„Ihr müsst mit, es sei Euch lieb oder leid“
Mittelalterliches Totentanzgemälde in der Berliner Marienkirche wurde in den vergangenen Jahren restauriert und ist wieder zugänglich



Weihnachtlicher Trubel herrscht auf dem Platz vor der Marienkirche, in der Gläubige an Gottesdiensten teilnehmen. Doch kommen auch viele Gäste, um der aus dem frühen 18. Jahrhundert stammenden Orgel zuzuhören, die barocke Schlüterkanzel und den Altar, aber auch die Grabmäler und Gemälde und neuerdings den Totentanz zu betrachten.





Hell und freundlich präsentiert sich nach ihrer Restaurierung die Turmhalle der Marienkirche. Der Totentanz ist sicher hinter einer Glas-Stahl-Konstruktion zu sehen, das Bild oben zeigt den nun überwundenen Zustand.



Der Berliner Totentanz ist ein herausragendes Kunst- und Sprachdenkmal aus spätmittelalterlicher Zeit. Schwer zu entziffern sind die Reime unter dem Tanz der Tode und der Menschen, die um Gnade bitten.



Holzschnitte aus dem im frühen 16. Jh. von Hans Holbein dem Jüngeren geschaffenen „Totentanz“ schildern, dass die Armen und die Reichen und sogar der Arzt jederzeit darauf gefasst sein müssen, dass der Tod sie holt. Tröstung gibt es nur, wenn man ein gottgefälliges Leben geführt hat und es im Himmel ein Weiterleben gibt. In der Tat war die Lebenserwartung im Mittelalter weit geringer als heute, und überall lauerten Krankheiten und Gewalt auf die Menschen.



Ein Meisterwerk barocker Bildhauerkunst ist die um 1700 von Andreas Schlüter geschaffene Kanzel, mit der der Bildhauer und Schlossarchitekt einen kühnen, ja verwegenen Eingriff in die mittelalterliche Substanz der Marienkirche vornahm und viel Bewunderung erntete. Der barocke Altar im Hintergrund zeigt, von Christian Bernhard Rode gemalt, die Kreuzabnahme Christi.



Hinter der barocken Wagnerorgel, die bei Kirchenkonzerten gespielt und deren Klang von Musikfreunden gelobt wird, verbirgt sich die mittelalterliche Schutzmantelmadonna.



Sakrale Kunst wie diese mittelalterliche Holzschnitzerei schmückt überall die Marienkirche. Da viele Werke nach der Reformation von 1517 dem eiferndem Bildersturm zum Opfer fielen, stellen sie heute große und vielfach bewunderte Hinterlassenschaften unserer Vorfahren dar.





Wandgrabmäler aus dem Barock und Klassizismus, mit denen sich wohlhabende Bürgerfamilien präsentieren, zeugen vom hohen Niveau der Grabmalkunst im alten Berlin. An den Grabmalen kann man gut erkennen, was sich „die da oben“ leisten konnten und was „denen da unten“ möglich war. Trauernde Eltern widmeten die bescheidene Tafel ihrem am 17. Oktober 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig gefallenen einzigen Sohn. (Fotos/Repro: Caspar)

Der „Totentanz“ in der Berliner Marienkirche, ein 22 Meter langes und etwa zwei Meter hohes Wandgemälde aus dem späten 15. Jahrhundert, gehört zu den bedeutendsten Kunst- und Sprachdenkmälern der Mark Brandenburg. In den vergangenen zwei Jahren wurde das Wandbild oder das, was von ihm erhalten geblieben ist, umfassend restauriert und kann nun wieder besichtigt werden. Bei einem Gottesdienst am Vorabend des 1. Advent 2022 betonte Eric Haußmann, der Pfarrer an St. Marien, in dem Fresko würden sich Geschichte und Gegenwart verbinden, es stelle die Frage, wie wir leben und leben sollten. „Wir haben lange darauf hingearbeitet, diesen Schatz zu erhalten und neu zu präsentieren.“ Die Restaurierung des nur schemenhaft erhaltenen, aber dennoch ungemein wertvollen und jetzt besser ausgeleuchteten Wandbildes war durch Mittel der Lottostiftung in Höhe von 1,2 Millionen Euro sowie durch Zuwendungen des Landesdenkmalamtes und der Evangelischen Kirche möglich. Hinzu kamen Spenden von Besucherinnen und Besuchern, die für wenig Geld bunte Glassteine für ein farbiges Mosaik erwerben können und damit die Restaurierung von Kunstwerken in dem Gotteshaus unterstützen.

