Besonders wohl und kompetent fühlte sich Kaiser Wilhelm II. auf dem Gebiet der Kunst und als deren oberster Richter. Selbst ein wenig zeichnend, mischte er sich in künstlerische Schaffensprozesse ein und verlangte bei Staatsbauten sowie Denkmälern, Gemälden und anderen Arbeiten Nachbesserungen. Was ihm nicht in den Kram passte, tat er als minderwertig, ja als "Rinnsteinkunst" ab und erschwerte den Vertreter des Impressionismus und der Avantgarde das Leben und Arbeiten. Auf der anderen Seite förderte er Projekte, wenn sie seiner Verherrlichung und der seiner Familie dienten. Dazu öffnete er, wie er stets bemerkte, seine "Schatulle", die durch staatliche Zuwendungen und privates Einkommen gut gefüllt war.
Als am 18. Dezember 1901 die letzte, Kurfürst Johann Georg betreffende Denkmalgruppe der im Berliner Tiergarten aufgestellten Siegesallee mit brandenburgischen Markgrafen und Kurfürsten sowie preußischen Königen enthüllt wurde, war der kaiserliche Stifter des Lobes voll. Endlich war er am Ziel, jetzt konnte die Welt sehen, welch ein großer Mäzen über die Deutschen herrscht. Außerdem konnte man es all den Nörglern, Kritikastern und Banausen zeigen, die, undankbar, unsensibel und ignorant, einfach nicht die Größe seines Geniestreichs verstehen wollen und das große Werk nur aus ihrer Froschperspektive be- und verurteilen. Wenn es Unzulänglichkeiten gab, sei das nicht ihm, sondern allenfalls Beratern und Künstlern anzulasten, lautete der Tenor einer kaiserlichen Dankesrede. Unterschwellig gab Wilhelm II. zu verstehen, dass das Ergebnis besser gewesen wäre, wenn man bessere Künstler zur Verfügung gehabt hätte.
Gefundenes Fressen für Witzblätter
Bei der Fertigstellung der aus 33 Herrscherfiguren aus Marmor bestehenden Siegesallee, deren Reste in der Spandauer Zitadelle mit weiteren von Berliner Straßen entfernten Standbildern ausgestellt sind, ließ der Kaiser im Dezember 1901 die anwesenden Bildhauer und mit ihnen die Öffentlichkeit wissen, was er von "sogenannten modernen Kunstströmungen" hält, nämlich nichts. In der sogleich veröffentlichten und damit von höchster Stelle als wichtig fürs Volk bewerteten Rede fiel auch das böse Wort "Rinnsteinkunst", und zwar dort, wo der Kaiser heftig gegen "sogenannte moderne Richtungen und Strömungen" wetterte. Gleich am Beginn seiner Grundsatzrede sagte er: "Ich ergreife die Gelegenheit mit Freuden, um Ihnen allen, erstens meine Glückwünsche und zweitens meinen Dank auszusprechen für die Art und Weise, in der Sie mir geholfen haben, meinen ursprünglichen Plan zu verwirklichen". Das "Experiment" Siegesallee dürfe als gelungen betrachtet werde. Ihr Eindruck sei ein ganz überwältigender, überall mache sich ein ungeheurer Respekt für die deutsche Bildhauerei bemerkbar.
Der Monarch übertrieb bei der Beschwörung gewaltig, denn die Wirkung der Siegesallee war allenfalls folkloristischer Natur, und die Absicht, Werbung für die Hohenzollern und ihr Werk zu betreiben, um den Titel eines berühmten Buches von Otto Hintze von 1915 aufzugreifen, kehrte sich nicht zuletzt wegen vielfältiger Mängel gegen den Urheber. So blieb nicht aus, dass sich Witzblätter, Karikaturisten und Kabarettisten über die Errungenschaft aus Marmor hermachten und sie in der Luft zerrissen. Verächtlich wurde die stumme Ansammlung der sich über halbrunden Sitzbänken erhebenden Herrscherfiguren und ihrer seitlichen Paladine Puppenallee, Marmorameer oder schlicht teure Vogelscheuchen genannt. Über hundert später wird man die in Resten erhaltene Siegesallee beim Besuch der Spandauer Zitadelle ganz sicher wohlwollender beurteilen.
