Erinnern, mahnen, warnen
Inge Deutschkron machte sich den Kampf gegen Nazis jeder Couleur zur Lebensaufgabe / Am 9. März 2022 starb sie mit 99 Jahren





Im Hauseingang Rosenthaler Straße 39 unweit des S-Bahnhofs Hackescher Markt liegt eine von den vielen darüber laufenden Schuhen ganz blank geputzte Tafel, die an Otto Weidt, den Lebensretter, erinnert. Dem Fabrikhof blieb der morbide Charme erhalten.





Das rote J im Ausweis brandmarkt Inge Deutschkron als Jüdin, sie musste den Zwangsnamen Sara tragen. Im Werkausweis von Otto Weidt heißt sie Inge Richter. Der Ausweis gibt ein falsches Geburtsdatum an, in Wahrheit kam sie am 22. August 1922 in Finsterwalde zur Welt. Die Zeit bis zur Befreiung vom Faschismus überstand sie mit ihrer Mutter im Untergrund, danach war sie im In- und Ausland als streitbare Journalistin und Buchautorin tätig.





Bilder, Dokumente und alte Ausstattungstücke der ehemaligen Bürstenfabrik erzählen in der Ausstellung an der Rosenthaler Straße 39 vom jüdischen Leben in der Illegalität unter dem Schutz von "Papa Weidt". Hinter dem Schrank haben sich Familien vor der Gestapo versteckt.



Was sie in der Zeit des Nationalsozialismus und danach erlitten hat, wie ihr Otto Weidt zu Überleben half und wie sie nach 1945 gegen Geschichtsvergessenheit anging, hat Inge Deutschkron in ihren Büchern und bei Vorträgen anschaulich geschildert. Über sie und die legendäre Bildenwerkstatt Otto Weidt gibt es auch einen Film und ein Theaterstück.



Die Ehrenbürgerin der Stadt Berlin Inge Deutschkron war am 17. April 2018 Ehrengast beim Spatenstich für den neuen Otto-Weidt-Platz in der Berliner Europa-City, hier mit André Schmitz, der auch das Grußwort der unermüdlichen Mahnerin und Warnerin vor neuem Unheil verlas. (Fotos: Caspar)

Ein halbes Jahr vor ihrem einhundertsten Geburtstag starb in Berlin Inge Deutschkron, eine Überlebende des Holocaust und unüberhörbare Warnerin vor Faschismus und Neofaschismus. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schrieb zu ihrem Tod, sie habe selbst erfahren, was es bedeutet, wenn Menschenrechte und Menschenwürde von Staats wegen außer Kraft gesetzt werden. "Sie hat aber auch erlebt, dass es in Deutschlands dunkelster Zeit Menschen gegeben hat, die sich Mitmenschlichkeit und Mitgefühl nicht haben nehmen lassen. Ihr haben wir es ganz Besonders zu verdanken, dass diese ‚Stillen Helden' die Würdigung erfahren haben, die sie verdienen. Trotz allem, was ihr von Deutschen angetan wurde, hat Inge Deutschkron sich nicht von Deutschland abgewandt. Unermüdlich setzte sie sich dafür ein, dass wir die richtigen Lehren aus den Verbrechen während des Nationalsozialismus ziehen. Als Zeitzeugin trug sie dazu bei, das Gedenken an die Verfolgten und an die Ermordeten lebendig zu halten und eine Generation der Zeugen von Zeugen zu bilden."

Der Bundespräsident erinnerte an Inge Deutschkrons Rede im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2013 zum 80. Jahrestag der Errichtung der Nazidiktatur, in der beschrieb, was an jenem 30. Januar 1933 in Berlin geschah und was der Tag für sie bis heute bedeutet. ",Mein Kind, Du bist Jüdin.' Meine Mutter setzte sich zu mir, wie so oft, wenn sie mir etwas Wichtiges mitteilen wollte. Es war wenige Tage, nachdem die NSDAP die Macht in Deutschland übernommen hatte. ,Du gehörst nun zu einer Minderheit', sagte sie mit fester Stimme. ,Du musst den andern in Deiner Klasse zeigen, dass Du deshalb nicht geringer bist als sie.' Sie wisse natürlich, dass ich das auch tun würde. Energischer werdend fügte sie hinzu: ,Lass Dir nichts gefallen, wenn Dich jemand angreifen will. Wehr Dich!' Ein Satz, der mein ganzes Leben bestimmen sollte..." sagte sie und erhielt Beifall vom Parlament.

