Zwischen Mittelalter und Moderne
Alte Bücher neu gelesen - Victor Tissots wenig freundliche Reportagen über das Deutsche Reich und Berlin nach dem Krieg von 1870/1871



In Victor Tissots Deutschland-Buch spielen die führenden Köpfe des Kaiserreichs wie Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke, Wilhelm I. und Reichskanzler Otto von Bismarck ebenso eine Rolle wie die Lebensweise und Bildung der Deutschen, die Sehenswürdigkeiten einzelner Regionen und die Lebensweise der Menschen jenseits des Rheins.



Der Reporter sah sich im Kaiser-Wilhelm-Palais an der Ecke Unter den Linden/Opernplatz und vielen anderen Bauten um und schildert seinen Lesern in Frankreich, wer dort lebt und was dort geschieht. Das tut er hier mit Sympathie und dort mit zeitbedingt getrübtem Blick auf das Nachbarland, dem Frankreich Rache und Revanche für den verlorenen Krieg von 1870/71 schwor.



Mit fünf Talern Schmiergeld verschaffte sich der Reporter sich Zugang in das Reichskanzlerpalais an der Wilhelmstraße.



In der Berliner Börse wurden gute und schlechte Geschäfte gemacht. "Zu Beginn der Ära der Milliarden knallten hier während der Öffnungszeiten der Börse unaufhörlich die Sektpfropfen. Es war wie ein allerletztes Gewehrfeuer gegen Frankreich", schreibt Tissot.



Wenn Wilhelm I. die Linden mit der Universität und dem Zeughaus an der Seite entlang fuhr, waren ihm Hochrufe seiner Untertanen sicher, allerdings nicht von allen, denn es gab in seinem Reich auch eine immer stärker sich zu Wort meldende Opposition.



Das elende Leben im Obdachlosenasyl war Victor Tissot viele Worte wert, ebenso der schreiende Unterschied zwischen armen Leuten und denen, die viel Geld haben und weiteres zusammenraffen.



Ein Verkäufer preist vor dem Anhalter Bahnhof Zeitungen an.



Allzu viel Spott ertrugen weder die Hohenzollern noch der preußisch-deutsche Obrigkeitsstaat, wohl deshalb war das im Revolutionsjahr 1848 gegründete Satireblatt "Kladderadatsch" als Gegenpol so beliebt. Was zu sehr das herrschende Regime infrage stellte, fiel der Zensurschere zum Opfer oder wurde verboten. Dieses Schicksal erlitt in der Kaiserzeit der in München herausgegebene "Simplicissimus", den zu lesen preußischen Militärpersonen und Beamten verboten wurde.



Die Potsdamer Garnisonkirche war nicht nur Gotteshaus und Grablege der Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., sondern auch preußische Ruhmeshalle. Als gebildetem Mann dürfte Tissot gewusst haben, dass überall erbeute Fahnen aufgehängt und Kaiser Napoleon nach dem Sieg 1806/7 in den Königsschlössern systematischen Kunstraub betrieb, um sein Museum in Paris mit fremden Preziosen zu füllen. (Repros: Caspar)

Der Deutsch-Französische Krieg von 1870 71 hatte weitreichende Folgen. Das in zahlreiche Monarchien und Freie Städte zersplitterte Deutschland war, von Preußen dominiert, ein geeintes Kaiserreich geworden. König Wilhelm I. ließ sich im Schloss von Versailles, von Otto von Bismarck dazu genötigt, zum deutschen Kaiser ausrufen. Aus Frankreich strömten fünf Milliarden Goldfrancs Kontributionen ins Land, die die Wirtschaft im Deutschen Reich gewaltig ankurbelten. Um das Jahr 1874 bereiste der schweizerische Journalist Victor Tissot das Nachbarland, ein Mann, der sich als Franzose fühlte und auch so dachte und der in seinen Reportagen ein nicht eben freundliches Bild vom "Land der Milliarden" zeichnete, so der Titel eines 1875 von ihm veröffentlichten Buches. Die "Reportagen aus Bismarcks Reich - Berichte eines reisenden Franzosen 1874 bis 1876" kamen 1989 als Lizenzausgabe der Edition Erdmann im K. Thienemanns Verlag Stuttgart-Wien im Verlag Neues Leben Berlin (DDR) als ein von Erich Pohl herausgegebenes, übersetztes und kommentiertes Buch mit aufschlussreichen Schilderungen aus Tissots Feder heraus, ergänzt durch Holzstiche mit Szenen aus dem Land Wilhelms I. und Otto von Bismarcks.

