Entrechtet, verfolgt, ermordet
Stolpersteine ehren vor der Staatsbibliothek ermordete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter / Erinnerung an Theaterwissenschaftler Max Herrmann



Vor dem Eingang der Staatsbibliothek Unter den Linden 8 in Berlin-Mitte erinnern neun Stolpersteine an frühere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen. Erinnert wird an Emmy Friedländer, Dr. Ernst Daniel Goldschmidt, Dr. Walter Gottschalk, Dr. Ernst Honigmann, Dr. Robert Lachmann, Dr. Anneliese Modrze, Dr. Hermann Pick, Dr. Arthur Spanier und Dr. Kurt Wieruszowski.





Nach der Errichtung der NS-Diktatur 1933 wurde jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Leben in der Preußischen Staatsbibliothek zunehmend schwer gemacht. Ähnlich erging es den Nutzern der weltberühmten Buch- und Schriftensammlung, die den Rassegesetzen unterlagen. Die Stolperstein liegen vor dem Portal unter dem Giebel.





Nach dem Novemberpogrom 1938 wurden die Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten von Juden drastisch eingeschränkt, und dazu gehörte auch das Verbot für den Besuch von Bibliotheken. Was ihnen nach dem Novemberpogrom 1938 (Foto links) verweigert wurde, dokumentieren Erinnerungstafeln im Bayerischen Viertel im Berliner Ortsteil Schöneberg. Auf der Karte daneben sind Berliner Innenstadtbereiche eingezeichnet, die dem "Judenbann" der Nazis unterlagen.



Die massive Hetze der Nazis im „Stürmer“ und anderen Medien gegen die als Volksfeinde und Untermenschen abgestempelten Juden zeigte Wirkung, verfing aber nicht bei allen „Volksgenossen“. Viele verfolgte und mit dem Leben bedrohte Jüdinnen und Juden erhielten im Geheimen solidarische Hilfe.



Max Herrmann forschte unverdrossen und in der Hoffnung auf bessere Zeiten an seiner Theatergeschichte und ließ sich von Armut und Diskriminierung nicht niederhalten. Der Stolperstein vor seinem Wohnhaus in der Augsburger Straße 42 im Ortsteil Charlottenburg erinnert an den Gelehrten, der 1942 im KZ Theresienstadt ermordet wurde. (Fotos/Repros: Caspar)

In Deutschland und verschiedenen ehemals von der Wehrmacht besetzten Ländern erinnern Stolpersteine im Straßenpflaster an Menschen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, weil sie nicht in deren rassistisches, politisches und ideologisches Weltbild passten. Für den in Berlin geborenen, heute in Köln tätigen Künstler Gunter Demnig ist das Wort aus dem Talmud „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“ Leitgedanke des von ihm initiierten europaweiten Erinnerungsprojekts. Er hatte die Aktion mit einer 1990 verlegten Lackspur vom ehemaligen Zigeunerlager in Köln-Bickendorf zum Bahnhof in Deutz entlang des Deportationsweges der Kölner Sinti und Roma begonnen, die von dort in die Konzentrationslager gebracht und ermordet wurden. Später entwickelte er die Messingplatten, die er ab 1996 in bisher 21 Ländern verlegt hat, so in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Slowenien und Tschechien. Inzwischen gibt es in über 1200 deutschen Kommunen solche Erinnerungssteine mit Namen, Lebensdaten und Ortsangaben für verfolgte und ermordete, aber auch ins Exil vertriebene Juden sowie Sinti und Roma und andere Menschen. Sie geben den Opfern des Nationalsozialismus einen Namen und bezeichnen die Orte, an denen sie gewohnt und gearbeitet haben oder ermordet wurden. Für die Stolpersteine gilt der Satz an einer Mauer im Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee in Berlin „Hier stehst du schweigen, doch wenn du dich wendest, schweige nicht.“ Die Messingplatten werden in einer Metallwerkstatt auf dem Künstlerhof im Berliner Ortsteil Buch durch Einschlagen von Buchstaben- und Zahlenpunzen hergestellt, sind auf Steinwürfeln befestigt und werden haltbar in den Boden versenkt.

