Guter Ort in guten Händen?
Jüdischer Friedhof an der Großen Hamburger Straße mitten in Berlin macht einen ungepflegten Eindruck



Auf dem Gelände des früheren Jüdischen Altenheims und vor dem Jüdischen Friedhof an der Großen Hamburger Straße erinnert die von Will Lammert geschaffene Bronzegruppe an die 55 000 Berliner Juden, die von hier und von anderen Sammellagern aus in die nationalsozialistischen Vernichtungslager verschleppt wurden.



Die im Eingangsbereich aufgestellten Grabsteine stammen aus den Jahren 1675 und 1694, das heißt aus einer Zeit, als die Hohenzollern in Berlin und Brandenburg nach Jahren der Vertreibung wieder jüdisches Leben zuließen und der Gemeinde lange verweigerte Rechte einräumten.



Die blaue Bild-Text-Tafel im Eingangsbereich berichtet auf deutsch, hebräisch und englisch aus der Geschichte des Alten Friedhofs und ehrt insbesondere Moses Mendelssohn.







Ein Vergleich der Fotos von 2009 und 2021 zeigt, dass vor der Friedhofsmauer mit den dort befestigten alten Grabsteinen nicht nur der Efeu als Bodendecker gewachsen ist, sondern leider auch der Regenschutz defekt ist. So teuer und mühsam kann die Reparatur doch nicht sein. Die Schrifttafel an der Mauer stammt aus dem Jahr 1948.



Der wohl berühmteste Mann, der 1786 auf dem Jüdischen Friedhof an der Großen Hamburger Straße bestattet wurde, ist Moses Mendelssohn. Sein Grabstein ist der dritte oder vierte, der hier aufgestellt ist.



Wenige Schritte vom Friedhof schmückt eine Gedenktafel mit seinem Porträt und dem Zitat "Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben,, Gutes wollen, das Beste tun" die Fassade des nach ihm benannten Jüdischen Gymnasiums.



Die von Ingeborg Hunzinger gestaltete und 1995 aufgestellte Figurengruppe in einer kleinen Freianlage an der Rosenstraße setzt den Opfern des Nationalsozialismus und dem mutigen Frauenprotest 1943 gegen die Deportationen Berliner Juden in die Vernichtungslager ein ergreifendes Denkmal. Auf einer Gedenksäule an der Rosestraße sind Deportationslisten und Berichte von Juden zu sehen, die die Fahrt in die Vernichtungslager antreten mussten, sowie über die Zustände in den Sammellagern der Gestapo.



Vom Gleis 17 auf dem Bahnhof Grunewald wurden bis ins Jahr 1945 hinein tausende Juden mit der Deutschen Reichsbahn in die Vernichtungslager gefahren. Die in eine Gedenkstätte umgewandelte Gleisanlage nennt Zahlen und Zielorte. Hier finden auch Gedenkveranstaltungen statt. (Fotos: Caspar)

Wer im Abstand von einigen Jahren den Jüdischen Friedhof an der Hamburger Straße besucht, wird zu seinem Leidwesen feststellen, dass dieser "gute Ort", wie man diese Ruhestätten auch nennt, ungepflegt und irgendwie vergessen ist. Vergleiche von älteren Fotos und solchen von heute zeigen zugewucherte Wege und Wiesen. Sie sind gut für Insekten und Vögel, jedoch schlecht für das Image Berlins als weltoffene, tolerante, geschichtsbewusste Stadt. Der Zustand des Friedhofs mitten in Berlin, nicht weit vom S-Bahnhof Hackescher Markt und der Oranienburger Straße entfernt, ist auch keine gute Visitenkarte für die Jüdische Gemeinde, die sich zunehmender rassistischer und antisemitischer Angriffe ausgesetzt sieht. Lediglich die Grabstelle des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn sieht recht ordentlich auch. Aber schon ein paar Meter weiter ist das Schutzdach über einer Wand defekt, in die historische Grabsteine des alten Friedhofs eingelassen sind. Dieses Dach zu reparieren und überhaupt eine Gartenbaufirma zu beauftragen, das Gras zu mähen, Baumäste schneiden und die Wege in Ordnung zu halten, müsste doch möglich sein und dürfte auch nicht die Welt kosten. Je mehr damit geartet wird, umso schwieriger und teurer wird die Arbeit, um die sich niemand drücken kann.

