von Metallerzeugnissen befasst dabei. Die sozialen Gegensätze in Berlin und das das Elend in den Arbeiterbezirken blenden die Reliefs aus.





Szenen aus der Zeit der Kriege gegen Frankreich und der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 sind auf der Vorderfront des Roten Rathauses gut zu erkennen. Oben verkündet Friedrich Wilhelm III. mit der Königin Luise an der Seite preußische Reformen, darunter kommt die von den Franzosen geraubte Quadriga vom Brandenburger Tor 1814 nach Berlin zurück.





Friedrich II. lässt sich eine Prunkvase der von ihm gegründeten Königlichen Porzellanmanufaktur zeigen, darunter Friedrich Wilhelm IV. erteilt Künstlern Aufträge. Zu erkennen sind der Architekt Stüler und der Bildhauer Daniel Rauch.



Das Rote Rathaus wurde im Zweiten Weltkrieg wie die ganze Innenstadt durch Bombenangriffe stark geschädigt und wurde als Sitz des Ostberliner Magistrats wieder aufgebaut. Dazu gehörte auch die Restaurierung und Ergänzung der Reliefs. Hier verflucht eine Frau auf einer von Hanfritz Werner geschaffenen Tafel einen Räuber und Mörder.



Das dreigeteilte Wappen über dem Portal des Roten Rathauses zeigt den Berliner Bären noch mit einem Hals- oder Gängelband. Dieses Relikt aus uralten Zeiten wurde nach der Reichsgründung von 1871 abgeschafft. Die Reichshauptstadt unterstrich damit ihre Unabhängigkeit von der preußischen und Reichskrone.(Fotos/Repro: Caspar)

Um das Rote Rathaus in der Mitte Berlins zieht sich ein Bilderfries, auf dem Stationen der Stadtgeschichte dargestellt sind. Die Terrakottaplatten sind wie ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch gestaltet, doch kann man nicht alles für bare Münze nehmen, denn die "Steinerne Chronik" ist ein Spiegelbild ihrer Entstehungszeit nach 1871. Offiziell heißt der Sitz des Regierenden Bürgermeisters und des Senats Berliner Rathaus, doch hat sich der volkstümliche Name "Rotes Rathaus" für das riesige Verwaltungsgebäude mit dem hohen Uhrenturm eingebürgert. Er bezieht sich nicht auf die Politik, die dort zurzeit von der rot-roten Koalition aus SPD und PDS gemacht wird, sondern auf die dunkelrote Farbe des für den Bau verwendeten und im 19. Jahrhundert beliebten unverputzten Backsteins, der überall in der Stadt an Kirchen, Schulen, Fabriken und anderen Bauten vertreten ist. Schon bald nach seiner Fertigstellung erwies sich das Rote Rathaus als zu klein, weshalb um 1900 in der Nähe das Stadthaus ebenfalls mit einem mächtigen, Turm errichtet wurde.

Dass Skulpturen und Inschriften an öffentlichen Gebäuden an Bauherren und historische Ereignisse hinweisen, ist nichts Ungewöhnliches. In Berlin findet man auf Schritt und Tritt solche Bilder und Widmungen, mit denen die Bauwerke gleichsam geadelt wurden. Auch der aus 36 Tafeln bestehende Bilderfries aus roten Terrakottaplatten rund um das Rote Rathaus wurde 1876 bis 1879 in spätklassizistischen Formen als eine Art steinerne Chronik angebracht. Dargestellt sind Episoden von der Frühzeit der Stadt bis zur Reichsgründung im Jahre 1871. Auf den von den Bildhauern Ludwig Brodwolf, Alexander Calandrelli, Otto Geyer und Rudolf Schweinitz gestalteten Reliefs in den Maßen sechs mal ein Meter erscheinen Bürger, Handwerker, Ritter, Fürsten, Soldaten, Gelehrte, Künstler und viele andere Personen. In der Regel sind es Männer, die hier posieren, Frauen spielen als Staffage eine untergeordnete Rolle, weil man ihnen nur eine dienende und duldende Rolle zubilligte. Eine Ausnahme bilden die beiden Königinnen Sophie Charlotte und Luise, die im frühen 18. und 19. Jahrhundert neben ihren Männern agieren und eine gute Figur machen.

