Juste mit der Perlenkette
Die vor einhundert Jahren verstobene Kaiserin Auguste Viktoria bleibt vor allem als Stifterin von Kirchen in Erinnerung



Das wohl bedeutendste sakrale Bau- und Kunstdenkmal aus der Zeit Wilhelms II. ist die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. In der Eingangshalle sieht man auf einem farbigen Mosaik (von rechts nach links) die feierliche Prozession des Kaiserpaars sowie die Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III. und die Könige Friedrich Wilhelm IV. und Friedrich Wilhelm III. samt seiner Ehefrau Luise. Ganz rechts schauen Kronprinz Wilhelm und seine Frau Cecilie aus dem Bild.





Die Hochzeitsmedaille von 1881 zeigt die Bildnisse des Brautpaars Wilhelm (II.) und Viktoria Luise und das preußische und schleswig-holsteinische Wappen, und niemand würde bei ihrem Anblick auf die Idee kommen, welcher Überredungskunst und Forschungsarbeit bedufte, bis Wilhelm I. als Oberhaupt der Familie Hohenzollern der Vermählung zustimmte. Das Kaiserpaar war auch im Alltag der Deutschen präsent, hier als Schmuck einer Pastillenbüchse aus Blech.



Der Bau der neogotischen Erlöserkirche im Berliner Ortsteil Rummelsburg, der Samariterkirche an der Samariterstraße im Bezirk Friedrichshain und anderer Gotteshäuser war auch als Mittel gegen die zunehmende Politisierung und Widerstand gegen das überholte Feudalsystem in der deutschen Bevölkerung gedacht.





Kaiserin Auguste Viktoria, stets mit einer langen Perlenkette geschmückt, spendet im Ersten Weltkrieg einem Verwundeten Trost und dankt ihm für seine Heldentaten. Mit solchen Postkarten half die Militärpropaganda, das schrumpfende Ansehen der Hohenzollerndynastie aufzubessern. Die Ehe von Wilhelm II. und Auguste Viktoria soll gut gewesen sein und wurde dem Volk als vorbildlich vorgeführt. Deshalb ließ sich das kaiserliche Paar sehr gern im Kreise seiner Kinder und Enkelinder ablichten.





Im niederländischen Doorn hielt der Wilhelm II. stan-desgemäßen Hof und träumte von der Rückkehr auf den deutschen und preußischen Thron. Dass Reichs-kanzler Prinz Max von Baden ihn für abgesetzt erklärte, hat Wilhelm II. diesem nie verziehen.



Augusta Viktoria starb am 12. April 1921 in Dorn krank, erbittert und hoffnungslos mit 63 Jahren, doch bestattet wurde sie in dem von Friedrich II., dem Großen, erbauten Antikentempel im Park von Sanssouci. Bei der prunkvoll zelebrierten Trauerfeier später waren die Familie ohne den Kaiser und den Kronprinzen sowie hohe Militärs (ganz rechts im Bild Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg), Ordensritter und Hofbeamte anwesen.



Nach seiner Entmachtung haben Kritiker Kübel von Hohn und Spott auf den fahnenflüchtigen Ex-Monarchen gegossen, der es sich im Exil gut gehen ließ und der sich niemals vor einem Gericht verantworten musste. (Fotos/Repros: Caspar)

Standesgemäßes Heiraten und männliche Thronerben bekommen, waren in feudalen Zeiten in Herrscherfamilien ein ganz großes Thema. Um die Thronfolge wurden vor Jahrhunderten noch blutige Kriege geführt, und es gab langwierige Verhandlungen, bis Prinzen und Prinzessinnen einander das Ja-Wort geben konnten. Selten spielte bei solchen Verbindungen gegenseitige Zuneigung und Liebe eine Rolle, vielmehr ging es um die Frage, ob Religionen zueinander passen, ob man auf "Augenhöhe" heiratet und wie man damit auch Land und Macht gewinnen kann. Unstandesgemäße Verbindungen, die "morganatischen Ehen", waren nicht statthaft. Bei "Preußens" wurde und wird bis heute streng auf Etikette und Tradition geachtet. Hier waren und sind die Verästelungen der Stammbäume wichtiger als Liebe und eheliches Glück.