Von der Straße weg in die Gaskammern

Inge Deutschkron beschrieb, wie sie die "Fabrikaktion" Anfang 1943 erlebt hat, als schlagartig Berliner Juden von ihrer Arbeitsstelle abgeholt wurden, um sie in die Gaskammern zu schicken. "Man ergriff sie, wo und wie man sie fand: in ihren Wohnungen, auf der Straße, im Morgenrock, im Arbeitskittel. Ahnungslos folgten sie den Anweisungen, genau wie die Deportierten vor ihnen, von deren Schicksal sie nichts wussten. Zurück blieb die kleine Zahl derer, die ein Versteck gefunden hatten und in die Illegalität gingen wie meine Mutter und ich. Auch ich sah sie vom Fenster aus, sehe sie noch heute, in ihrem Erschrecken wie erstarrt, von Polizisten in die Wagen gestoßen. ,Schnell, schnell, schnell', trieb man sie an. Diese letzte Deportation aus Berlin dauerte mehrere Tage. Dann waren sie alle weg - meine Familie, meine Freunde, die blinden jüdischen Bürstenzieher von Otto Weidt, die jüdischen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, ihre Orden noch am Revers ihres Mantels. Wir hatten keinen Schrei gehört, sahen kein Aufbegehren; blickten ihnen nach, wie sie gehorsam ihren letzten Weg antraten. Des Nachts sah ich sie wieder vor mir, hörte nicht auf, an sie zu denken: wo waren sie jetzt? Was tat man ihnen an? Ich begann mich schuldig zu fühlen. Mit welchem Recht, so fragte ich mich, verstecke ich mich, drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das Meine hätte sein müssen? Dieses Gefühl von Schuld verfolgte mich, es ließ mich nie wieder los." Nicht alle Menschen in Hitlers Deutschem Reich waren den Juden feindlich gesonnen. In ihrer Rede erinnerte Inge Deutschkron daran, dass sie wie auch andere Juden gelegentlich erfreuliche Erlebnisse hatte. "Ich erinnere mich, wie Unbekannte in der U-Bahn oder auf der Straße, meist im dichten Gewühl der Großstadt, ganz nah an mich herantraten und mir etwas in die Manteltasche steckten, während sie in eine andere Richtung guckten. Mal war es ein Apfel, mal eine Fleischmarke, Dinge, die Juden offiziell nicht erhielten. Wie so vieles, was unsere Hungerrationen hätte aufbessern können. Doch es gab auch andere, solche, die mich mit Hass ansahen oder hässliche Grimassen vor mir schnitten, um ihrem Abscheu für die Jüdin Ausdruck zu geben. Fraglos, der ,Stern' schuf eine diskriminierende Isolation für uns. Auf der Straße gewöhnte ich mir an, meinem Gesicht den Ausdruck einer Maske zu geben. Niemand sollte auch nur ahnen, wie es wirklich um mich stand."

Berichte wie es war, präzise und emotionslos

Inge Deutschkron sah es als ihre Pflicht an, das grauenvoll Erlebte aufschreiben. "Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit, präzise und emotionslos, so wie ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Es ging mir dabei nicht darum, dass die Schuldigen und jene, die dazu geschwiegen hatten, versuchen sollten, einen Weg der Sühne dem jüdischen Volk gegenüber zu finden. Nein, nein, das wäre sinnlos gewesen. Das deutsche Volk jener ersten Nachkriegsjahre wurde beschützt von seinem ersten Kanzler, der im Parlament in einer Regierungserklärung behauptet hatte, die Mehrheit der Deutschen wären Gegner der Verbrechen an den Juden gewesen. Viele von ihnen hätten sogar den Juden geholfen, ihren Mördern zu entkommen. Ach, wäre das doch die Wahrheit gewesen!"

Otto Weidt, der stark sehbehinderte Fabrikant von Besen und Bürsten in der Rosenthaler Straße 39 war Inge Deutschkrons Rettung. Der entschiedene Nazigegner half Juden wo es nur ging, versorgte sie mit Lebensmitteln, Arbeitserlaubnissen und falschen Papieren und ermunterte Vertraute, sich untergetauchter Juden anzunehmen. Indem er Polizisten und Beamte bestach, gelang es ihm, das Leben zahlreicher Jüdinnen und Juden zu retten. Weidt versteckte in seiner weitläufigen Werkstatt in der ersten Etage eines Seitenflügels mehrere von Verhaftung und Deportation bedrohte Menschen. Am Ende der Ausstellung kann man in einen fensterlosen Raum sehen, in dem eine untergetauchte Familie schlief oder sich bei Gefahr versteckte, von einem großen Schrank vor der Tür geschützt.