Verriss durch die "Gartenlaube"

Victor Tissot veröffentlichte seine Reportagen erst in französischen Zeitungen und dann in einem mehrfach aufgelegten Buch, das sehr erfolgreich wurde, im Deutschen Reich aber nicht gut ankam. Die "Gartenlaube", das damals führende Unterhaltungs- und Informationsblatt für "bessere Stände", nannte es in ihrem Verriss ein Machwerk und schrieb in der Ausgabe 11/1876: "Man wird sich wohl noch erinnern, wie viel Staub dieses ,Voyage au pays des Milliards' dies- und jenseits der Vogesen aufwirbelte. In Frankreich machte sich der nationale Chauvinismus über das stark gepfefferte publicistische Gericht her, und in Deutschland war man begreiflicher Weise neugierig, das Bild kennen zu lernen, welches ein so erklärter Feind des neuen Reiches von deutschen Zuständen entworfen hatte. Die vielleicht nicht immer kluge wohlüberlegte Neugierde wirkte magnetartig und dies um so mehr, da die bittere Pille ganz artig gezuckert präsentirt wurde, denn abgesehen von dem etwaigen Werthe seines Buches, abgesehen von dem Grade der Gründlichkeit seiner Studien schreibt Tissot sehr genießbar. Man ärgert sich, ist entrüstet, wünscht den Autor zum Kukuk - aber man lacht. [...] Tissot hat sein Pariser Publicum in der Westentasche; er weiß es, wie Keiner, bei seiner schwachen Seite zu fassen; er weiß die Possenreißerei, die Uebertreibung, die Caricatur genau abzuwägen; er versteht es besonders, die Fiber des Nationalhasses in Schwingung zu setzen, wozu selbst ein geborener patriotischer Franzose nicht immer im Stande wäre."

Was Victor Tissot beschrieb, prägte nicht unwesentlich das Bild der auf Revanche sinnenden Franzosen von dem verhassten, sich zwischen Mittelalter und Moderne bewegende Nachbarland, das das im Krieg von 1870/71 unterlegenen Reich Kaiser Napoleons III. gedemütigt, ihm Elsass-Lothringen entrissen und darüber hinaus einen gewaltigen Geldberg als Kriegentschädigung kassiert hatte. Die Reportagen über die junge Reichshauptstadt Berlin und ihre rasante Entwicklung zur Weltstadt, ferner über die "Spitzen" des neuen Deutschen Reichs ebenso wie über die elende Lage der Unterschichten, wie wir heute sagen würden, sind auch heute noch lesenswert und enthalten, wenn man nationalistische und deutschenfeindliche Übertreibungen abzieht, viel Wahres. Tissot sah sich in den Privaträumen des Kaisers, der Kaiserin, des Kronprinzen und des Kanzlers um. Das Eckgebäude am Opernplatz (heute Bebelplatz), der Staatsoper gegenüber, das von Wilhelm I. bewohnt wurde und heute von der Humboldt-Universität genutzt wird, empfindet Tissot als einen Bau, der sich weder durch seine Architektur noch durch irgendwelche sonstigen äußeren Merkmale von den anderen Gebäuden in der Gegend unterscheidet. Dass Wilhelm I. genau dies wollte und sich in einem solchen Haus viel wohler als in dem pompösen Berliner Schloss fühlte, ging dem an riesigen Prunkbauten der Barockzeit geschulten Verfasser nicht auf. Für die Berliner, die wissen, welch ein erlauchter Mensch darin lebt, sei das Haus ein wahrer Palast, schreibt er. In den Augen der Fremden, die die Tuilerien in Paris, die Wiener Hofburg, das Winterpalais in St. Petersburg oder den Quirinal in Rom kennen, fällt das "Kaiser.Wilhelm-Palais" in seinen Augen deutlich zurück.