So genannte moderne Kunstströmungen
Die Fertigstellung der Siegesallee bot der höchsten Autorität im Reich Gelegenheit, Nörgeleien abzuwehren und durch Lobeshymnen auf die Siegesallee deren Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Wortwahl lässt allerdings vermuten, dass Seine Majestät wohl doch leise Zweifel an der Qualität des Resultats hatte, als er sagte: "Ich glaube daher, dass wir auf die Siegesallee von diesem Standpunkt aus mit Befriedigung allerseits zurückblicken können. Sie haben, ein jeder in seiner Art, Ihre Aufgabe gelöst." Wenn die Künstler die Aufgaben "in ihrer Art" gelöst haben, und zwar nur gelöst und nicht etwa gut oder hervorragend gelöst, dann heißt das nichts anderes, dass da noch mehr herauszuholen gewesen wäre. Er habe den Künstlern das vollste Maß der Freiheit und Muße gelassen, behauptete der Redner und schränkte seine angebliche Großzügigkeit sogleich mit dem Zusatz ein, "wie ich es für den Künstler für notwendig halte. Ich bin nie in die Details hineingegangen, sondern habe mich begnügt, einfach die Direktive, den Anstoß zu geben. Aber mit Stolz und Freude erfüllt mich am heutigen Tage der Gedanke, dass Berlin vor der ganzen Welt dasteht mit einer Künstlerschaft, die so Großartiges auszuführen vermag. Es zeigt sich, dass die Berliner Bildhauerschule auf einer Höhe steht, wie sie wohl kaum je in der Renaissancezeit schöner hätte sein können".
Dass der Kaiser beim festlichen Abschluss der Arbeiten an der Siegesallee erklärte, die Künstler nicht beeinflusst zu haben, war eine reine Schutzbehauptung. Sie gewann nicht durch ständige Wiederholung von offiziöser Seite an Glaubwürdigkeit. Ein bekanntes Beispiel, das des Kaisers angebliche Zurückhaltung in Kunstdingen widerlegt, ist der Märchenbrunnen im Berliner Volkspark Friedrichshain, bei dem sich der Monarch massive Eingriffe in den Entwurf des Stadtbaurats Ludwig Hoffmann erlaubte. Obwohl der Brunnen auf städtischem Boden, mit Geldern der Stadt Berlin und von einem städtischen Beamten projektiert wurde, mischte sich der Kaiser ein. Hoffmann sah sich zu Überarbeitungen gezwungen. Wieder einmal hatte der Kaiser, der sich als höchste Kunstinstanz im Reich sah, städtische Mitbestimmung ausgesetzt.
Viel Feind, viel Ehr, mag das Motto für die Art und Weise gewesen sein, wie der Herrscher mit Kritik, vorausgesetzt sie erreichte ihn überhaupt, fertig wurde. Nachdem er bei dem Festbankett den neben ihm sitzenden Reinhold Begas als künstlerischen Leiter über den grünen Klee gelobt und die Anwesenden vor "sogenannten modernen Richtungen und Strömungen" gewarnt hatte, holte er die Katze aus dem Sack, indem er als unumstößliches Gesetz festlegte: "Eine Kunst, die sich über die von mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, ist Fabrikat, ist Gewerbe, und das darf die Kunst nie werden.[...] Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen als es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit, und wenn wir hierin den anderen Völkern ein Muster sein und bleiben wollen, so muss das ganze Volk daran mitarbeiten, und so soll die Kultur ihre Arbeit voll erfüllen, dann muss sie bis in die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn die Kunst die Hand dazu bietet, wenn sie erhebt, statt dass sie in den Rinnstein niedersteigt!" Konformisten und Konservative waren begeistert, weil der Monarch es endlich den Impressionisten, Sezessionisten und Modernisten gegeben und einer patriotischen Erziehung und Propaganda mit Hilfe von Kunst das Wort geredet hatte. Die Gescholtenen nahmen es gelassen, der diskriminierende Begriff avancierte sogar zu einer Art Gütesiegel, weil er jemand bezeichnete, der nicht zur offiziellen Hofkunst, sondern zur Avantgarde gehört.