"Ich trug den gelben Stern"

Inge Deutschkron war bei ihm unter den Namen Inge Richter beschäftigt und schilderte in ihrem vielfach aufgelegten Erinnerungsbuch "Ich trug den gelben Stern", was sie und ihre Kameraden und Kameradinnen bei Weidt erlebten. In dem Film "Ein blinder Held" von 2014 verkörpert der Schauspieler Edgar Selge den Bürstenfabrikanten Otto Weidt, nach dem seit 2018 ein Platz in der neuen Europa-City nahe dem Berliner Hauptbahnhof benannt ist. In dem Film ist auch zu sehen, wie "Papa Weidt", wie ihn seine Angestellten liebevoll nannten, Deportierten bis ins Vernichtungslager hinter her fährt, um einige mit List und Bestechung frei zu bekommen. Weidts Betrieb war kriegswichtig, denn wurden Bürsten und Besen wurden auch mitten im Kampfgeschehen und bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen benötigt, und Soldaten marschierten mit geputzten Stiefel in die Schlacht und den Tod.

Anhand von Biographien, Briefen, Gedichten, Fotografien sowie Aussagen von Zeitzeugen und anderen Dokumenten zeichnet die Ausstellung "Blindes Vertrauen" in der ehemaligen Bürstenfabrik ein erschütterndes Bild der ständig von Entdeckung, Deportation und Tod bedrohten Schützlinge des Otto Weidt, aber auch die Situation, in der sich der mutige Fabrikant und seine Familie befanden. Die Ausstellung würdigt ihn als einen jener stillen, unbesungenen Helden, die dem totalitären Anspruch des Naziregimes Humanität und Mitleiden entgegensetzten, und sie zeigt an weiteren Beispielen, dass in der Nazizeit couragierte Menschen ihr Leben aufs Spiel setzten, um anderes Leben zu retten. Wenn eine Razzia durch die Gestapo drohte und eine bestimmte Klingel ertönte, zogen sich die in Männer und Frauen in abgelegene Räume der als "kriegswichtig" anerkannten Bürsten- und Besenfabrik zurück, ist in der Ausstellung zu erfahren.

Naziverbrecher fanden milde Richter

Das zur Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand gehörende Museum in der Rosenthaler Straße 39 zeigt Bilder, Dokumente, Biographien von untergetauchten Juden und würdigt diejenigen, die ihnen zu überleben halfen. In einem Raum hinter dem Schrank konnten sich Untergetauchte, die so genannten U-Boote, bei Razzien verstecken. In ihrem Buch "Ich trug den gelben Stern" schildert Inge Deutschkron auch, wie es ihr und ihrer Mutter nach dem Auftauchen in der Illegalität ergangen ist und wie es sie empörte, dass Naziverbrecher in der jungen Bundesrepublik "milde Richter" fanden, so man sie überhaupt vor ein Tribunal stellte.

Dass es in einem totalen Überwachungsstaat mitten in Berlin möglich war, Juden quasi unter den Augen der Gestapo "verschwinden" zu lassen, verwundert, ist nur dadurch zu erklären, dass es Lücken im Machtgeflecht gab und sich Menschen listenreich dem Regime entgegen stellten. Otto Weidt wird manchmal mit Oskar Schindler, dem Helden des Films von Steven Spielberg "Schindlers Liste" verglichen, der auf ähnlich riskante Weise gefährdeten Menschen half, wobei er die Habgier von Sicherheitsleuten und Beamten auszunutzen verstand. Ohne dass ihm nach der Befreiung eine öffentliche Ehrung zuteil wurde, starb Otto Weidt 1947. Mitarbeiter seiner Bürstenfabrik bestätigen mit eidesstattlichen Erklärungen und warmherzigen Briefen, die in der Ausstellung gezeigt werden, dass sie ihm ihr Leben verdanken. Der israelische Staat ernannte Otto Weidt 1971 auf Initiative von Inge Deutschkron posthum zum "Gerechten der Völker".