Besuch bei Bismarck und der Börse

Die wohl wichtigste Straße der Reichshauptstadt ist die Wilhelmstraße, die am Pariser Platz beginnt und auf den Belle-Alliance-Platz (heute Mehringplatz) mündet. An ihr liegen die wichtigsten Schaltstellen der Politik und der Verwaltung des neuen Kaiserreichs- die Reichskanzlei, das Justizministerium, das Arbeitsministerium und so weiter. "Diese Straße hat etwas Ernstes und Feierliches an sich. Die Pferde verlangsamen hier von selbst ihre Gangart, und die Deutschen, die aus dem Norden und Süden des Reiches gekommen sind, gehen mit erhobenem Haupt als stolze Preußen auf ihr entlang." Für einen Extralohn von fünf Talern (15 Mark) an einen Gärtner gelingt es dem Autor, über die Dienstbotentreppe in die Wohnräume des Fürsten Bismarck zu gelangen. Im Reichskanzlerpalais fällt ihm besonders auf, dass überall Cognacflaschen stehen. Angeblich habe Bismarck sie immer auf seinen Reisen dabei gehabt. In einem Zimmer hat seine Frau Johanna anstelle eines Glasschranks einen Geldschrank aufgestellt. Als der Kanzler sächsischen Musiker seine Wohnung zeigte, habe er auf den Tresor gewiesen und bemerkt: "Sie sehen, dass meine Frau die Kasse verwahrt, und ich rate denjenigen unter Ihnen, die verheiratet sind, die Geldbörse in den Händen ihrer Ehefrauen zu belassen, denn dies ist ein unfehlbares Mittel zur Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit." Beim Verlassen der Salons öffnete der Gärtner eine Tür zum Tanzsaal mit Spiegeln an den Wänden und bemerkte, dies sei früher eine Kapelle gewesen. "Da der Kanzler jedoch so viele Bischöfe in den Gefängnissen sitzen lässt, wird er wohl auch keinerlei Skrupel haben, Tanzpaare in einer Kirche tanzen zu lassen", fasst Tissot seine Verachtung für die Entweihung des heiligen Ortes durch den verhassten Reichskanzler zusammen und erinnert daran, dass während des so genannten Kirchenkampfes katholische Geistliche unter preußischen Repressionen viel zu leiden hatten.

Bei der am Spreeufer gelegenen, außen und innen überaus prachtvoll gestalteten Börse erwähnt Tissot, dass nicht alle Geschäfte hier erfolgreich verlaufen und sich mancher Börsianer so sehr verspekuliert und ruiniert hat, dass er zur Pistole oder zum Strick griff, um seinem verpfuschten Leben ein Ende zu setzen. Einer von Tissot mitgeteilten Statistik von 1871 ist zu entnehmen, dass damals nicht weniger als 1818 Staatsbeamte wegen Betrugs, Unterschlagung oder Diebstahls ins Gefängnis gesteckt wurden. Diese Zahl habe sich inzwischen verdreifacht. Manch einer von diesen Staatsdienern habe sich durch Selbstmord dem Zugriff der Justiz entzogen. Fünf Milliarden, die "in den Helm Bismarcks" gefallen waren, hätten den Deutschen die Köpfe verdreht, ein jeder habe sich an der Kriegsbeute bereichern und an dem Goldregen teilhaben wollen, schreibt der Reporter. So seien in der so genannten Gründerzeit tausende Unternehmen und Gesellschaften entstanden. Alles habe man in Aktien verwandelt - Metzgereien, Bierlokale, Lebensmittelgeschäfte, Kanäle, Straßen und Verkehrsunternehmen. Aber auch Häuser wurden an der Börse gehandelt. Die Folge der überhitzten, unkontrollierten Geschäftemacherei waren zahlreiche Pleiten und Firmenzusammenbrüche, die viele Menschen ins Unglück stürzten.

