"Wenn dir die Knie zittern / dann trink een Bittern"
Heinrich Zille, der Zeichner des Berliner Milljöhs, sagte, was ist, und eckte damit bei Kunstpäpsten an



Heinrich Zille wurde auf unnachahmliche Weise "Chronist mit dem Zeichenstift" seiner Zeit. Das Foto zeigt ihn im Jahr 1892, das von seinem Freund, dem Bildhauer August Kraus, geschaffene Relief stammt aus dem Jahr 1930.



In Kneipen, den Behausungen des Proletariats und an anderen von gut verdienenden Leuten gemiedenen Orten kannte sich Heinrich Zille aus und hinterließ uns zahllose Zeichnungen von Leuten am unteren Rand der Gesellschaft. "Im Nussbaum links vom Molkenmarcht, / Da hab' ick manche Nacht verschnarcht, / Da malt der Vater Zille! / Die Jäste, die sind knille!" sang einst Claire Waldoff. Mit dem "Nussbaum" (Mitte) war das Altberliner Wirtshaus auf der Fischerinsel gemeint, das DDR-Hochhäusern weichen musste. Es hat im Nikolaiviertel eine originalgetreue Zweitauflage erhalten.



In dem Buch "Kriegsmarmelade für die Nachwelt erhalten", das nach Zilles Tod 1929 veröffentlicht wurde, unterhält sich das Kaiserpaar beim Ankleiden vor dem Spiegel. Auguste beschwert sich, dass sie nicht dünner wird und fragt, was das Volk bloß denken soll. Der halbnackte Wilhelm II. sagt "Das Volk denkt nicht! Hat die Schnauze zu halten!" Darauf Auguste "Weinen soll zehren, ick wer die Heldengräber abklappern." Das Bild rechts kam nicht durch die Zensur.









Seine Bilder aus Berliner Kneipen und worin die Freizeitbeschäftigung seiner Zeitgenossen bestand, sind bis heute populär und können im Zillemuseum an der Propststraße im Berliner Nikolaiviertel betrachtet werden. Neben seinen Bildern vom traurigen und wenig menschenfreundlichen Dasein der Berliner Unterschicht, wie wir heute sagen würden, hat Heinrich Zille dem Alltag auch seine lustigere Seiten abgewonnen und damit großen Erfolg gehabt.



Heinrich Zille im Köllnischen Park wäre ohne den Eckensteher nicht komplett. Im Nikolaiviertel weist er den Weg zur Propststraße, wo ihm ein Museum gewidmet ist. (Fotos/Repros: Caspar)

Als Heinrich Zille um 1900 seine Karriere als Zeichner des Berliner "Milljöhs" startete, waren die Meinungen über diesen neuen Stern am Himmel der Karikaturisten und Humoristen geteilt. Vertreter und Nutznießer des offiziellen Kunstgeschmacks Kaiser Wilhelms II. sprachen wie dieser von Abschaum und Gosse. Der Monarch war der Meinung, Kunst möge erheben und nicht herabziehen, denn es gebe schon genug Elend, und Kunst solle sich aus der Politik heraushalten. Zilles Bilder gingen nicht so weit, die Herrschaftsverhältnisse und insbesondere das autoritäre Gehabe Wilhelms II. anzugreifen und nach Alternativen zu rufen. Das taten andere mit spitzer Feder und scharfer Zunge und handelten sich Verfahren wegen Majestätsbeleidigung und Landesverrat ein. Der mit anderen als "Rinnsteinkünstler" gescholtene Zille entdeckte noch im schlimmsten Dreck und Elend einen Lichtstrahl, in der dunkelsten Hinterhofecke eine mickrige Blume. Selbst wenn er eine Selbstmörderin zeichnete, die mit ihrem Kind ins Wasser springen will und von Passanten von diesem letzten Schritt abgehalten werden, lautet der Bildtext nur "Des Lebens satt". Wo er einen aus dem vierten Stock gesprungenen Mann in einer Blutlache zeigt, ist das für ihn kein Grund, zum Aufstand gegen unmenschliche Lebens- und Wohnverhältnisse auszurufen. Auch der Invalide, der mit nur einem Bein und zwei Krücken aus dem Ersten Weltkrieg kommt, ist für den Zeichner und Fotografen kein Grund, das unsinnige Abschlachten für Gott, König und Vaterland anzuklagen, wie man damals sagte. "Nun Bruder nimm den Bettelsack Soldat bis Du gewest", kommentiert der Künstler.