Stilles Heldentum des Otto Weidt

Am 17. April 2018 fand der erste Spatenstich auf dem Otto-Weidt-Platz in der Europacity unweit des Berliner Hauptbahnhofs statt. Dass mitten im Quartier Heidestraße ein Platz nach Otto Weidt benannt wird, ist wesentliches Verdienst von Inge Deutschkron und einer von ihr angeregten Bürgerinitiative. Die Überlebende des Holocaust und Zeitzeugin, die am gleichen Tag zur Ehrenbürgerin der Stadt Berlin ernannt wurde, würdigte in ihrem Grußwort den Mut und die Uneigennützigkeit von Otto Weidt in Deutschlands schlimmster Zeit. In dem vom Kulturstaatssekretär André Schmitz, ihrem Bevollmächtigten, verlesenen Grußwort beschrieb Inge Deutschkron das stille Heldentum von Otto Weidt und weiterer Nothelfer, die viele Jahrzehnte unbeachtet waren. Als junge Frau hatte sie von 1941 bis 1943 bei "Papa Weidt" gearbeitet. Er stattete sie mit gefälschten Dokumenten aus und macht sie zu seiner Kontoristin und Expedientin, obwohl kaum noch etwas zu expedieren war. Das alles beschrieb sie in ihrem Buch "Ich trug den gelben Stern" und bei unzähligen Vorträgen in Schulen und 2013 auch im Deutschen Bundestag anlässlich des Holocaust-Gedenktags. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte Inge Deutschkron, dass ihr Chef zur Gestapo stets mit einem Lebensmittelpaket ging und mit seinen Schützlingen zurück kam. Wenn Weidt gegenüber der Gestapo auf seine "faulen Juden" schimpfte, dann nahmen diese das gelassen hin, denn erfolgte das nur aus Alibigründen. Otto Weidt besuchte, den Blindenstock fest in der Hand und die gelbe Binde am Arm, die Geheimpolizisten und "bearbeitete" sie so lange, bis sie ihre Opfer wieder herausgaben.

Inge Deutschkron berichtete im Deutschen Bundestag, ein Jahr nach Kriegsende hätten ihre Mutter und sie die Erlaubnis zur Einreise nach England erhalten. "Begleitet von Emigranten holte mein Vater uns vom Bahnhof in London ab. Ich sah es sofort: Für die Emigranten waren wir wie die Abgesandten ihrer ermordeten Angehörigen. Sie kämpften mit Tränen, als sie uns sahen. Wir waren wie eine Bestätigung, dass die Ihren den Kampf um ihr Leben in Nazi-Deutschland verloren hatten. Und wieder war es da, das Gefühl meiner Schuld. Dieses Gefühl wich zeitweise der Sprachlosigkeit, wenn Menschen im Nachkriegsdeutschland zu mir sagten: ,So vergessen sie doch', wenn sie mich nicht anders zum Schweigen bringen konnten. ,Sie müssen doch auch vergeben können', meinten sie. ,Es ist doch schon so lange her.'" Für Inge Deutschkron waren die Naziverbrechen und das Leid der Menschen Zeit ihres langen Lebens niemals "lange her", sie behielt alles und jeden tief in ihrem Gedächtnis.

Vermächtnis müssen wir alle erfüllen

Die meisten Deutschen, denen sie als junge Journalistin in Bonn und anderswo begegnete, hatten die Nazi- und Kriegsverbrechen aus ihrem Gedächtnis gestrichen. "Da wusste ich plötzlich, was meine Pflicht war, die mir meine Schuld auferlegte: ich musste es niederschreiben. Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit, präzise und emotionslos, so wie ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Es ging mir dabei nicht darum, dass die Schuldigen und jene, die dazu geschwiegen hatten, versuchen sollten, einen Weg der Sühne dem jüdischen Volk gegenüber zu finden. Nein, nein, das wäre sinnlos gewesen. Das deutsche Volk jener ersten Nachkriegsjahre wurde beschützt von seinem ersten Kanzler, der im Parlament in einer Regierungserklärung behauptet hatte, die Mehrheit der Deutschen wären Gegner der Verbrechen an den Juden gewesen. Viele von ihnen hätten sogar den Juden geholfen, ihren Mördern zu entkommen. Ach, wäre das doch die Wahrheit gewesen!"

Beseelt von dem Wunsch, dass Vergleichbares nie wieder geschehen darf, verschrieb sich Inge Deutschkron in Bonn, Israel und schließlich Berlin vor und nach dem Mauerfall 1989 dem Kampf für die Wahrheit. Sie tat das mit ihren Artikeln und Büchern, sie sprach mit unzähligen Schulklassen und hielt Vorträge. "Solange die Frage Rätsel aufgibt, wie konnte das Fürchterliche geschehen, ist die Gefahr nicht gebannt, dass Verbrechen ähnlicher Art die Menschheit erneut heimsuchen. Ich wollte daran mittun hier, heute und jetzt mit meinem ganzen Eifer, meiner ganzen Kraft", sagte Inge Deutschkron vor fast zehn Jahren unter der Kuppel des Reichstags in Berlin. Nun ist ihre Stimme verstummt. Es ist an uns, ihre Botschaft laut in die Welt zu tragen und ihr Vermächtnis unverdrossen erfüllen.

10. März 2022

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