Massenmord und Flucht in den Tod

Der Verlegung der Messingplatten gehen sorgfältige Recherchen über Namen und Schicksale der Menschen voran, die nationalsozialistischem Rassenwahn und Terror zum Opfer fielen. Bürgerinitiativen, Schulen, Archiven, Bibliotheken, Universitäten und Hinterbliebenen stellen Demnig alle Angaben zur Verfügung gestellt. Auf vielen Messingplatten werden Konzentrations- und Vernichtungslager wie Theresienstadt und Auschwitz, aber auch Tötungsanstalten genannt, in die so genannte Erbkranke ermordet wurden. Außerdem finden sich auf ihnen Hinweise auf Selbsttötungen, genannt Flucht in den Tod, angesichts bevorstehender Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

Am 8. Oktober 2022 hat Gunter Demnig neun Stolpersteine vor dem Eingang zur Staatsbibliothek Unter den Linden 8 in Berlin verlegt. Sie erinnern an ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zur Zeit des Nationalsozialismus aufgrund antijüdischen Rassengesetze entlassen, entrechtet, verfolgt und ermordet oder zur Flucht ins Exil gezwungen wurden. Der Ehrung im öffentlichen Straßenraum gingen Recherchen in Personalakten der Bibliothek sowie in Datenbanken und Archiven voran. Das gestaltete sich schwierig, weil in diesen und anderen Fällen Personalunterlagen durch Kriegseinwirkung verloren gingen oder nur unvollständig erhalten sind. Wie bei der Feierstunde verlautete, geht die Spurensuche weiter. „Mit den Stolpersteinen stärkt die Staatsbibliothek ihr öffentliches Gedenken an die Opfer des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte. Sie weisen uns einmal mehr darauf hin, welche Barbarei der Blütezeit deutsch-jüdischer Kultur- und Wissenschaftsförderung folgte und wie dünn der Firnis der Zivilisation sein kann“, sagte Achim Bonte, Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin bei der Verlegung der Steine. Es sei besonders auch Aufgabe von Bibliotheken und anderen Institutionen, die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wachzuhalten und mit ihrem Medien-, Informations- und Veranstaltungsangebot tatkräftig Demokratie und sozialen Zusammenhalt zu fördern.

Entlassen, degradiert, arbeitslos

Binnen weniger Wochen nach der so genannten Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wurden zahlreiche politisch missliebige sowie jüdische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst entlassen, degradiert und/oder in den Zwangsruhestand mit geringem Einkommen geschickt. Manchen gelang die Flucht ins Ausland und überlebten dort die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte, andere führten mit Gelegenheitsarbeit ein kümmerliches Leben. Der damalige Bibliotheksdirektor Hugo Krüß versuchte hier und dort, jüdischen und anderen „belasteten“ Untergebenen zu helfen. Während des Zweiten Weltkriegs verschaffte er seiner Bibliothek Bücher und Schriften aus den von den Deutschen besetzten Gebieten und organisierte die Auslagerung der Bestände. Ende April nahm es sich in den Trümmern des Hauses Unter den Linden 8 das Leben. Dass jüdischen Nutzern systematisch der Zugang zu den Schätzen der Bibliothek erschwert und schließlich ganz verboten wurde, konnte Krüß nicht verhindern.

Wie der bekannte Theaterwissenschaftler Max Herrmann, der 1942 in Theresienstadt ermordet wurde und nach dem ein von Staatsbibliothek vergebener Preis benannt ist, diskriminiert wurde, weil er Jude war, hat er so beschrieben: „Dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung erlaub ich mir hierdurch eine große Bitte vorzutragen, für deren Erfüllung ich zu ganz besonderem Dank verpflichtet sein würde. Ich habe im Jahre 1938 von der Generaldirektion der Preußischen Staatsbibliothek die Erlaubnis erhalten, nicht nur Bücher nach Hause zu entleihen (wozu es ja einer besonderen Erlaubnis nicht bedarf), sondern auch die Lesesäle und Kataloge weiter zu benutzen. Diese Erlaubnis ist mir nun, nach der Einführung des Judensternes [19. September 1941, H. C.], entzogen worden, man hat mir aber anheimgestellt, mich in dieser Angelegenheit an das vorgeordnete Ministerium zu wenden. Ich hatte die besondere Erlaubnis s. Z. erhalten, weil ich kurz vorher der Staatsbibliothek eine von mir in vierzigjähriger Tätigkeit zusammengebrachte und katalogisierte Sammlung im Handel nicht erschienener, also seltener Schriften zum Eigentum übergeben hatte, etwa 20.000 Nummern, von denen die Bibl., wie mir mitgeteilt wurde, etwa 80% noch nicht besaß; auch hatte man berücksichtigt, dass ich seit Jahren an einem größeren theatergesch. Werk arbeite, an dessen Vollendung mir sehr viel gelegen ist, weil sie mir beweisen würde, dass ich mit meiner theatergesch. Arbeitsmethode auf dem richtigen Wege bin. Diese Vollendung ist nun durch jenes Verbot durchaus in Frage gestellt, vor allem weil die dadurch herbeigeführte Unzugänglichkeit der im Großen Lesesaal aufgestellten Bücher mir unentbehrliches Arbeitsmaterial entzogen hat. Meine ergebene Bitte geht daher dahin, falls die erneute Benutzung des Großen Lesesaals auch nicht angängig sein sollte, mir einen kleinen Nebenraum anzuweisen, der für das große Publ. wenig oder gar nicht in Frage kommt und wohin mir auch Bücher, die im Lesesaal stehen, gebracht werden könnten.“ Der 1933 aus dem Universitätsdienst entlassene Professor Herrmann hat den Brief im Spätherbst 1941 an den Minister Rust nicht abgeschickt, wohl auch um die Behörden nicht unnötig auf seine deprimierende Lage aufmerksam zu machen.