Bei seinen Donnerworten mag Wilhelm II. auch Menschen im Auge gehabt haben, die sich wie einige Zeit später der Direktor der Berliner Nationalgalerie Hugo von Tschudi oder der Maler Max Liebermann wegen ihres Eintretens für impressionistische Kunst in die Nesseln gesetzt haben. Kategorisch forderte der Kaiser, die exklusive Hängung der von ihm abgelehnten "Bildwerke der modernen Kunstrichtung zum Teil ausländischen Ursprungs" in der Berliner Nationalgalerie rückgängig zu machen, womit unter anderem Werke französischer Impressionisten gemeint waren, die heute große Begeisterung auslösen. Statt ihrer sollten die "Zeugnisse nationaler Kunst" wieder an die alte, hervorragende Stelle zurück gebracht werden. Wie diese aussah, konnte man in dem zur preußischen Ruhmeshalle umfunktionierten Berliner Zeughaus sehen, wo Herrscher- und Schlachtengemälde neben und übereinander hingen und Monarchen- und Generalsfiguren dicht bei dicht standen. Künftig müssten auch alle Neuerwerbungen von ihm genehmigt werden, bestimmte der Monarch. Die Zurückweisung offiziell unerwünschter Künstler führte 1898 zur Gründung der Berliner Secession als Gegenpol zu dem akademischen Kunstbetrieb. Namhafte Vertreter der Moderne schlossen sich der Gruppe an und verschafften Berlin als Zentrum erst des Impressionismus und später des Expressionismus nationale und internationale Bedeutung. Was der Kaiser vorgab und was nicht immer nach seinen Wünschen geschaffen wurde, haben die Nationalsozialisten 30 Jahre später auf brutale Weise und mit Hilfe ihrer Rassengesetze im Kampf gegen so genannte entartete Kunst durchgesetzt.
Hier Rose, dort vertrocknetre Topfpflanze
Vom Kaiser ins Visier genommene Künstler wie Hans Baluschek, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz, Walter Leistikow, Max Liebermann, Max Slevogt und Heinrich Zille sowie die französischen Impressionisten standen in einem, wie der Monarch meinte, krassen Gegensatz zu dem, was er offiziell als ästhetisch, schön, christlich, erbaulich, vornehm, nützlich, patriotisch und deutsch ansah, kurzum was er zur deutschen Leitkultur rechnete, wie wir heute sagen würden. Die 1898 gegründete "Berliner Secession" war ein Zusammenschluss gegen den herrschenden Akademismus und die Kunstpolitik des Kaisers, vertreten durch den Hofmaler Anton von Werner und seinen Kollegen, den Bildhauer Reinhold Begas. Auf einem Plakat zur Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes im Jahr 1905 schildert Theodor Thomas Heine, wie eine dunkel gekleidete Frau Rosen aus dem Rinnstein pflückt, während eine vornehme Renaissance-Dame einen Topf mit einer vertrockneten Blume fort trägt.
Kurt Tucholsky schrieb 1907 ein Märchen. Es sei einmal ein Kaiser gewesen, der über ein unermesslich großes, reiches Land herrschte. In seiner Schatzkammer habe eine Flöte gelegen, ein merkwürdiges Instrument. "Wenn man nämlich durch eins der vier Löcher in die Flöte hineinsah - oh! Was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft drin, klein, aber voll Leben: Eine Thomasche Landschaft mit Böcklinschen Wolken und Leistikowschen Seen. Rezniceksche Dämchen rümpften die Nasen über Zillesche Gestalten, und eine Bauerndirne Meuniers trug einen Arm voll Blumen Orliks - kurz, die ganze moderne Richtung war die Flöte. Und was machte der Kaiser damit? Er pfiff darauf."
26. November 2021
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