Als der spätere deutsche Kaiser und König von Preußen Wilhelm II. die Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg ehelichen wollte, wehrte sein an der Spitze der Dynastie stehender Großvater Kaiser Wilhelm I. zunächst ab, weil die junge Dame angeblich den Hohenzollern nicht ebenbürtig ist und der Krieg Preußens von 1864 um Schleswig-Holstein noch nicht vergessen war. Erst als Historiker und Juristen nachwiesen, dass es sich durchaus um zwei ebenbürtige Familien handelt, willigte der alte Kaiser ein. Er wird daran gedacht haben, dass er seinem Plan, die angeblich nicht ebenbürtige Prinzessin Elisa Radziwill zu heiraten, wegen der Familienräson aufgeben musste, weshalb er die Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar und Eisenach ehelichte.

Evangelisch-Kirchlicher Hilfsverein

Auguste Viktoria, die mit Wilhelm II. sechs Söhne und eine Tochter hatte, ging in die Geschichte als "Kirchen-Juste" wegen ihrer Mühen um den Bau von evangelischen Gotteshäusern, Krankenanstalten und karitative Einrichtungen ein. Die Kaiserin kannte nicht nur die Geschichte der Hohenzollern und Rangabzeichen preußischer Regimenter auswendig, sie wusste auch um die Sorgen und Nöte ihrer Untertanen. Noch als Kronprinzessin gründete sie 1888 den Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein zur (EKH) und übernahm mit ihrem Mann die Schirmherrschaft über weitere Vereine und Projekte. Aufgabe des Vereins, der sich der "Bekämpfung des religiös-sittlichen Notstands" auf die Fahne schrieb, war die Unterstützung diakonischer Aufgaben der evangelischen Kirche und die Verbreitung christlichen Schrifttums. Außerdem unterstützte er hilfsbedürftige Personen Hilfe sowie die kirchliche und soziale Bildungsarbeit. Allein in Berlin, Potsdam und Umgebung war der EKH bis 1905 maßgeblich an rund 60 Kirchenbauten beteiligt. Insgesamt hat er vor dem Ersten Weltkrieg gemeinsam mit seinen Untergliederungen noch weitere 200 Bauten wie Gemeindehäuser und Kindergärten errichtet.

Der Verein sammelte bei reichen Berlinern Geld, um in armen Gemeinden Hilfsprediger und Diakonissen zur Unterstützung von Armen, Kranken und Alten anzustellen. Die Kaiserin war überzeugt, dass regelmäßige Kirchgänge bei der Bewältigung der Not helfen. Wenige Jahre nach Vereinsgründung war das Geld beisammen, um im Ortsteil Rummelsburg ein erstes Gotteshaus zu errichten, die Erlöserkirche, die in der Endphase der DDR ein Ort der Opposition gegen das SED-Regime wurde. Im Potsdamer Marmorpalais und später als Kaiserin und Königin in der Sommerresidenz Neues Palais wohnend, unternahm Auguste Viktoria inkognito Ausflüge in die Umgebung und zu armen Familien, um sich ihre Nöte anzuhören und ein paar Mark als Geschenk zu hinterlassen. Ihre erste Schirmherrschaft übernahm sie für das "Rettungshaus" am Pfingstberg nahe dem Potsdamer Neuen Garten, in dem "verwahrloste" Knaben lebten, wie man damals sagte. Das Kaiserin-Auguste-Viktoria-Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reich war ein auch als "Wiege der Pädiatrie in Deutschland" genannter großer Komplex in Berlin-Charlottenburg, der von 1907 bis 1909 nach Plänen von Alfred Messel und Edmund May unter Leitung des Berliner Stadtbaurats Ludwig Hoffmann erbaut wurde.