Zeichenunterricht in Berlin

In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte sich der 1858 in Radeburg bei Dresden geborene Zille hochgearbeitet, war in fortgeschrittenem Alter sogar Mitglied der Akademie der Künste und Professor geworden, wohnte im vornehmen Charlottenburg. Die Familie Zille war 1868 nach Berlin gezogen und lebte in einer Kellerwohnung nahe dem Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof in einer Kellerwohnung. Da der Vater zunächst arbeitslos war, versuchte die Mutter, die Familie mit Heimarbeit durchzubringen. Auch Heinrich trug während seiner Schulzeit als Gepäck- und Zeitungsausträger und Bote zum Familienunterhalt bei. Als Fremdenführer lernte er das Berliner "Milljöh" kennen, das zum bestimmenden Thema seiner Arbeit wurde.

Eigentlich sollte Heinrich Zille eine Lehre bei einem Fleischermeister beginnen, doch stieß ihn der Anblick der auf der Schlachtbank verendenden Tiere ab. Noch als Schüler nahm er Zeichenunterricht, wobei ihm der sozialkritische Maler und Grafiker William Hogarth aus England als Vorbild diente. Sein Zeichenlehrer Anton Spanner überzeugte Zilles Eltern davon, dass er sich als Lithograf ausbilden lässt. "Das beste is, du lernst Lithographie, da sitzt du in der warmen Stube, mit Schlips und Kragen, schwitzt nicht, bekommst keine schmutzigen Hände und wirst mit Sie angeredet. Was willst du mehr?"

"Milljöh-Studien" und Militärdienst

Heinrich begann seine Lehre in einem Haus in der Alten Jakobstraße, in dem sich auch das Ballhaus Orpheum befand. Dort konnte er weitere "Milljöh-Studien" machen. In lithografischen Werkstätten verdiente er sein Brot mit Entwürfen für Damenmoden, Lampen sowie Werbemotive und andere Bilder. Das aber genügte ihm nicht, und so machte er sich in der Lithografieanstalt Winckelmann & Söhne mit grafischen Techniken wie Farbdruck, Retusche, Radierung, Lichtdruck und Fotogravur bekannt. Von 1877 bis 1908 war Zille Mitarbeiter der Photographischen Gesellschaft Berlin am Dönhoffplatz in Berlin. Zwischendurch leistete er 1880 bis 1882 seinen Militärdienst als Grenadier in Frankfurt an der Oder und als Wachsoldat im Zuchthaus Sonnenburg (S?o?sk) jenseits der Oder. Diese für ihn schlimme Zeit der Erniedrigung hat er versucht, mit mehr oder weniger humorvollen Zeichnungen und Notizen zu überstehen. Seine Eindrücke hat er im Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 und später mit Bilderfolgen verarbeitet.

Seine wohl nicht sehr befriedigende Anstellung bei der Photographischen Gesellschaft Berlin gab Zille 1908 auf. Von da an selbstständig arbeitend, war er ein gern gesehener Gast in Berliner Kneipen und Destillen, wo er vor im Fuselrauch vor sich hin dösende Familienväter, dicke Mütter und ihre schreienden Kinder mit rachitisch-krummen Beinen auf einzigartige Weise abschilderte. Dabei blieb es nicht, denn er sah sich in Schrebergärten und überfüllten Volksbädern, sah Berliner Familien beim Picknick zu und zeichnete armselige Kinder, die auf dem eisigkalten Weihmachtsmarkt Selbstgebasteltes verkaufen oder sich an hell erleuchteten Schaufenstern die Nasen platt drücken und genau wissen, dass sie von all den Herrlichkeiten nichts abbekommen werden. Das ganze Gegenteil dieser lärmenden, mal melancholischen, mal beschwingten Alltagszenen sind Zeichnungen, Aquarelle und Radierungen, die dem dunklen, geheimnisvollen Berlin gewidmet sind. Zille bekam Ärger mit der Zensur, als er sehr drastisch und detailfreudig schilderte, wie "Schlafmeechens" Sex mit "scharfen Jungs" in der Hinterstube zu zweit und mehr haben.

Viel mehr als ein Humorist

Einer seiner wichtigsten Förderer war der von der kaisertreuen Journaille als Gossenkünstler verlachte Maler Max Liebermann. Er schätze Zilles Talent und seinen mitunter schwarzen Humor. "Man hat Sie einen Humoristen genannt, der Schwänke, lustige und traurige Bilder vorführt. Gewiss tun Sie das und werden es hoffentlich noch lange tun, denn dies tut uns not in dieser traurigen Zeit. Aber Sie sind viel mehr als ein Humorist: Sie haben Humor. Und diesem Humor, der so selten ist wie ein weißer Rabe, verdanken Sie Ihre Popularität und Ihre Größe als Künstler." Zilles Buch "Kinder der Straße", "Mein Milljöh" und weitere Werke wurden zu Bestseller und erlebten mehrere Auflagen.

