"Die Hohenzollern und ihr Werk"
Alte Bücher neu gelesen - Otto Hintze, der Autor eines berühmten Werkes über Preußen, und seine Frau Hedwig wurden Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns



Otto Hintze war Professor für Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte sowie Politik und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Als Autor eines Grundlagenwerks von 1915 über die Hohenzollern wird er auch heute zitiert. Uns liegt die 6. Auflage (sechstes Zehntausend) vor, erschienen im Verlag von Paul Parey in Berlin. Das Buch hat 704 Seiten, ist in 12 Kapitel gegliedert und besitzt ein umfangreiches Personenregister.



Die Miniatur schildert, wie König Sigismund (ab 1433 römisch-deutscher Kaiser) am 30. April 1415 den Nürnberger Burggrafen Friedrich von Hohenzollern mit der Markgrafschaft Brandenburg belehnte. Zwei Jahre später erhob Sigismund ihn in Konstanz zum Kurfürsten und Markgrafen von Brandenburg. Mit diesem Akt begann der Aufstieg der aus Süddeutschland stammenden Dynastie, die gut 500 Jahre später mit ihresgleichen im Orkus der Geschichte verschwand, aber von den neuen Herrn der Weimarer Republik mit Respekt behandelt wurde. Eine Volksbefragung von 1926 über die Enteignung der alten Fürstenhäuser endete damit, dass ihnen fast der gesamte Besitz überlassen wurde.





Zwei Große der brandenburgisch-preußischen Geschichte, Kurfürst Friedrich Wilhelm und König Friedrich II., spielen in der borussischen Geschichtsschreibung eine herausragende Rolle, und auch Otto Hintze hat dem Begründer des hohenzollernschen Gesamtstaates, dargestellt als Feldherr von Adolph Menzel, Kurfürst Friedrich Wilhelm (oben) holte sein Land mit starker Hand, aber auch unterstützt von klugen Beratern aus dem Elend des Dreißigjährigen Kriegs und machte aus ihm vor allem im Kampf gegen Schweden und Frankreich eine allgemein respektierte Macht, mit der andere Fürsten in Europa rechnen mussten. Hintze hat Friedrich dem Großen, dargestellt auf einem Kupferstich von Bernhard Rohde anlässlich der Gründung des deutschen Fürstenbundes, tiefgründige Analysen gewidmet, die allerdings heute, über hundert Jahre später, kritisch hinterfragt werden müssen.





Der Kupferstich zeigt die Huldigung des Großen Kurfürsten im Hof des Berliner Schlosses vor dessen Umbau unter Friedrich III./I. Am Bau der gezackten Festungsanlagen um Berlin und Cölln wurden deren Bewohner mit militärischer Gewalt regelrecht gepresst.





König Friedrich Wilhelm IV. setzte seinen Grundsatz "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" rücksichtslos durch und lieh lieber erzkonservativen Höflingen und Politikern sein Ohr als auf sein Volk zu hören, das Freiheit, deutsche Einigung und eine markante Verbesserung der Lebenslage verlangte. Als in Berlin und anderswo die Menschen auf die Barrikaden gingen und Hunderte von ihnen unter dem Kugelhagel preußischer Soldaten starben, versuchten Friedrich Wilhelm IV. und seine Kamarilla mit frommen, beschwichtigenden Worten, die allgemeine, bis in die Mittelschichten und adlige Kreise reichende Volkswut zu dämpfen. Die Karikatur zeigt, wie sich der König vor den Toten der Märzrevolution verbeugt und ein Jahr später dem Volk seinen Willen aufzwingt.



Von Hofschranzen umschwärmt, feiert Wilhelm II. auf der Karikatur 1913 sein 25jähriges Thronjubiläum. Überall sind Männer dabei, des Kaisers Lob zu singen und ihn zu bedichten und zu malen. Am Thron stellen Kolonialsoldaten ihre Stiefel in den Nacken niedergeworfener Afrikaner und Chinesen. Im Vordergrund greifen Großagrarier zur Weltmacht.