Zum Buchverkauf gezwungen

Aus seinem Amt als Universitätsprofessor entlassen und zunehmend in Armut lebend, hatte Herrmann keine Möglichkeit mehr, mit Publikationen und Vorträgen seine Forschungen öffentlich zu machen. Dennoch arbeitete unverdrossen in der Hoffnung auf bessere Zeiten weiter. Dazu waren Besuche vor allem in der Staatsbibliothek nötig. Ähnlich erging es dem ebenfalls seinem Amt enthobenen Dresdner Sprachforscher Victor Klemperer, dem wir das berühmte, 1947 erstmals veröffentlichte Werk „LTI Lingua Tertii Imperii“ (Die Sprache des Dritten Reichs) verdanken, und von dem wir wissen, wie er sich mit Hilfe von Freunden die für seine Forschungen nötige Literatur verschaffte und wie seine Aufzeichnungen vor dem Zugriff durch die Gestapo bewahrt wurden. Nachdem Max Herrmann praktisch mittellos war, sah er sich gezwungen, seine Privatbibliothek zu veräußern. Da er seine nach 1900 angelegte Sammlung von mehr als 15.000 seltenen Privatdrucken der Preußische Staatsbibliothek überlassen hatte, wurde ihm deren Nutzung zugestanden.

Von seiner Schülerin Ruth Mövius stammt eine bewegende Erinnerung an die Drangsalierungen durch die NS-Rassegesetze, die Herrmann erdulden musste. „Ich erinnere mich deutlich eines Tages, an dem Max Herrmann eben zu solcher Einsichtnahme in die Staatsbibliothek ging. Ja, er ‚ging‘: von der Eislebener Straße am Bahnhof Zoo bis Unter den Linden, denn die Benutzung von Bahnen aller Art war Juden verboten. Ich hatte ihn gebeten, ihn begleiten zu dürfen. Und es ist mir unvergesslich, wie wir nicht durch den Tiergarten auf kürzestem Wege gehen konnten, weil Juden Grünanlagen nicht betreten durften. Umweg um Umweg mussten wir machen, weil ihm das Überqueren gewisser Straßenzüge verboten war. Die Benutzung einer Bank an irgendeiner Straßenseite war dem mit einem Stern Gezeichneten untersagt. Und so kam er nach mehr als zweistündigem Weg völlig erschöpft in der Ausleihe an. Ich sehe ihn noch, tief ausatmend, in eines der Ledersofas sinken – wenige Sekunden später kam ein Beamter der Ausleihe auf ihn zu und erklärte dem 75jährigen, er möchte aufstehen, als Jude habe er nicht das Recht, irgendwo im Hause der Staatsbibliothek zu sitzen. Mit unnachahmlicher Hoheit und Würde erhob sich Max Herrmann und stellte sich nun an eines der Stehpulte, um dort mit eiserner Energie etwa ¾ Std. stehend zu arbeiten und dann wieder auf sinnlosen Umwegen den über zweistündigen Rückweg anzutreten.“

Biographische Angaben über die vor der Staatsbibliothek durch Stolpersteine geehrten Bibliothekarinnen und Bibliothekare siehe die die folgende Internetseite.

(12. Oktober 2022)

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