Späte und dauerhafte Erinnerung
Im Jahr 1510 wurden Berliner Juden wegen angeblicher Verbrechen öffentlich verbrannt / Neue Informationstafel neben der Marienkirche



In deutscher und englischer Sprache berichtet die neue Informationstafel, was vor 511 Jahren auf dem Neuen Markt und auf der Hinrichtungsstätte in der Nähe des heutigen Strausberger Platzes geschah und welches Leid den zu Unrecht beschuldigten Berliner und Brandenburger Juden erleiden mussten.



Das Bronzerelief zeigt die Innenstadt von Berlin um 1880 mit (im Uhrzeigersinn) dem Roten Rathaus, der Marienkirche und dem alten Dom, der um 1894 dem neuen Dom am Lustgarten weichen musste, und dem Königlichen Schloss.



Neben der Marienkirche berichten mehrere Glastafeln in Bild und Schrift über die Geschichte des Gotteshauses und des Neuen Markts und zeigen auch, was Archäologen in den vergangenen Jahren ausgegraben haben.





Die antijüdischen Ereignisse von 1510 in Berlin wurden durch zahlreiche Flugschriften publik gemacht. Ziel der mit Holzschnitten illustrierten Schmähschriften - links Gerichtsszene im "Summarius" von 1511 - war die Legitimierung des Schauprozesses und der Todesurteile sowie der Verfolgung und Ausweisung der jüdischen Bevölkerung. Die Holzschnitte aus dem "Summarius" zeigen, wie Juden die geweihten Hostien in Empfang nehmen und auf sie einstechen und wie sie, durch spitze Hüte als Ketzer kenntlich gemacht, auf dem Scheiterhaufen qualvoll sterben.





Der etwas verdeckt stehende Gedenkstein mit der alten Inschriftenplatte neben dem Haus Mollstraße 11 (Bezirk Mitte) hält die Erinnerung an den Massenmord an Juden im Jahr 1510 wach, die Stolpersteine ganz in der Nähe sind einer ganzen Familie gewidmet, die im Zweiten Weltkrieg dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen.



Das Nazi-Hetzblatt des Julius Streicher beschrieb 1939 in allen Einzelheiten, wie ein jüdischer Ritualmord ausgesehen haben soll. Daneben eine Grafik aus dem 19. Jahrhundert mit der Marienkirche im Hintergrund. Allerdings fand die Massenhinrichtung nicht hier, sondern auf der Richtstätte nahe dem heutigen Strausberger Platz statt. (Fotos/Repros: Caspar)

Anno 1446, in einer Zeit, als sich die Hohenzollern als Kurfürsten und Markgrafen von Brandenburg etabliert und in der Doppelstadt Berlin-Cölln mit dem Bau ihres Schlosses begonnen hatten, kam es Berlin wie im ganzen römisch-deutschen Reich zu Pogromen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden mit der Folge, dass Letztere Kurbrandenburg verließen und nach Polen beziehungsweise Oberitalien flohen. Blutig und grausam erging es 1510 der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und außerhalb der kurfürstlichen Haupt- und Residenzstadt, deren Mitglieder fälschlicherweise beschuldigt wurden, in den Diebstahl und Schändung einer christlichen Monstranz verwickelt zu sein. Solche Unterstellungen waren nichts Neues, sie dienten auch anderswo als Vorwand, um Juden zu drangsalieren und zu ermorden.

Am 6. Februar 1510 hatte der christliche Kesselflicker Paul Fromm in der Kirche des Dorfes Knobloch bei Nauen an der Havel eine vergoldete Monstranz aus Kupfer und eine Messingbüchse mit geweihten Hostien gestohlen. Unter Folter erklärte er, er habe die Hostien an Juden aus Spandau, Brandenburg und Stendal verkauft. Vergehen gegen diese christlichen Opfergaben aus Weizenmehl und Wasser mit beigemengtem Sauerteig waren so ungeheuerlich, dass sie mit Strafen an Leib und Leben geahndet wurden. Nach damaliger Auffassung konnten für dieses Verbrechen nur Juden fähig sein.