Preußisch-deutsche Ruhmeshalle im Zeughaus

Weiter geht es mit der Behauptung, um Berlin richtig erfassen zu können, müsse man mit dem Zeughaus beginnen so wie man mit dem Alphabet beginnt, um lesen zu können. "Das Zeughaus ist die Wiege der preußischen Monarchie, denn es ist aus einer Kanonenkugel geschlüpft wie der Adler aus dem Ei. Dieses Kriegsmuseum ist das historische Museum der Nation." Paris habe das Museum von Versailles, Florenz die Uffizien, Rom den Vatikan und Berlin das Zeughaus. "Stärke geht vor Kunst und Recht. Frankreich hat die Welt durch Ideen kultiviert; Preußen hat Deutschland durch Kanonen zivilisiert. Da liegt der ganze Unterschied." Interesse verdient, was der Reporter im Zeughaus Unter den Linden, der Ruhmeshalle des Deutschen Reiches, zu sehen bekommt. So wacht im Hof der sogenannte Flensburger Bronzelöwe, ein riesiges Beutestück aus dem deutsch-dänischen Krieg von 1864 um Schleswig-Holstein, der jetzt am Rand des Berliner Wannsees besichtigt werden kann. "Man führt uns durch unterirdische Gänge, vollgestellt mit Kanonen, Feldschlangen, Falconetten und Mitrailleusen - eine unbeschreibliche Anhäufung von Kriegsgerät aller Art und allen Alters."

Tissot sah im Zeughaus drei Geschütze "in Luxusausführung", die Preußens König Friedrich I. gießen ließ und denen er die Namen Europa Asien und Afrika gab. Jedes Geschütz kostete die riesige Summe von 14 601 Talern, die Pulverladung betrug 50 Pfund und die Kugel hatte eine Schussweite von 5400 Schritt. "Viele der alten Geschütze tragen heidnische und gotteslästerliche Inschriften. Dieser barbarische Brauch, die Materie zu vergeistigen und sie zur Komplizin der Verbrechen des Menschen zu machen, wurde in der preußischen Armee beibehalten." Die Granaten, die das Straßburger Münster in Brand setzten und auf die Notre Dame de Paris gerichtet waren, hätten die Inschrift "Gott mit uns" getragen. Tissot verlässt das Zeughaus nach eigenen Worten still und mit gesenktem Kopf, so als ob er von Golgatha zurückkehrte, wo Frankreich gekreuzigt wurde.

Staatskult gegen Gotteskult

Victor Tissot hat nicht nur Paläste von Adligen und Neureichen besucht, sondern sah sich auch in Schulen, im Reichstag, der damals noch in einem Saal der Porzellanmanufaktur tagte, im Großen Generalstab und der als "minderwertig" eingestuften Berliner Universität um. Hier kommt er zu dem Schluss, sie habe ihren nationalen und kriegerischen Charakter bis heute bewahrt. "Immer noch bereitet man hier die moralischen Eroberungen vor, die den materiellen Eroberungen vorangehen oder folgen. Die Geschichts- und Philosophievorlesungen verkünden die Überlegenheit Deutschlands und entladen in den Herzen der Studenten eine patriotische Emotion. Man weckt das Interesse der Jugend besonders für die öffentliche Sache und belehrt sie über ihre Pflichten gegenüber dem Staat. In diesem Heiligtum des Studiums und der Wissenschaften wird der Staat auf den Altar gestellt, und man lehrt, ihn anzubeten oder wenigstens zu achten. Ganz öffentlich macht der Staatskult dem Gotteskult Konkurrenz." Im deutschen Schulwesen glaubt Tissot die blinde und absolute Unterwerfung gegenüber der Macht zu beobachten, was wohl stimmte, aber in dieser Allgemeinheit aber zu hinterfragen ist, denn es gab auch Leute, die ihren Kopf zu gebrauchen verstanden und sich dem Obrigkeitsstaat und der unheiligen Allianz zwischen Thron und Altar entgegen stellten. Die damalige Arbeiterbewegung und liberale Medien wären hier an erster Stelle zu nennen.

Die preußischen Bildungsanstalten liegen nach Tissots Beobachtung unter dem Niveau von Hessen, Baden, Sachsen und Württemberg. Alle diese Länder seien dem "Staat der Intelligenz", also Preußen, durch ihre Grundschulen, Gymnasien, technischen Schulen und Universitäten weit überlegen. In Preußen gebe es die meisten Analphabeten von ganz Deutschland. Die protestantischen Seminare seien dank ihrer Mischung von Pietismus und militärischer Disziplin Musteranstalten der Verdummung. "Der Reisesack, den der junge Preuße auf seinem Lebensweg mitbekommt, ist verglichen mit dem des jungen Sachsen fast leer. [...] Mit ihren Stapeln von Büchern, ihren vielfältigen Systemen haben die Deutschen uns immer Sand in die Augen gestreut, und weil wir sahen, wie sie Abhandlung auf Abhandlung häuften, haben wir daraus geschlossen, dass sie die allerbesten Erzieher der Welt seien, denn sie haben über Kindererziehung geschrieben wie über das Töten von Menschen."