Trauriges Leben im Exil

Als Auguste Viktoria vor einhundert Jahren, am 11. April 1921, in Doorn starb, war die Trauer groß, wenigstens deutschen und preußischen Monarchisten. Sie war ihrem am 9. November 1918 seines Throns verlustig gegangenen Mannes ins holländische Exil nach Doorn gefolgt und durchlitt eine schwere Zeit. Sie war nun nicht mehr Kaiserin und Königin, obwohl sie sich auch im Exil wie ihr Mann mit "Majestät" ansprechen ließ und von liebedienerischen Hofschranzen umgeben war. Ihres Einflusses und Ansehens verlustig und fern der Heimat mit "Wilhelm den Letzten" lebend, war ihre gesundheitliche und mentale Verfassung alles andere als gut. Viktoria Luise, die seit 1913 mit dem Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg verheiratete Tochter des Kaiserpaars, zitiert in ihrem Buch "Mein Leben" den Vater, wonach sie namenlos unter allem litt, "und ihr Zustand macht mich manchmal ganz verzweifelt, wenn der Schmerz mich übermannt." Die Hofdame Mathilde Gräfin von Keller schrieb Viktoria Luise: "Die meiste Schuld an dem Befinden tragen die Erregungen, die in dieser Zeit ja wieder in besonderer Zeit auf sie einstürmen. [...] Sie leidet namenlos, und es schneidet ihr ins Herz zu sehen, wie sich die Leiden dieser furchtbaren Zeit immer tiefer in die geliebten Züge eingraben. [...] Sie sieht sehr blass und müde aus, und das Gehen ist sehr wenig gut, die Kurzatmigkeit hat sich vermehrt."

Hier sei erwähnt, dass Viktoria Luise ihre zahlreichen Bücher nicht selbst verfasst hat. Großen Anteil an den von damaligen Rezensenten als geschichtsverfälschend bezeichneten Ansichten der Zustände in der kaiserlichen Familie sowie am Hof in Berlin, Potsdam, Doorn und Braunschweig sollen von dem Verleger und Rechtsaußen-Politiker Leonhard Schlüter stammen. Da die Erinnerungen das Interesse an Informationen über Klatsch und Tratsch in allerhöchsten Kreisen befriedigten, erreichten sie in der alten Bundesrepublik Deutschland einen großen Leserkreis.

Der geräuschlose Abgang des deutschen Kaisers und Königs von Preußen, von seinen Kritikern Fahnenflucht genannt und mit höhnischen Worten bedacht, wurde von der jungen Weimarer Republik dahingehend honoriert, dass er 1919 und danach beschlagnahmte Vermögenswerte zurück bekam, so dass er das Schloss Doorn bei Utrecht mit Nebengebäuden und Park für 1,35 Millionen Gulden kaufen konnte. Zehn Jahre später soll der Exkaiser über ein Vermögen von 55 Millionen Reichsmark verfügt haben, aus dem er ein stattliches Einkommen von 1,9 Millionen Reichsmark oder 1,1 Millionen Gulden erzielte, womit er eine standesgemäße Hofhaltung bezahlen konnte, wenn auch in weit geringerem Umfang wie zuhause in Berlin, Potsdam und anderen Orten.

"Ein Volk trauerte um seine geliebte Kaiserin"

Dabei war bekannt, dass es zwischen den kaiserlichen Eheleuten knirschte und der über sein als unverschuldet empfundene Schicksal verbitterte, auf Rache und triumphale Heimkehr auf den deutschen und preußischen Thron sinnende Wilhelm seine Frau wenig freundlich behandelt hat. Auguste Viktoria war nicht unschuldig, dass das Deutsche Reich und damit die Monarchie in die Katastrophe schlitterten. So hatte sie ihren Mann daran gehindert, längst fällige Neuerungen in Richtung Freiheit und Demokratie einzuführen und damit Dampf aus dem politisch überhitzten Kessel zu nehmen. Letztlich trug die familienintern "Dona" und von anderen "holsteinische Kuh" genannte Monarchin durch ihre starre, rückwärts gewandte Politik dazu bei, dass der "Ast" abgesägt wurde, auf dem sie mit der ganzen adligen Kamarilla saß. Kurz vor ihrem Tod soll Auguste Victoria gesagt haben, der Kaisers möge sich nach ihrem Ableben neu vermählen. Das tat er nur eineinhalb Jahre nach ihrem Tod durch die Eheschließung mit der verwitwete Prinzessin Hermine von Schönaich-Carolath, eine geborene Prinzessin von Reuß Ältere Linie. Sie wurde in Doorn als Kaiserliche Hoheit tituliert, von manchen aber auch mit Majestät angesprochen und als Kaiserin Hermine bezeichnet. Laut Viktoria Luise soll sie ihrem Mann eine große Stütze und seinen Kindern eine gute Freundin gewesen sein.