Begeistert für König und Vaterland

Die Botschaft der kunstreich gestalteten Bildergeschichte lautet, dass die Stadt von weitblickenden, menschenfreundlichen Monarchen gemeinsam mit fleißigen und wagemutigen Bürgern gegründet und fortentwickelt wurde. Zu sehen ist, wie sie sich bösartiger Angriffe durch Raubritter erwehren, erfolgreich im Handwerk und Handel tätig sind, für Ruhe und Ordnung sorgen, die Gesetze achten und Verbrecher dingfest machen und sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts begeistert hinter König Friedrich Wilhelm III. stellen, um in den Befreiungskriegen gegen das napoleonische Frankreich den alten Glanz der preußischen Monarchie wiederherzustellen. Die das 18. und 19. Jahrhundert betreffenden Reliefs zeigen Künstler, die unter der Schirmherrschaft der Hohenzollern herrliche Werke schaffen, und Fabrikarbeiter, die Metall gießen, schmieden und bearbeiten.

Die Chronik vermittelt ein Bild friedlichen Zusammenlebens, doch entsprach das nicht ganz den Tatsachen. Denn natürlich gab es immer Konflikte zwischen den Bewohner der Doppelstadt Berlin-Cölln und ihren machtlüsternen, unumschränkt regierenden Landesherren. Diese Bilder klammern aus, dass aufsässige Bewohner vors Gericht kamen und an den Pranger gestellt wurden. Vergeblich sucht man nach dem "Berliner Unwillen", einem Aufruhr der Bewohner Mitte des 15. Jahrhunderts gegen die Machtgelüste der Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern. Selbstverständlich gedenkt die Steinerne Chronik auch nicht der zu allem entschlossenen Barrikadenkämpfer im Revolutionsjahr 1848.

Geschönte Szenen aus dem Alltag

Themen des genrehaft angelegten, ganz auf Harmonie orientierten Bilderfrieses sind unter anderem die Erteilung des Stadtrechts für Berlin und Cölln durch die brandenburgischen Markgrafen, geschönte Szenen aus dem wahrlich nicht leichten Alltag der Handwerker und Tagelöhner und vom Treiben auf den Märkten und in Gasthäusern. Sodann blickt man auf das Schulwesen und erlebt die Aufnahme der wegen ihres Glaubens aus Frankreich vertriebenen Hugenotten im ausgehenden 17. Jahrhundert. Als große Leistung der Hohenzollern und wichtig für die Entwicklung der Stadt und des Landes werden die Gründung der Akademie der Wissenschaften und die Förderung der Künste und des Manufakturwesens im 18. Jahrhundert durch die Hohenzollern gefeiert. Natürlich wird auch die Volkerhebung gegen das napoleonische Frankreich gehörig ins Bild gerückt. Sie war eine Bewegung von unten nach oben, die Friedrich Wilhelm III. mit Unbehagen betrachtete und an deren Spitze er sich 1813 nur unwillig und der Not gehorchend stellte. Die Steinerne Chronik aber macht glauben, als sei der Monarch Initiator und Motor dieser Entwicklung gewesen, in der sich Preußen zu Reformen aufschwang, die bis dahin undenkbar waren.

Selbstverständlich spielt das 19. Jahrhundert, das wir auch als Periode der industriellen Revolution und der gesellschaftlichen Umbrüche kennen, in der Steinernen Chronik eine große Rolle. Der Bilderfries vermittelt den Eindruck von Harmonie zwischen den Königen und dem Volk und lässt nicht erkennen, dass es unter der glänzenden Oberfläche in der Haupt- und Residenzstadt Berlin brodelte und es hier schreiende Gegensätze zwischen Oben und Unten, Reich und Arm, Adel und Bürgertum, Militär und Zivilgesellschaft gab, die sich immer wieder in gewaltsamen Zusammenstößen mit der Obrigkeit Bahn brachen und deren brutalen Gegenmaßnahmen führten. Auf dem Schlussstein ist zu sehen, wie ein Zeitungsjunge in Berlin die Nachricht von der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. am 18. Januar 1871 in Versailles zum deutschen Kaiser verbreitet. Glücklich stoßen ein Preuße, ein Bayer und ein Sachse auf die deutsche Einheit an, während patriotische Berliner den Kaiseradler bekränzen. Auch bei dieser friedlich anmutenden Darstellung wird übersehen, dass die Bildung des Deutschen Reichs unter den Fittichen des preußischen Adlers Ergebnis eines Krieges gegen Frankreich war und nicht ohne Konflikte verlief.