Tod durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen

Der Fall schlug hohe Wellen, den ersten Anschuldigungen folgten weitere, denn nun wurde behauptet, Juden hätten sich nicht nur gegen die Kirche vergangen, sondern auch unschuldige Kinder ermordet. So wurde auf dem Neuen Markt ein Hostienschändungsprozess gegen 51 Juden veranstaltet, vor dessen Beginn bereits das Urteil "Tod durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen" fest stand. 38 Beschuldigte wurden am 19. Juli 1510 vor der Stadt, in der Nähe des heutigen Strausberger Platzes unter dem Gejohle einer schaulustigen, aufgehetzten Menge öffentlich verbrannt. Die übrigen waren bereits an den Folgen der Folter gestorben oder geflohen. Die Nationalsozialisten schlachteten solche Fälle genüsslich aus und behaupteten, Juden hätten "schon immer" Christen betrogen, bestohlen, geschändet und ermordet. Das berüchtigte Hetzblatt "Der Stürmer" brachte im Mai 1939 die Sondernummer "Ritualmord" mit einem Titelbild heraus, das Juden beim Schlachten von kleinen Kindern aus christlichen Familien zeigt und wie sie deren Blut in einem Gefäß sammeln, um es zu trinken und daraus Kraft für weitere Verbrechern zu schöpfen.

Am 19. Juli 2021 wurde nach längerer Vorbereitungszeit und kontroversen Diskussionen darüber, ob nach über einem halben Jahrtausend an den Prozess und seine Folgen erinnert werden sollte, auf den Neuen Markt, im Schatten der Marienkirche, eine hochformatige Informationstafel aus Glas enthüllt. Auf ihr kann man in deutscher und englischer Sprache und ergänzt durch Reproduktionen aus einer Hetzschrift von 1511 nachlesen, wie es 1510 zu den Anschuldigungen, zu dem Prozess sowie dem Massenmord auf dem Scheiterhaufen kam und was dann folgte. Mit der von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa gemeinsam mit Vertretern des Bezirksamtes Mitte enthüllten Stele erinnert die Stadt öffentlich und dauerhaft an das antijüdische Pogrom von 1510. "Am 19. Juli 1510 wurden hier, auf dem damaligen Neuen Markt, 41 Juden aus Berlin und der Mark Brandenburg in einem Schauprozess zum Tode verurteilt. Ein christlicher Bernauer Kesselflicker, der eine Kirche im damaligen Dorf Knoblauch bei Nauen ausgeraubt hatte, behauptete nach Androhung von Folter, eine gestohlene Hostie an einen Juden in Spandau verkauft zu haben. Letzterer wurde unter Folter gezwungen, zu sagen, die Hostie geschändet zu haben. Hinzu kam die jahrhundertealte Unterstellung des Ritualmordes. Juden hätten christliche Kinder getötet und ihr Blut für religiöse Zwecke verwendet", heißt es auf der Tafel. Der von Kurfürst Joachim I. angeordnete Prozess sei ein öffentliches Spektakel gewesen. "Schöffen, Richter und Angeklagte befanden sich weithin sichtbar auf einem dreistöckigen Holzgerüst. Die jüdischen Angeklagten trugen außerdem ,Ketzerhüte'".

Vertrieben und in Gnaden wieder aufgenommen

Dem Prozess und der brutalen Hinrichtung der Angeklagten folgte noch im selben Jahr auf Befehl des Kurfürsten die Vertreibung aller Juden aus der Mark Brandenburg. Hintergrund des Pogroms war vor allem Missgunst, denn die am Berliner Jüdenmarkt lebenden Juden hatten es zu einigem Wohlstand gebracht, den die "Mehrheitsgesellschaft", wie wir heute sagen würden, ihnen wohl nicht gönnte. Die Vertreibung hatte für den Landesherrn und weitere Personen den Vorteil, dass sie ihre Schulden bei jüdischen Kaufleuten oder Geldwechslern nicht mehr abtragen mussten. Unter Kurfürst Joachim II. wurde 1539 gegen den erbitterten Widerstand der Landstände das Einwanderungsverbot für Juden aufgehoben. Dass sie wieder "in Gnaden" aufgenommen wurden, hatte mit wirtschaftlichen Folgen jener Vertreibung von 1510 und Schäden für die Wirtschaft im Kurfürstentum Brandenburg zu tun.