Da die Kaiserin nicht in der Fremde bestattet werden wollte, hat man ihren Leichnam mit einem Sonderzug des kaiserlichen Hofes nach Potsdam gefahren. 200 000 Menschen sollen an der Strecke der "kaiserlichen Dulderin" das letzte Geleit gegeben haben, wie die Tochter Viktoria Luise in ihrem Erinnerungsbuch "Mein Leben" schreibt. "Eine Tote kehrt heim, ihre Fahrt führte sie 600 km durch deutsche Lande, und auf dem ganzen langen Weg bildete die Bevölkerung ein einziges Spalier. Niemand hatte sie dazu befohlen, niemand gerufen. [...] Ein Volk trauerte um seine geliebte Kaiserin." Vor und im Antikentempel unweit des Neuen Palais im Park von Sanssouci versammelte sich die preußische und deutsche Elite mit Ausnahme von Wilhelm II. und Kronprinz Wilhelm, die sich aus ihrem Exil nicht nach Deutschland wagten. Der in den Niederlanden zurückgebliebene Kaiser schrieb seiner Tochter: "Sie fehlt mir furchtbar, nichts kann sie ersetzen! Oft sitze ich still an ihrem Bett und spreche im Geist mit ihr! Vielleicht ist sie da? Ihre Bilder stärken das Herbe des Verlustes."

Nach der unter dem Druck der revolutionären Ereignisse aus eigener Machtvollkommenheit von Reichskanzler Prinz Max von Baden am 9. November 1918 verkündeten Abdankung des deutschen Kaisers und Königs von Preußen und seiner "Fahnenflucht" in die Niederlande, wie manche damals sagten, musste auch die auffällige Perlenketten tragende Auguste Viktoria mit ihrer Familie das als Sommerresidenz genutzte Neue Palais verlassen. Sie tat das voller Wut und Erbitterung, denn sie hatte sich gegen die Abdankung ihres Mannes ausgesprochen und dem Reichskanzler sein Vorpreschen nie verziehen. Erst am 28. November 1918 gab Wilhelm II. eine Verzichterklärung "auf die Rechte an der Krone Preußens und die damit verbundenen Rechte an der deutschen Kaiserkrone" ab. Mit ihr entband er alle Beamten des Deutschen Reiches und Preußens sowie alle Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften der Marine, des preußischen Heeres und der Truppen der Bundeskontingente des Treueides, "den sie Mir als ihrem Kaiser, König und Obersten Befehlshaber geleistet haben. Ich erwarte von ihnen, dass sie bis zur Neuordnung des Deutschen Reichs den Inhabern der tatsächlichen Gewalt in Deutschland helfen, das Deutsche Volk gegen die drohenden Gefahren der Anarchie, der Hungersnot und der Fremdherrschaft zu schützen."

Miniaturhofstaat im niederländischen Doorn

Dem Miniaturhofstaat in Doorn standen nicht nur erhebliche Mittel aus dem Privatvermögen des Exmonarchen, sondern auch Kunstwerke und Hausrat aus den kaiserlichen Schlössern zur Verfügung. Er war dem Exilanten in zahlreichen Eisenbahnwaggons hinterhergeschickt worden, und zwar nicht nur das Tafelsilber, die Tabatièren Friedrichs des Großen und Andenken an die Hohenzollern und ihre Verwandten sowie edles Mobiliar und wertvolle Gemälde, sondern auch viel Nippes und Trödel. Aschenbecher und Zigarettendosen, Nachtgeschirre, Waschgarnituren, Schreibutensilien und Zimmerthermometer kamen gleich dutzendweise an. Sogar Zinkwannen, Feuerlöscheimer und Gießkannen mit der Signatur N.P. (Neues Palais) ließ Wilhelm kommen, dazu natürlich diverse Waffen und Uniformen, in denen er in den zwanziger und dreißiger Jahren vor Malern und Fotografen posierte.