Die Hohenzollern sind ins Gerede gekommen, seitdem sie auf gerichtlichem Wege Enteignungen nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Sowjetische Besatzungsmacht rückgängig machen oder wenigstens für ihre Verluste entschädigt werden wollen. Mit ihren Rückforderungen haben sich die Nachkommen des ehemaligen Kaiser- und Könighauses einen Bärendienst erwiesen. Denn es wird für sie wenig schmeichelhaft und öffentlich diskutiert, wie sehr sich Kronprinz Wilhelm, der älteste Sohn von Kaiser Wilhelm II., genannt "der Letzte", als Steigbügelhalter von Hitler betätigt und diesem nach eigenem Bekunden mindestens zwei Millionen Wähler zugeführt hat. Wilhelm tat dies in der Hoffnung, mit Hilfe der Nazis die 1918 abgeschaffte Monarchie wiederherstellen zu können. Wie sollten sich der Kronprinz und seine Freunde irren! Hitler betrachtete die Hohenzollern und die anderen in der Novemberevolution ihrer Kronen verlustig gegangenen Dynastien nur als "nützliche Idioten" und war nicht bereit, ihnen auch nur einen Zipfel Macht zu überlassen. Im Zweiten Weltkrieg verbot er sogar Angehörigen der alten Dynastien den Dienst in der Wehrmacht, weil er im Falle ihres "Heldentods" keine royalen Märtyrer haben wollte.

Die Nationalsozialisten bedienten sich der Hohenzollern bei der Errichtung ihre Diktatur und als Kulisse am "Tag von Potsdam". Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte am 21. März 1933 in der Garnisonkirche vor den Gräbern der Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., des Großen, die Macht in die Hände des Reichskanzlers Adolf Hitler gelegt und damit die "Einheit von alter Macht und neuer Größe" beschworen. Kronprinz Wilhelm und seine Brüder gaben durch ihre Anwesenheit dem Staatsakt ihren Segen, und so mögen manche Deutsche ihre Vorbehalten gegen die braunen Schläger aufgegeben und sich ihnen, den Hohenzollern und ihresgleichen folgend, angeschlossen haben.

Noch manche Leichen im Keller

Zu vermuten ist, Prinz Georg Friedrich von Preußen, der heutige Chef des Hauses Hohenzollern, und seine Familie neidisch nach Bayern schauen, wo Angehörige der 1918 abgehalfterten Wittelsbacher vom Staat großzügig alimentiert wurden. Georg Friedrich tut aus seiner Sicht nur das, was auch anderen zusteht, nämlich wirkliches oder vermeintliches Eigentum einzufordern. Das ist sein gutes Recht, denn er wird sich fragen, was er mit den Verfehlungen seiner Vorfahren zu tun hat. Nun müssen die Gerichte entscheiden, und man darf gespannt sein, wie das Verfahren ausgeht. Nicht unwahrscheinlich ist, dass dabei noch manche "Leichen im Keller" gefunden werden. Denn Historiker werden als Gutachter alles dafür tun, die dubiose Rolle des Kronprinzen Wilhelm, seines Bruders, SA-Gruppen-führer August Wilhelm, und des im holländischen Exil altem Glanz nachtrauernden Ex-Kaisers Wilhelm II. als "Hitlers willige Helfer" offenzulegen. Wie sehr die heutigen Hohenzollern die geschichtliche Wahrheit fürchten, zeigt die Tatsache, dass sie ihnen nicht genehme Autoren mit Unterlassungsklagen überziehen und sich in Buch- und Ausstellungstexte einmischen, wenn sie missliebige Aussagen vermuten. Da bei uns die Freiheit der Wissenschaft durch das Grundgesetz garantiert ist, und es gibt keine Zensur. Deshalb dürften solche in den Medien als Einschüchterung angeprangerten Versuche kaum Erfolg haben.