Zensur contra Pressefreiheit

Als Journalist hat sich Tissot besonders auch für die deutsche Presse interessiert. Er sieht, dass Zeitungen in Berlin auf der Straße verkauft werden. Zeitungskioske wie in Paris seien hier unbekannt, nur in kleinen Lebensmittelläden könne man zwischen sauren Heringen und einer Kiste Zigarren den "Kladderadatsch" oder den "Ulk" entdecken, zwei damals beliebte Satirezeitungen, die in vorsichtiger Form auch die Gebrechen des preußisch-deutschen Staates aufs Korn nahmen, wie man heute hinzufügen muss. Tissot listet auf, wie viele Zeitungen und Zeitschriften es in Berlin für welche Lesergruppen und Themen gibt. Viele Informationen aus dem Osten oder Westen seien "preußischblau" eingefärbt. "So wird die Wahrheit verfälscht, so trübt man den Blick der Öffentlichkeit. [...] Durch geschicktes Taktieren werden die politischen Strömungen in Deutschland und Europa verändert", schreibt der Reporter. Er erwähnt an anderer Stelle, dass eine Zeitung im damals preußischen Posen es gewagt hatte, Teile aus seinem Buch abzudrucken, was dem Redakteur acht Monate Haft eintrug. Das Erstaunliche an dem Fall war, dass andere preußische Zeitungen, die das gleiche getan hatten, nicht belangt wurden. "So versteht man unter preußischer Herrschaft die Freiheit des Denkens, Schreibens und Redens", fasst Tissot den Vorgang zusammen. Pressefreiheit, wie sie in England seit der Revolution von 1688 und in Frankreich seit 1789 existiert, gebe es in Deutschland erst seit der Revolution von 1848, doch von wahrer Pressefreiheit sei das Deutsche Reich noch weit entfernt. Zwar habe man 1874 ein diesbezügliches Gesetz revidiert, die "vorläufige Beschlagnahme" und Zensur bestünden aber weiter, und die Polizei mache davon regen Gebrauch, so dass es eine "wahre Lust ist, Journalist zu sein". Der Reporter berichtet weiter, Reichskanzler Otto von Bismarck beschäftige eine ganze Rotte von Journalisten. Er brauche diese "Sauhirten", um seine Politik unters Volk zu bringen und ihm genehme Informationen zu streuen.

Kritischer Blick in die Halb- und Unterwelt

Victor Tissot hat sich gründlich in der Berliner Unter- und Halbwelt umgeschaut, so auch im Tiergarten, in dem sich sogar am helllichten Tageslicht "brutale Schamlosigkeit" zur Schau stellt. Der Park hinter dem Brandenburger Tor sei im Sommer Treffpunkt aller Vagabunden des Reiches, die in die "Hauptstadt der Milliardäre" kommen, um ihren Geschäften nachzugehen. Alle diese Arbeitslosen, die Mädchen ohne Kundschaft, die Gauner in Geldverlegenheiten - sie alle logieren hier in der "Herberge von Mutter Grün". Zwar gebe es ähnliche Orte wie die Hasenheide und die Jungfernheide, doch bevorzugter Aufenthaltsort dieser "Bohème des Lasters und des Elends" sei der Tiergarten. Mit seinen zahllosen Pfaden bilde er ausgedehntes Labyrinth und biete mit seinem dichten Unterholz sichere Schlupfwinkel. So werden Razzien erschwert, weshalb man es eines beachtlichen Einsatzes von Polizei bedarf, um diesen Wald auf der Suche nach Mördern oder entflohenen Zuchthäuslern zu umzingeln. Die Polizei wird nach Tissots Beobachtung angeblich nur dann aktiv, wenn sie sicher ist, einen guten Fang zu machen.