Wenn gesagt wird, dass "Kirchen-Juste" die wohl wichtigste Beraterin ihres Mannes war, dann wirft das kein gutes Licht auf sie. Denn sie hielt ihn nicht davon ab, die innenpolitischen Verhältnisse zuzuspitzen und Waffengewalt zur Niederschlagung der Opposition im Inneren einzusetzen, blutige Kolonialkriege zu führen und einen auf Konfrontation setzenden Kurs gegenüber den zur Entente gehörenden Staaten Großbritannien, Frankreich und Russland zu verfolgen. Dieser Krieg, in dem sich Auguste Viktoria auch um Lazarette und ihre Insassen kümmerte, führte am Ende zum Untergang der Monarchie im Deutschen Reich und Österreich. Der Kaiser hielt Sozialdemokraten generell für Zerstörer des Reichs und des inneren Friedens. "Merke Ich daher, daß sich socialdemokratische Tendenzen in die Bewegung mischen und zu ungesetzlichem Widerstande anreizen, so würde Ich mit unnachsichtlicher Strenge einschreiten und die volle Gewalt, die Mir zusteht - und die ist eine ganz große - zur Anwendung bringen". In diesem Sinne befahl er seinen Rekruten unter Hinweis auf ihren Treueid, den sie ihrem obersten Befehlshaber geschworen haben: "Es gibt für Euch nur einen Feind, und das ist auch mein Feind. Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, daß ich Euch befehle, Eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen - was ja Gott verhüten möge - aber auch dann müsst Ihr meine Befehle ohne Murren befolgen." In der so genannten "Zerschmetterer-Rede" kündigte er an: "Ich gedenke nach Kräften mit dem Pfunde so zu wirtschaften, dass Ich noch manches andere hoffentlich werde darzulegen können. Diejenigen, welche Mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen, wer sie auch seien; diejenigen jedoch, welche sich Mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere Ich".

Cäsarenwahn in Berlin und Potsdam

Der vor der Thronentsagung am Hofe des deutschen Kaisers und preußischen Königs übliche Befehls- und Umgangston wurde als Byzantinismus umschrieben. Damit meinten Beobachter die liebedienerische Unterwerfung von Hofschranzen, Militärs, Künstlern, Geschichtsschreibern, Journalisten und anderen Personen unter den Willen des Monarchen und seine Verherrlichung als herausragende Gestalt der preußischen, deutschen, ja auch der Weltgeschichte. Der Begriff lehnt sich an das starre, bis ins Letzte ausgefeilte Hofprotokoll an, das in nachchristlicher Zeit im Byzantinischen Reich von den oströmischen Kaisern gepflegt wurde. Solange Kaiser Wilhelm II. an der Macht war, musste man mit Kritik an seiner Person sehr vorsichtig sein. Wer es nicht war, riskierte Prozesse wegen Majestätsbeleidigung.

Als der Historiker, Publizist, Pazifist und Friedensnobelpreisträger von 1927 Ludwig Quidde den unter römischen Kaisern verbreiteten Cäsarenwahnsinn analysierte, machte er sich mit seinen Analysen bei Hofe ausgesprochen unbeliebt. Zwar meinte Quidde mit seiner 1894 veröffentlichten und danach immer wieder neu aufgelegten Streitschrift den römischen Kaiser Caligula, doch wurde seine Kritik an maßloser Selbstüberschätzung und dem Glauben an die eigene Göttlichkeit sowie Verschwendungssucht, Grausamkeit, Willkür und dem krankhaften Bedürfnis, durch militärische Erfolge zu glänzen, mehr oder weniger deutlich auf die Person Wilhelms II. übertragen. Zwar ließ sich gegen das Buch "Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn" fachlich nichts einwenden, doch handelte sich der Verfasser wegen anderer kaiserkritischer Äußerungen einen Prozess wegen Majestätsbeleidigung ein. Der zu dreimonatiger Haft verurteilte Historiker, der den Glauben an die eigene Göttlichkeit, Verschwendungssucht, theatralischer Schein, Heißhunger nach militärischen Triumphen und eine Neigung zum Verfolgungswahn angeprangert hatte, war gesellschaftlich erledigt. Doch da er nicht unvermögend war, konnte seine ganze Kraft der aufstrebenden Friedensbewegung widmen und sich als Publizist und Zeitungsherausgeber ganz diesem Thema widmen.

Was von dem römischen einigen Kaisern unterstellten Cäsarenwahn stimmt, ist unter Althistorikern umstritten. Man muss die Leistungen und Verhaltensweisen jedes dieser "Kaiser und Kaiserlinge" prüfen, wie Johann Wolfgang von Goethe einmal formulierte, und kommt möglicherweise zu der Erkenntnis, dass sich der vermutete Cäsarenwahn kaum von dem unterschied, wie sich neuere Herrscher bis Wilhelm II. und Diktatoren wie Hitler, Stalin und andere darstellten und mit ihren Untertanen umsprangen.

12. April 2021

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"