Als der Berliner Historiker Otto Hintze 1915, im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, sein Buch "Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländische Geschichte" veröffentlichte, war nicht abzusehen, dass in wenigen Jahren diese Dynastie und die anderen Fürstenhäuser und mit ihnen eine ganze Epoche krachend im Orkus der Geschichte verschwinden werden. Anlass für das Buch war die Erhebung des Burggrafen Friedrich von Nürnberg aus dem Haus Hohenzollern am 30. April 1415 durch König Sigismund (ab 1433 Kaiser Sigismund) zum Kurfürsten und Markgrafen von Brandenburg. Der Verfasser zitiert gleich eingangs einen englischen Schriftsteller, der meinte, die preußische Geschichte sei unendlich langweilig, weil darin so viel von Kriegen und so wenig von Revolutionen die Rede sei. Dem hält Hintze mit Blick auf giftige und hasserfüllte Anfeindung und Verleumdung aus dem Lager der der Kriegsgegner entgegen, der Staat und das Fürstengeschlecht, von dem das Buch redet, "kämpft um sein Dasein in einem Kriege, wie ihn schwerer, gewaltiger, großartiger die Weltgeschichte bisher nicht gesehen hat. Die politische Eigenart unseres Volkes, die straffe militärisch monarchische Zucht, die Preußen und Deutschland befähigt hat, in der Mitte des europäischen Festlandes, umdrängt von starken und missgünstigen Nachbarn, sich ein selbstständiges Dasein zu erringen und dem deutschen Namen Achtung in der Welt zu verschaffen" sei in der Hauptsache ein Werk der Hohenzollern.

Koloss auf tönernen Füßen

Sich auf die Seite der Kriegsgegner im Deutschen Reich zu stellen, die bis Kriegsbeginn am 1. August 1914 machtvoll ihre Stimme erhoben hatten, dann aber auf die Burgfriedenspolitik des Kaisers umgeschwenkt waren, und den unentwegt mit Kriegen und Eroberungen befassten Hohenzollern die Maske vom Gesicht zu reißen, ja auch am Image Wilhelms II. als "Friedenskaiser" zu kratzen, war Otto Hintzes Sache nicht. Er enthält sich jeder Kritik an dessen Selbstherrschertum und seinen kriegshetzerischen Reden. Indem er sein Werk als eine schlichte, leidenschaftslose Darstellung charakterisiert, schreibt Hintze: "Es ist keine Apologie, die hier geboten wird, sondern eine einfache Geschichtserzählung, [...] ein Buch, das vor allem nach wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit strebt." Es mag sein, dass der Kaiser und sein Anhang in "Die Hohenzollern und ihr Werk" größere Erwartungen gesetzt haben, eine leidenschaftlichere Verherrlichung des Herrscherhauses und seiner Spitzen, aber auch so ist in weiten Teilen ein Lobgesang auf die Taten der Hohenzollern.

Otto Hintze hätte das Thema nach eigenem Bekunden in mehreren fünf Bänden mit einem gewaltigen Anmerkungsapparat und Literaturanhang behandeln können. Aber er beließ es bei diesem einen Buch, von dem er überzeugt war, dass der darin gewürdigten Dynastie eine lange Zeit und große Zukunft beschieden ist. Dass das Haus Hohenzollern ein Koloss auf tönernen Füßen und ihre Zeit abgelaufen ist, hat der Verfasser im Unterschied zu anderen Zeitgenossen nicht gesehen. "Wir hoffen, dass auch in der Erregung der Gegenwart der Sinn für die vorurteilslose Betrachtung der Vergangenheit nicht verloren ist; er wird auch dazu helfen, die großen Dinge, die wir erleben, recht zu verstehen und in guten und schlimmen Tagen mit dem Glauben an die Zukunft unseres Volkes und unseres Vaterlandes auch die Treue des angestammten Herrscherhauses zu stärken, das jetzt ein halbes Jahrtausend hindurch mit seinen Schicksalen verbunden ist."