Andenken liebevoll erhalten - und zerstört

Bis zur Zerstörung des Friedhofs durch die Nationalsozialisten war der Friedhof dicht an dicht mit Grabstätten belegt. Fotos auf einer in deutscher, hebräischer und englischer Sprache abgefassten Tafel im Eingangsbereich zeigt den alten Zustand, über den der Stadtreporter Julius Rodenberg mit dem Geburtsnamen Julius Levy im 19. Jahrhundert diese Zeilen notierte: "Auf diesem Friedhof ruhen die Väter der jetzigen jüdischen Gemeinde von Berlin, sie, die vor zweihundert Jahren aus Wien kamen; die Vorfahren aller gegenwärtigen Größen jüdischen Ursprungs und unter ihnen nicht wenige Nachkommen, ihrem jüdischen Ursprung entfremdet . hohe Stellen im Staat und in der Beamtenwelt einnehmen." Der älteste Grabstein sei von 1672, der zweite von 1675, notiert Rodenberg weiter, und bis 1827, als nunmehr auch geschlossene Friedhof an der Schönhauser Allee angelegt wurde, sei dieser hier an der Großen Hamburger Straße die einige Begräbnisstätte der Gemeinde gewesen. Gegen zwölftausend Tote würden auf ihm ruhen, schreibt Rodenberg und fügt hinzu, ein jüdischer Friedhof wie dieser biete dem Besucher wenig Anziehendes, er verhülle nichts zu freundlichen, zu den Sinnen sprechenden und sie beruhigenden Schmuck. "Aber was die Pietät für die Gestorbenen betrifft, so möchte ich wohl in Berlin vergeblich einen anderen Friedhof suchen, wo man ihr Andenken über zwei Jahrhunderte hinaus in gleicher Weise liebevoll erhalten hat."

In den Jahren 2007 und 2008 wurden die Grundmauern des im Zweiten Weltkrieg zerstörten und danach abgetragenen Altenheims freigelegt und als rote Ziegelbänder sichtbar gemacht. Der überall ausgelegte Bauschutt hält die Erinnerung an das zerstörte Altenheim, dessen oberirdische Trümmerreste nach dem Krieg beseitigt worden waren. Auf einer Tafel im Eingangsbereich wird darauf hingewiesen, dass sich auf dem Friedhof sechzehn Sammelgräber mit 2425 Toten aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs befinden. "Diese Gräber sind ebenso wie die ursprünglichen jüdischen Gräber des Friedhofs, der im Jahr 2007 gärtnerisch wiederhergestellt worden ist, mit einer friedhofstypischen Bepflanzung versehen. Da sich die genaue Abgrenzung der jüdischen wie der Opfergräber heute nicht mehr genau ausmachen lässt, gehen alle Gräber des Friedhofs fließend ineinander über."

Alte Grabsteine neu aufgestellt

Zwanzig historische Grabsteine vom späten 17. Jahrhundert bis zum frühen 19. Jahrhundert wurden 2009 vom Jüdischen Friedhof in Weißensee auf den Jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße zurück gebracht und im Dezember 2009 in einer bewegenden Feierstunde neu aufgestellt. Die Grabsteine waren zuvor aus Sicherungsgründen nach Weißensee gebracht worden und wurden dort restauriert Die Kosten von 26 000 Euro für die Rückführung und Neuaufstellung der Grabsteine und ihren Schutz vor Regen und Frost wurden von der Jüdischen Gemeinde und dem Landesdenkmalamt getragen. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Lala Süsskind, würdigte bei der Neuaufstellung die gute Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege und erinnerte daran, dass aus Wien vertriebene Juden vom Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg aufgenommen, in Berlin angesiedelt und auf dem 1672 angelegten Friedhof an der Großen Hamburger Straße bestattet wurden.