Nach der Verkündung des Urteils am 19. Juli 1510 auf dem Neuen Markt vor der Marienkirche wurden 38 Juden auf einem mehrstöckigen Scheiterhaufen an der Richtstätte vor dem Georgentor, dem Berliner Rabenstein an der späteren Judengasse verbrannt, mindestens zwei weitere, die sich zwischenzeitlich hatten taufen lassen, hat man enthauptet. Auch der diebische Kesselflicker wurde hingerichtet. Ob und wo die sterblichen Überreste der Opfer bestattet wurden, ist nicht belegt. Üblich war, dass man die Leichen auf einem Schindanger nahe dem Rabenstein verscharrte. Die Vermutung, dass sich auf dem Gelände ein jüdischer Friedhof befand, konnte weder durch alte Berichte und noch durch Bodenfunde belegt werden. Der Buchdruck machte es als neues Medium möglich, den Berliner Hostienschändungsprozess in Bild und Schrift weithin publik zu machen. Der Titel eines solchen, "Summarius" genannten Pamphlets fasst nach damaligem Brauch den Inhalt so zusammen. "Ditzs ist der warhafftig Sumarius der gerichts hendel unnd proceß der gehalten ist worden uff manchfaldig Indicia / aussag / unnd bekenntnus eines Paul From genant der das hochwirdig Sacrament sambt einer monstrantzien (...) auß der kyrchen zu Knobloch gestolen. Und auch der begangen hendell der Juden die ir thetliche hennde an das aller heiligst hochwirdigst Sacrament Unnd vil unschuldige cristliche kinder torstiglich geleget. unnd im zehende jar zu Berleinn gerechtfertigt sein wordenn." Das Impressum auf der letzten Seite lautet so: "Gedruckt zu Franckfurt an der Oder durch Johannem Hanaw. im jar tausent funfhundert und im eylfte / Sonabent vor unser lieben frawen liechtmeß." Der Drucker brachte noch im selben Jahr eine niederdeutsche Ausgabe mit den gleichen Holzschnitten heraus. Der Verfasser wurde nicht genannt, aber es könnte der Doktor der Rechte Gregorius Günther gewesen sein, der seit 1498 als kurfürstlicher Oberrichter und bischöflicher Offizial in Frankfurt/Oder wirkte und Rektor der Universität war.

Gedenkstein überstand Nazi- und Kriegszeit

Ein auch auf der Informationstafel abgebildeter Gedenkstein neben dem Wohnhaus Mollstraße 11 (Mitte) erinnert an dem Justizmord im Jahr 1510. Er stammt aus den Jahren 1934/35 und wurde vom Rabbiner Martin Salomonski an der Rückseite eines heute nicht mehr existierenden jüdischen Altersheims errichtet. Wie durch ein Wunder überstand die Inschriftenplatte die Nazi- und Kriegszeit, so dass sie 1988 an der heutigen Stelle in Abstimmung mit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin neu errichtet werden konnte. Im oberen Teil der Schrifttafel verkündet ein hebräischer Text in deutscher Übersetzung: "Hier ruhen die reinen Gebeine von Mitgliedern unserer ältesten Gemeinde Berlin. Sie wurden getötet und verbrannt als Märtyrer zur Heiligung Seines Namens am 12. Aw des Jahres 5270 [19. Juli 1510]. Dieser Stein wurde errichtet auf ihrer Ruhestätte durch Me'ir, Sohn des Herrn Abraham Salomonski, im Jahre 695 [1934/35] nach der kleinen Zählung". Eine darunter angebrachte Tafel erklärt: "Im Jahre 1510 wurden 38 Berliner Juden wegen angeblicher Hostienschändung verbrannt. Ihre Gebeine sind hier bestattet."

Rabbiner Martin Salomonski hatte die Gedenktafel 1935, im Jahr der Nürnberger Gesetze, an der Synagoge des Jüdischen Altersheimes Lietzmann an der Ecke der Landwehrstraße anbringen lassen. Etwa dort befindet sich der Spielplatz des Kindergartens Berolinastraße 7a. Das Altersheim war 1941/42 Sammellager für die Deportation Berliner Juden nach Theresienstadt, Riga und die Vernichtungslager. Nach schweren Kriegszerstörungen wurden die Ruinen der Gebäude Anfang der 1960er Jahre abgerissen. Die dabei geborgene Schrifttafel wurde der Jüdischen Gemeinde übergeben.

Der Schauprozess von 1510 und die öffentliche Verbrennung der zu Unrecht schwerster Verbrechen beschuldigten Juden war nicht die erste Judenverfolgung im Reich der Hohenzollern. In der stadtgeschichtlichen Ausstellung auf der Zitadelle Spandau wird berichtet, dass schon vor 1510 Juden in der Mark Brandenburg drangsaliert, verfolgt und vertrieben wurden. Kurfürst Joachim I. begründete 1503 seine Zwangsmaßnahmen mit dem Argument "da die Judischeit, als Verachter und verfolger des christlichen Namens, unser Landen [...] durch ihr Wucherische bose unbillige hendell nicht kleine beschwerlichkeit, verderb, schaden und nachteil zugefugt und täglich zufügen". Eine spätere Chronik berichtet, dass jüdische Grabsteine geschändet und beim Bau der Spandauer Zitadelle verwendet wurden. Nach ihrer Wiederentdeckung werden sie dort gezeigt.

27. Juli 2021

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