Deutschlands Platz an der Sonne

Um zu sehen, wie Otto Hintze die Hohenzollern und ihr Werk betrachtet und wertet, sollten seine über hundert Jahre alten Schilderungen genauer betrachtet werden, und wir wollen dies an einigen Beispielen tun. Es geht pars pro toto um das Aufbegehren Berliner Bürger im Jahr 1448 gegen kurfürstliche Machtansprüche, ferner um den unter dubiosen Umständen erfolgten Aufstieg des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. zum König Friedrich I. "in" Preußen, und wie es zur Revolution von 1848/9 kam, die von preußischen Truppen gewaltsam niedergeschlagen wurde. Schließlich soll gezeigt werden, was der - mit achteinhalb Druckseiten recht dürftig bedachte - Kaiser Wilhelm II. unternahm, seinem Reich einen "Platz an der Sonne" zu verschaffen und mit den sozialen und ökonomischen Spannungen fertig zu werden. "Was die Hohenzollern unserem Volke hindurch geworden sind, lehrt dieses Buch in schlichter, wahrheitsgetreuer Darstellung. Möge das erlauchte Haus auch in Zukunft unserem Vaterlande Fürsten geben, die es zu Macht und Wohlfahrt führen! Denn eine starke monarchische Führung wird unsere Zukunft ebenso wenig entbehren können, wie die vom Lärm der Waffen erfüllte Gegenwart", fasst Otto Hintze seine Wünsche am Ende von "Die Hohenzollern und ihr Werk" zusammen. Wie er den Zusammenbruch der Monarchie erlebte und mit der neuen Republik klar kam, müssten weitergehende Forschungen zeigen.

Beim "Berliner Unwillen" empörten sich die Bewohner der Doppelstadt Berlin-Cölln gegen den Bau einer kurfürstlichen Zwingburg, aus der sich später das Berliner Schloss entwickelte, das nach dem Abriss 1950 auf Befehl der SED in den vergangenen Jahren als Humboldt-Forum seine Wiedergeburt erlebte. Kurfürst Friedrich II., genannt Eisenzahn, "dämpfte" den Aufstand zur Wiederherstellung der städtischen Autonomie, wie Hintze schreibt, und die fürstliche Gewalt trug einen vollständigen Sieg davon. Mit Berlin und Cölln, den damals mächtigsten Gemeinden im Lande, sei auch den anderen Städten in der Mark "die Lust zum Widerstand gegen die landesherrliche Gewalt benommen" worden. Bis zur Revolution von 1848 getrauten sich die von den Hohenzollern eingeschüchterten und gegängelten Untertanen nicht, ihre Hand gegen die Obrigkeit zu erheben.

Gewalt gegen querulierende Landeskinder

Dass die Kurfürsten und Könige sofort mit ihrem Militär zur Stelle waren, wenn "querulierenden Landeskinder" ihnen Ärger bereiteten, gar im 19. Jahrhundert Mitbestimmung und eine Verfassung forderten gab, hat Hintze nicht unterschlagen, aber eher nur am Rande erwähnt. Das betrifft unter anderem die Zwangsarbeit, die die Berliner zum Bau eines Festungsgürtels leisten mussten, weshalb sie gegen das kurfürstliche Regiment aufbegehrten. Wo immer Widerstand aufflackerte, ließ Friedrich Wilhelm seine Soldaten anrücken und ihn niederschlagen. Ähnliches ist auch aus der Zeit des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. bekannt, der aufsässige Handwerker kurzerhand aufhängen ließ. Auch vor und nach ihnen gingen die Hohenzollern mit aufsässigen Untertanen wenig zimperlich um. Nach den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815, denen Hintze eine umfangreiche Analyse widmet, wurden unter Friedrich Wilhelm III. die Zügel straff angezogen und jede Art von Opposition als "demagogische Umtriebe" unbarmherzig mit Entlassungen, Zuchthaus und andern Strafen geahndet. Überdies wurde die Pressezensur, die es schon vorher gab, aufgrund der Karlsbader Beschlüsse von 1819 streng angewendet, und sie war es, deren Abschaffung dreißig Jahre später ganz oben auf dem Forderungskatalog der Revolutionäre und anderer für demokratische Mitbestimmung und gegen das Fürstenregime kämpfender Menschen stand.