Als Heinrich Zille am 9. August 1929 mit 71 Jahren starb, folgten unzählige Menschen dem Trauerzug bis hinaus auf den Stahnsdorfer Waldfriedhof. "Pinselheinrich", wie man ihn liebevoll nannte, galten ehrende Nachrufe. Er blieb bis heute populär, auch wenn sich die Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse, die er so kritisch und unnachahmlich aufs Korn genommen hatte, grundsätzlich geändert haben. Seine akademisch, heldisch und historisierend malenden Widersacher hingegen sind zumeist vergessen, und ihre Werke verstauben in Museumsdepots. "Zille, du warst ein jrossa Meista; Du hast jesacht, wies is", schrieb Kurt Tucholsky, und Käthe Kollwitz fasste ihr Urteil in diesen Worten zusammen: "Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter - und es sind Meisterwerke."

Mit Stift, Feder und Farbe nahm Heinrich Zille die sozialen Nöte seiner Zeit kritisch aufs Korn. In einem 1929 erschienenen Gedenkbuch liest sich das so: "Zille ist immer ein ganzer Mensch gewesen. Als seine ersten Zeichnungen aus dem Volke in den humoristischen Zeitschriften auftauchten, um 1900 herum, empfanden alle Leser, dass hier eine durchaus besondere und bedeutende Persönlichkeit sich äußerte. Eine eigenartige, persönliche Auffassung sprach aus dem kräftigen Strich der Darstellung, die eine ebenso geschulte wie eigenwillige Hand erkennen ließ. Das Dargestellte aber selbst: Volk, elendes, gedrücktes Volk, das sich trotz allem den Humor nicht nehmen ließ, das mit Lachen gegen den Druck und gegen seine kümmerliche Lebenshaltung aufbegehrte. Zille wurde zum Programm."

Bronzedenkmal im Köllnischen Park

Aus dem Plan, in Berlin ein dem Zeichner der kleinen Leute, der Huren und Luden, der Schlummermütter, Kneipiers, Pferdeschlächter, Hinterhofjongleure, Rummelboxer, der Kindermädchen und Kaltmamsells gewidmetes eigenes Museum einzurichten, wurde zu Zilles Lebzeiten und danach nichts. In der Nazizeit waren seine Typen nicht gefragt, weil sie nicht deutsch und kernig genug waren, und in DDR-Zeiten hat man den wenig klassenkämpferischen Charakter seiner Bilder bemängelt, sie aber immer im Märkischen Museum gesammelt und publiziert. Erst 2002, 73 Jahre nach Zilles Tod, konnte im Berliner Nikolaiviertel ein eigenes Zille-Museum eröffnet werden.

In Bronze gegossen, steht Heinrich Zille seit 1965 im Köllnischen Park gleich beim Märkischen Museum, das eine bedeutende Kollektion von Zeichnungen des populären Künstlers besitzt. Der Bildhauer Heinrich Drake zeigt "Pinselheinrich" stehend bei seiner Arbeit. Ein kesser Junge schaut ihm über die Schulter. Zille, den Schlapphut auf dem Kopf, den unvermeidlichen Zigarrenstummel im Mund, schaut über den Brillenrand und ist gerade dabei, eine Straßenszene im Skizzenblock festzuhalten. Ausgebeult die Taschen seines Jacketts. Dort hat er Utensilien für seine Arbeit untergebracht. Der Junge hinter ihm hat eine Melone auf dem Kopf, die Hemdsärmel sind hochgekrempelt und die Hände in den Hosentaschen vergraben. Der junge Arbeiter, der die Zeichnung beäugt, demonstriert die Tuchfühlung, die der Künstler für sein Werk so dringend brauchte. Der Standort des Zilledenkmals von 1965 - ein anderes, älteres von Paul Keutsch (1930) in der Bergstraße ist verschwunden - ist gut gewählt.

Im alten Berlin fand der Zeichner seine Typen, die ihm zu Freunden wurden. In Kneipen wie dem "Nussbaum" oder im "Metzer Eck" war Zille ein gern gesehener Gast. Man nahm ihn liebevoll auf, ließ ihn nicht spüren, dass er als Mitglied der Akademie der Künste und Professor eigentlich etwas "Besseres" ist. Berührungsängste hat es nicht gegeben.

10. Dezember 2021

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