In den Obdachlosenasylen hat Tissot nach eigenen Worten "bei den untersten Bevölkerungsschichten der großen Städte niemals Individuen angetroffen, deren Gesichtsausdruck so gemein und roh war, wie bei denjenigen, die man in Berlin antrifft". Er verschwendet kein weiteres Wort darüber, wie wohl aus diesen Menschen gemacht hat, dass sie auf der Straße leben und kriminell werden. Einen Vergleich mit den Verhältnissen in Frankreich stellt er vorsichtshalber nicht an. Das ganze Gegenteil der elenden Obdachlosenasyle und Armenküchen sind vornehme Cafés und Spielsalons, die sich allerdings bei näherem Hinsehen als üble Spelunken herausstellen. Dort verkehren gut gekleideten Herren mit goldenen Uhrketten und dicken Goldringen an den Fingern, beobachtet Tissot, und er kommt zu dem Schluss, dass diese Leute nichts als Gauner, Strolche und Ganoven sind, die sich mit Graf oder Baron, Herr Hauptmann oder Herr Oberst anreden lassen. Ausländer oder naive Provinzler, die sich in diese schillernde Gesellschaft wagen, werden gerupft wie Suppenhühner, warnt der Reporter und fügt hinzu, eine ehrbare Konditorei, in der brave Bürger seinen Nachmittagkaffee trinkt, verwandele sich nachts in einen Treffpunkt durchtriebener Ganoven. "Man erkennt diese Etablissements an Hinweis "mit pikanter Bedienung", was nichts anderes bedeutet, dass dort "sehr bekannte Kellnerinnen" Dienst tun.

Das Bild vom hässlichen Deutschen

Zusammenfassend schreibt er über die Metropole an der Spree, in diesem großen germanischen Leib habe sich Berlin den Platz des Hauptes und des Herzens angeeignet. "Es ist Berlin, das denkt, plant, bestimmt und führt. Es nimmt und gibt, teilt Gerechtigkeit und Ruhm aus. Nach Berlin strömt die ganze Lebenskraft dieses neuen Reichs, das nicht mehr das Deutschland der einfältigen Legenden, anmutigen Balladen, der gotischen Träumereien und der heiligen Kathedralen von Blut und Eisen, der Kanonen, der Kartätschen und Schlachten geworden ist." Der aufgebrachte Autor, der am Anfang seines Buches einräumt, seine Reisebeschreibungen seien mangels eingehender Recherche nicht als tiefgründige Reisestudien zu werten, ist von Ressentiments geprägt, und das scheint seine Aufnahmefähigkeit und Bereitschaft zu trüben, genau hinzuschauen und unparteiisch zu urteilen. Einseitige Reportagen, auch wenn sie viele treffende Aussagen etwa über Militarismus, Nationalismus und Chauvinismus enthalten, waren noch nie von Nutzen. So hat Tissot in Frankreich mitgeholfen, das Bild vom hässlichen Deutschen zu zeichnen und in die Herzen seiner Leser festzusetzen. Wirkliche Ursachen für Kriege und die so genannte Erbfeindschaft aufzuzeigen, war nicht Sache des wortgewandten Verfassers, das taten andere, hellsichtigere Analysten. Selbstverständlich finden sich jederzeit auch Zeugnisse deutscher Schreiber, die ähnlich hart und ungerecht über den "Erbfeind" Frankreich geurteilt und damit den nächsten Krieg vorzubereiten halfen.

Vernichtend ist, was Tissot nach einem Besuch in Potsdam notiert: "Preußen ist ein Soldatenkind, ein Harnisch diente ihm als Wiege. In den langen, wie Bataillone ausgerichteten Straßen riecht man förmlich das Schießpulver. Es ist der typisch preußische Geruch [...] Selbst in der Garnisonkirche wird die Erinnerung an das erdrosselte Vaterland wach gehalten. Blutbefleckte, zerfetzte Fahnen von 1813 und 1870, die ihr seid hier aufgehängt wie die Leichentücher, in die Frankreich zweimal von den gleichen Henkern eingehüllt wurde!" Dabei übersieht der aus der Schweiz stammende, als Franzose schreibende und denkende Autor, dass es 1815 bis 1815 um die Befreiung Deutschlands und anderer Länder von der napoleonischen Fremdherrschaft und 1870/1 in dem von Preußen angeführten Krieg um die deutsche Einheit ging, der sich Kaiser Napoleon III. in den Weg stellte. Beides in einen Topf zu werfen, geht nicht.

24. März 2021

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