Wie der von seinem Enkel König Friedrich II. als eitel und geltungssüchtig charakterisierte sowie barockem Prunk und Pomp sowie zweifelhaften Karrieristen erlegene Kurfürst Friedrich III. an seine auf das Herzogtum Preußen (Ostpreußen) mit Königsberg als Hauptstadt bezogene Königskrone gelangte, nimmt bei Otto Hintze viel Raum ein. Dass der Hohenzoller dem um Zustimmung gebetenen Kaiser Leopold I. für das Königsprojekt durch "Lieferung" von 8000 zur Verteidigung der österreichischen Ansprüche auf die spanische Erbfolge schmackhaft machte und dass Brandenburger für fremde Interessen auf europäischen Schlachtfeldern verbluteten, ist Hintze nur wenige Zeilen wert. Aber solche Soldatenverkäufe waren alltäglich, denn der Zweck heiligte die Mittel, und die als Kanonenfutter missbrauchten Landeskinder hatten zu gehorchen. Die links gerichtete und liberale Publizistik und Historiographie ließ "in Kaisers Zeiten" keine Gelegenheit aus, die das strahlende Bild von den Hohenzollern als fürsorgliche Landesväter und kluge Landvermehrer trübenden Fakten anzuprangern.

Architekt, Unteroffizier, Zuchthäusler, Trinker

Dass sich der auch "Romantiker auf dem Thron" genannte Friedrich Wilhelm IV. sich und seine Brüder kritisch sah, ist selbstverständlich n i c h t bei Otto Hintze zu finden. Ob der Gelehrte dieses von einer hochgestellten Dame überlieferte, wenig freundliche Bekenntnis des Königs in einer Tafelrunde von 1858 kannte, wissen wir nicht: "Wenn wir als Söhne eines einfachen Beamten geboren worden wären, so wäre ich Architekt geworden, Wilhelm Unteroffizier, Carl wäre ins Zuchthaus gekommen und Albrecht ein Trinker geworden". Dieses Selbstzeugnis passte nicht in das Bild, das Hintze von den Hohenzollern malte, die nach eigenem Verständnis ihre Würde von Gott erhalten und von niemand anderem. Friedrich Wilhelm IV., der sicher ein guter Architekt geworden wäre und dem Preußen hervorragende Bauwerke verdankt, handelte in der Revolution von 1848/9 ausgesprochen unglücklich. Als Ursachen zählt Hintze die elende Lebenslage breiter Volksschichten, Hungersnöte und ansteckende Krankheiten auf, aber auch die "gewissenlose politische Agitation, um die unter der Decke alltäglicher Lebensgewohnheiten glimmende Unzufriedenheit , die in manchen Provinzen bis weit in den noch keineswegs überall befreiten Bauernstand hineinging, zur lodernden Flamme zu entfachen."

Das ist diplomatisch formuliert, denn der Gegensatz zwischen Oben und Unten, zwischen Glanz und schreiendem Elend war so groß, dass es nur noch eines Funkens bedurfte, um die Bombe explodieren zu lassen. Dass Bettina von Arnim den König in einem ihm gewidmeten Buch auf unhaltbare Zustände in den Berliner Armenvierteln aufmerksam machte und soziale Unruhen voraussagte, ist Otto Hintze keine Zeile wert. Die Schriftstellerin wird mit Rahel Varnhagen lediglich als weibliche Protagonistin des geistigen und geselligen Lebens in Berlin erwähnt, ähnlich wie die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, die "richtungweisend in der Wissenschaft wirkten".

Spitzelwesen und Denunziantentum

Der Revolution vom 18. März 1848 in Berlin waren bewaffnete Erhebungen in Paris, Wien und an anderen Orten sowie der Aufstand der schlesischen Weber (1844) und Hungerkrawalle in Preußen (1847) vorangegangen. Dass die Revolution in der preußischen Hauptstadt trotz rascher Reformversprechungen und der Entlassung unbeliebter Minister binnen weniger Tage siegreich war und den König samt Familie und Anhang das Fürchten lehrte, führt Hintze auf "zugereiste Agitatoren" aus Polen und dem Rheinland zurück und übernimmt damit die Argumentation des aufs höchste alarmierte und zeitweilig um seinen Kopf besorgten Monarchen. Der König habe das Blut seiner "lieben Berliner" nicht vergießen wollen, schreibt Hintze, aber wir müssen hinzufügen, dass er genau dies im Interesse seines Machterhalts tat und auch später keine Skrupel hatte, nach dem Motto "Gegen Demokraten helfen nur Soldatgen" Truppen unter dem Befehl seines Bruders Wilhelm zur Niederschlagung des Aufstandes in Baden und an anderen Stellen einzusetzen. Das Blutbad, das der spätere König und ab 1871 Kaiser Wilhelm I., in Baden anrichtete, war Hintze nur wenige Zeilen wert: "Der Prinz von Preußen warf an der Spitze von zwei Armeekorps die badische Revolution nieder und eroberte die von den Aufständischen genommene Festung Rastatt zurück, worauf der Großherzog in sein Land heimkehrte." Um die Königsherrschaft auszubauen, wurden politisch Verdächtige, gerade solche in höchsten Kreisen, vielfach von der Polizei überwacht, "so dass Spitzelwesen und Denunziantentum auf eine ungesunde Weise ins Kraut schossen."