Der Friedhof an der Großen Hamburger Straße ist der älteste noch in Berlin existierende jüdische Friedhof. Auf ihm hat man bis zur Schließung im Jahr 1827 tausende Gemeindemitglieder bestattet. Bewohner eines sich anschließenden Altenheims übernahmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Pflege. Dieses Gebäude missbrauchten die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg als so genanntes Judenlager, von dem aus etwa 55 000 Berliner Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden. Mit der Vernichtung des Alten Friedhofs und der Beseitigung zahlreicher Grabsteine ließen es die Nazis nicht bewenden. Vielmehr zogen sie quer durch das Gelände einen Splittergraben, der Menschen angeblich vor Bombenschäden schützen sollte, es aber nicht tat. Die Gebeine der Toten wurden bei den Erdarbeiten übereinander geworfen und vernichtet, außerdem hat man Grabsteine zum Absteifen der Grabenwände benutzt.

Deportation nach Auschwitz in den Tod

Das jüdische Altenheim existiert nicht mehr, doch erinnert auf seiner Fläche eine aus mehreren ausgemergelten Personen bestehende Bronzegruppe an die Verfolgung und Ermordung der Berliner Juden zwischen 1933 und 1945. Der Bildhauer Will Lammert hatte die Gruppe eigentlich für das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gestaltet, doch stehen dort jetzt andere, heroischer wirkende Skulpturen des gleichen Künstlers. Wenige Tage nach einer hetzerischen Rede des Propagandaministers Goebbels im Sportpalast, in der er zum "totalen Krieg" aufrief, hatte die Gestapo die Jagd auf die letzten Berliner Juden gemacht. Schlagartig verhaftete die Gestapo in der so genannten Fabrikaktion am 27. Februar 1943 über 18 000 in Berliner Rüstungsbetrieben und solchen außerhalb der Reichshauptstadt beschäftigte Juden vom Arbeitsplatz und der Straße weg, um sie nach Auschwitz zu deportieren. Die so genannten Rüstungsjuden waren bei der AEG, bei Siemens, Krupp und anderen Betrieben beschäftigt. 7000 von ihnen wurden in fünf Transporten deportiert, kaum einer hat überlebt. Gegen die Verhaftung und drohende Deportation protestierten Frauen, Schwestern und Bräute der zum Tod im Gas bestimmten Männer. Goebbels notierte in seinem Tagebuch, es hätten sich "leider etwas unliebsame Szenen vor einem jüdischen Altersheim abgespielt, wo die Bevölkerung sich in größerer Menge ansammelte und zum Teil sogar für die Juden Partei ergriff. Ich gebe dem SD [Sicherheitsdienst der SS, H. C.] Auftrag, die Judenevakuierung nicht ausgerechnet in einer so kritischen Zeit fortzusetzen. Wir wollen uns das lieber noch einige Wochen aufsparen; dann 4

Frauenprotest in der Rosenstraße

Der Frauenprotest in der Rosenstraße und anliegenden Straßen war die einzige Aktion dieser Art in zwölf Jahren Hitlerdiktatur. Sie fand vor der in ein Sammellager umgewandelten ehemaligen Wohlfahrtsbehörde der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße statt, nicht weit vom Hackeschen Markt und dem Friedhof an der Großen Hamburgere Straße entfernt. Es gelang den in so genannter Mischehe lebenden "arischen" Frauen, einen Teil der zur Deportation bestimmten jüdischen Männer und Söhne freizubekommen. Einige wurden sogar aus Auschwitz zurückgeholt und mussten weiter Zwangsarbeit leisten. Historiker rechnen damit, dass viele Gerettete am Ende doch noch ermordet wurden.

Insgesamt gab es in Berlin 15 Sammel- und Deportationslager vor allem im heutigen Bezirk Mitte-Tiergarten, so in der Levetzowstraße 7/8, Großen Hamburger Straße 26, Schönhauser Allee 22, Artilleriestraße 31 (heute Tucholskystraße), Brunnenstraße 41, Gormannstraße 3, Rosenstraße 2-4, Schulstraße 78 sowie in der Mahlsdorfer Straße im Bezirk Köpenick und an weiteren Orten. Von dort wurden jüdische Männer, Frauen und Kinder einzeln und oft in ganzen Familien von den Bahnhöfen Putzlitzstraße/Güterbahnhof Moabit, Grunewald und Anhalter Bahnhof in die Vernichtungslager "verschickt", wie die Fahrt ohne Wiederkehr von den Spediteuren des Todes verniedlichend umschrieben wurde.

4. Juni 2021

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