Wenn man sich ein wenig Zeit nimmt, erkennt man zahlreiche in Ton geformte historische Persönlichkeiten. Neben Angehörigen des hohenzollernschen Herrscherhauses ist auch das geistige und politische Berlin auf den Reliefs reichlich vertreten. Gezeigt wird, wie sich der erste Preußenkönig Friedrich I. das Modell des Reiterdenkmals seines Vaters, des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, anschaut, oder man sieht, wie Friedrich Wilhelm III. und seine Gemahlin Luise, auf dem Thron sitzend, die Städteordnung von 1808 entgegen nehmen. Auf weiteren Platten erkennt man den Freiherrn vom Stein und den Staatskanzler von Hardenberg, den Turnvater Jahn und den Prediger der deutschen Einheit Ernst Moritz Arndt. Dazu kommen Künstler wie Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch oder die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, die in Berlin das "Deutsche Wörterbuch" verfassten und sich einen Namen als Sammler von Märchen und Sagen machten. Dass auf der Steinernen Chronik brisante, aber für die Lokal- und Nationalgeschichte wichtige Ereignisse wie die Revolution von 1848/9 ausgeklammert sind, passt in die monarchistische Geschichtspropaganda der Kaiserzeit, in der man sich ungern daran erinnerte, dass in jenen turbulenten Jahren Kronen und Throne wankten.

Zerstört und wieder aufgebaut

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Rote Rathaus zum Teil stark beschädigt. Neun Platten der "Steinernen Chronik" waren zerstört und wurden beim Wiederaufbau in den fünfziger Jahren von den Bildhauern Richard Schnauder und Hansfritz Werner nach alten Vorlagen neu geschaffen. Diese Zutaten können bei genauem Hinsehen durch das leicht veränderte Material und auch die modernere Art der Gestaltung von den ursprünglichen Platten unterschieden werden. Dass man die nicht ins marxistisch-leninistische Geschichtsbild passende Steinerne Chronik nicht beseitigt, sondern restauriert und gereinigt hat, ist eine bemerkenswerte Leistung. Aber vielleicht hat man sich damals gesagt, dass die kleinen Figuren nicht besonders gut zu sehen sind und viele Leute mit den Darstellungen auch kaum etwas anfangen können. Wenn man sich ein wenig mit der Steinernen Chronik beschäftigt wird man sehen, dass Künstler und Gelehrte im Zeitalter Friedrich Wilhelms III. fehlen. Dieses Relief gehört zu den Totalverlusten im Zweiten Weltkrieg. Um ihrer dennoch zu gedenken, hat man ein Relief aus der Alten Nationalgalerie nachgebildet und in die Fassade eingefügt.

Wenig bekannt ist, dass Hitler nicht traurig gewesen wäre, wenn im Zweiten Weltkrieg das Rote Rathaus ganz und gar zerbombt worden und von der Bildfläche verschwunden wäre. Der "Größte Führer aller Zeiten" (GRÖFAZ) versuchte die Deutschen damit zu trösten, dass die deutschen Städte nach dem "Endsieg" schöner und großzügiger denn je aufgebaut werden, und schilderte die Zukunft der zerbombten Reichshauptstadt in rosigen Farben. Viele Altbauten hätten sowieso seinen Neubauplänen geopfert werden sollen, das würden jetzt britische und amerikanische Bomben erledigen, sagte er im internen Kreis. Die SS-Offiziere Günsche und Linge wurden in dem Band "Das Buch Hitler" (Verlag Lübbe, Bergisch Gladbach 2005, ISBN 3-7857-2226-5) konkreter: "Zu den Angriffen auf Berlin bemerkte Hitler einmal: ,Wenn sie doch endlich das Berliner Rathaus zerbomben würden! Dieses abscheuliche Gebäude stört mich als Architekt schon lange. Wenn die Angelsachsen es verschonen, dann wahrscheinlich um mich zu ärgern', meinte er lachend". Dieser Wunsch des Diktators ging, wie seine Pläne zur Umgestaltung Berlins in die "Welthauptstadt Germania", nicht in Erfüllung.

20. Mai 2021

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