Otto Hintze widmet dem amtierenden Kaiser Wilhelm II. nur wenige Seiten, was bei seiner über 25-jährigen Regentschaft ab 1888 erstaunlich wenig ist. Er berichtet im letzten Abschnitt seines Buches über die Auseinandersetzungen des mit 29 Jahren nach dem Tod seines Vaters, des todkranken 99-Tage-Kaisers Friedrich III., auf den Thron als deutscher Kaiser und König von Preußen gelangten Wilhelm II. mit Reichskanzler Otto von Bismarck und wie der Monarch versuchte, durch einige Reformen sowie die Aufhebung der Sozialistengesetze die zumeist in elenden Verhältnissen lebenden Arbeiter auf seine Seite zu ziehen und der aufstrebenden Sozialdemokratie Wind aus dem Segel zu nehmen. Der durch und durch Kaiser von seinem Gottesgnadentum und seiner eigenen Größe überzeugte Monarch versprach seinem Volk einen "Platz an der Sonne" und drohte seinen Gegnern mit Gewehrkugeln und der Schärfe des Schwertes.

Jetzt werden die eisernen Würfel geworfen

Der Verfasser beschreibt die Mühen des Deutschen Reiches, sich im Nachtrapp zu den anderen Kolonialmächten selber Kolonien anzuschaffen. Dass dabei von deutschen Truppen furchtbare Kriegsverbrechen begangen wurden, war in der Kaiserzeit kein großes Thema und ist es auch in Hintzes Buch nicht. Er lobt das Regime Wilhelms II. als eines, das dem Land einen starken Fortschritt im Handel und Verkehr, Landwirtschaft, Industrie, Technik und Wissenschaft, Wohlfahrt und Gesittung des Volkes und beschuldigt feindselige Mächte, den Deutschen diese Errungenschaften zu neiden. Die gute Entwicklung sei durch die Mordtat von Sarajewo und den "ungeheuren Weltkrieg" jäh unterbrochen worden. "In diesem Kriege werden die eisernen Würfel geworfen um Sein oder Nichtsein der deutschen Weltmacht; die einst das Preußen Friedrichs des Großen im Siebenjährigen Kriege, so kämpft in diesen Tagen das Deutsche Reich unter seinem Hohenzollernkaiser um seine Existenz gegen eine Welt von Feinden. Wir hoffen und glauben, dass wir mit Gottes Hilfe durchhalten und einen Frieden erkämpfen werden, der den eisernen Druck von unseren Grenzen nehmen und uns mit einem frei gefundenen Volks- und Staatsleben im Innern zugleich auch eine ungehemmte Entfaltung unserer Kräfte nach außen bringen wird." Otto Hintze entlässt seine Leser im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs mit diesen Worten in die raue Gegenwart mit ihren furchtbaren Hiobsbotschaften von den Fronten und den zunehmenden Unruhen in der Heimat: "Was die Hohenzollern unserem Volke durch die Jahrhunderte hindurch geworden sind, lehrt dieses Buch in schlichter, wahrheitsgetreuer Darstellung. Möge das erlauchte Haus auch in Zukunft unserm Vaterlande Fürsten geben, die es zu Macht und Wohlfahrt führen" Denn eine starke monarchische Führung wird unsere Zukunft ebensowenig entbehren können, wie die vom Lärm der Waffen erfüllte Gegenwart."

Ausnahmehistorikerin und Außenseiterin

Der Berliner Professor Otto Hintze, der sich die Gegenwart und Zukunft der Deutschen nicht ohne das Haus Hohenzollern vorstellen konnte, gilt bis heute als einer der bedeutendsten Historiker des frühen 20. Jahrhunderts. Er hatte in seinem Seminar die angehende Historikerin und Spezialistin für die Geschichte der französischen Revolution Hedwig Guggenheimer kennengelernt, die aus einer jüdischen Bankiersfamilie in München stammte. Der 23 Jahre ältere, wissenschaftlich und in der Lebensart noch dem 19. Jahrhundert verbundene Gelehrte und die selbstbewusste Nachwuchswissenschaftlerin heiraten 1912. Die Ehe dürfte nicht einfach gewesen sein, zu groß waren der Altersunterschied, die Verschiedenheit in den Temperamenten und Lebensplanungen und wohl auch die politische und weltanschauliche Orientierung. Die Ehe hielt allen Probleme und Widrigkeiten stand. Hedwig Hintze, die dem Linksliberalismus nahestand, wurde 1928 an der Berliner Universität als erste Frau Privatdozentin für Neuere Geschichte. In Berliner Historikerkreisen des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik war sie eine Außenseiterin sowohl als Frau als auch als linksliberale Autorin sowie Jüdin. Bis heute wird ihre auf einer Habilitationsschrift beruhenden Studie "Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution" als Standardwerk geschätzt. Nach ihrer Habilitation lehrte sie an der Berliner Universität und führte dort bis dato wenig beachtete Themen wie die Geschichtsschreibung der Moderne ein.

Nach der Errichtung der NS-Diktatur 1933 verlor Hedwig Hintze, da sie Jüdin war, ihre Anstellung und Lehrberechtigung an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Sie arbeitete im Ausland weiter, vor allem in Frankreich. Otto Hintze legte aus Protest gegen die rassenpolitisch begründete Benachteiligung seiner Frau die Mitherausgeberschaft der von Heinrich von Sybel 1859 gegründeten "Historischen Zeitschrift" nieder, in der auch Hedwig Hintze für den Rezensionsteil zuständig war und viel publiziert hatte. Während der Nazizeit war dem berühmten Gelehrten, alte Verdienste hin, internationales Ansehen her, die Veröffentlichung wissenschaftliche Arbeit nicht mehr möglich. Er musste 1938 die Preußische Akademie der Wissenschaften verlassen, der er seit 1914 angehört hatte. Eine Anfrage der Akademie, ob er "jüdisch versippt" sei, beantwortete er schlicht mit "Ja" und erklärte seinen Austritt. Die von ihm verlangte Scheidung lehnte er ab. Mit seiner Frau, die in die Niederlande emigriert war, blieb er bis zu seinem Tod am 25. April 1940 brieflich verbunden. In Erwartung drohender Deportation in ein Vernichtungslager nahm sich Hedwig Hintze am 19. Juli 1942 in einer Utrechter Klinik das Leben.

Gedenktafeln in der Kastanienallee 28

Zwei 2010 am Wohnhaus Kastanienallee 29 nahe der U-Bahnhof Kaiserallee in Berlin-Charlottenburg gedenken des Ehepaars Hintze mit diesen Worten: "Hier lebte und arbeitete von 1933 bis 1940 OTTO HINTZE 27.8.1861 - 25.4.1940 Historiker. So harren wir der dunklen Schicksalswende / Die dies verworrene Trauerspiel beende! Aus einem Sonett Otto Hintzes vom 3. Januar 1940 für seine Frau HEDWIG HINTZE geb. Guggenheimer 9.2.1884 - 19.7.1942 Historikerin. Die NS-Rassegesetze zwangen die Frankreich-Historikerin Hedwig Hintze 1939 zur Emigration ins holländische Exil. Von der Deportation in ein Vernichtungslager bedroht, setzte sie ihrem Leben in Utrecht ein Ende. Otto Hintze blieb hochbetagt und fast blind in Berlin zurück, wo er nur wenige Monate nach der Flucht seiner Frau Hedwig vereinsamt starb." Wie in der Zeit des Nationalsozialismus die Forschungen und Schriften von Otto und Hedwig Hintze sowie anderer politisch und rassistisch "missliebiger" Personen behandelt wurden, ob man sie weiter zitierte und nutzte, wäre noch zu klären. 1. März 2021

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