Manche Experten sehen beim Totentanz einen Zusammenhang mit der Pest, die 1484 im mittelalterlichen Berlin-Cölln grassierte und viele Todesopfer forderte. In der Reformationszeit, als ein großer Bildersturm die Kirchen leer fegte, hat man den Fries erhalten und nur überstrichen. Durch eine entlang den Wänden im Eingangsbereich errichtete Glaskonstruktion geschützt, erinnert der Reigen weiß gekleideter Tode mit Männern und Frauen hoher und niedriger Stände daran, dass wir alle sterblich sind. Unsicherheit herrscht darüber, wer den Totentanz mit Reimen darunter gemalt hat und warum das geschehen ist. Leider sind die farbigen Zeichnungen und Sprüche nur fragmentarisch erhalten.

Nach Freilegung fantasievolle Ergänzungen

Bei einer Freilegung 1860 unter Leitung des Architekten Friedrich August Stüler ging man mit dem seit der Reformationszeit unter dicken Farbschichten verborgenen Wandbild wenig respektvoll um, ja man hat es im Eifer des Gefechts sogar verschlimmbessert, was heute unmöglich wäre. Es ging viel Substanz verloren, außerdem hat damals die schemenhafte Überlieferung nicht genügt, weshalb man die Figuren und die Texte darunter recht großzügig und fantasievoll ergänzte. Diese „Überrestaurierungen“ wurden Mitte der fünfziger Jahre rückgängig gemacht, so dass sich die Wandmalerei heute in authentischem, aber leider auch fragmentarischem Zustand zeigt.

Schon in der Entdeckungszeit gab der Zustand des Wandbilds, das als die bedeutendste erhalten gebliebene Darstellung dieser Art nördlich der Alpen gilt, Anlass zur Sorge. Aufsteigende Feuchtigkeit im Mauerwerk und ausblühende Salze setzten dem mal schreitend, mal hüpfend dargestellten Tod und seinen Begleitern zu. So schritt der Verfall ungehemmt voran. Viele Gottesdienstbesucher und solche, die in der Marienkirche Konzerte hören oder sie nur besichtigen wollen, brachten Staub und Feuchtigkeit in die Turmhalle mit. Hinzu kamen Ausdünstungen des Autoverkehrs, die die fragile Malerei weiter schädigten. Um sie vor Abgasen und Ausdünstungen zu schützen, wurde in den neunziger Jahren zwischen Eingangsportal und Kirchenschiff ein Tunnel aus Glas gebaut. Dieser „Löwengang“ schirmte das Fresko ab, aber man konnte es durch Glasscheiben betrachten.

Menschen sollen frei von Sünde vor Gott treten

Ob sich der Totentanz auf solch elementare Ereignisse wie die Pest oder soziale Spannungen bezieht, die es bei der Errichtung der Hohenzollernherrschaft Mitte des 15. Jahrhundert in der Doppelstadt Berlin-Cölln gab, welche Wirkung der Reigen auf die Gläubigen hatte, wer die Maler waren und andere Fragen lassen sich aus zeitgenössischen Urkunden und Akten nicht erhellen, wohl aber die Botschaft, dass alle Menschen sterblich sind und wir nicht vor Gott treten sollen, ohne Buße getan und Vergebung für die Sünden bekommen haben.

Die für die Erforschung früher Mundarten und Wortschätze wichtige Rede und Gegenrede sind in niederdeutscher Sprache abgefasst, allerdings sind viele der in gotischen Lettern aufgemalten Wörter nicht oder nur schwer zu entziffern. Ziemlich gut zu lesen ist, was beispielsweise der Bürgermeister zu seinem bleichen Begleiter spricht: „Och gude doeth ick kann die nicht entwiken / du halest den armen vnde den riken - O guter Tod, ich kann Dir nicht entweichen / Du holst den Armen und den Reichen“. Dem Franziskanermönch, der den Reigen eröffnet, sagt der Tod, dieser habe immer gut reden können, nun aber müsse er den bitteren Tod erleiden, und dem Augustinermönch wird angekündigt „Die Geistlichen sterben gleich den Laien“. Dem Wucherer wirft der Tod vor, er sei für Geld gut zu sprechen gewesen, aber weil er die Armen übervorteilt habe, werde er großes Weh erleiden. Auch der Gastwirtin, die „Krügersche“ genannt wird, droht der Tod: „Ihr müsst schon mit, / Falsch zapfen (und) abrechnen ist Eure Sitte / Folget nach, Ihr seid wohl zum Tanze bereit“. Worauf die Wirtin antwortet, der Tod möge lieber den Narren mitnehmen, denn sie wolle weiter Bier zapfen. Auch dem Kaiser, der so stolz, edel und mächtig ist und schon auf Erden das Himmelreich hatte, dazu ein gutes, hübsches Weib und schöne Pferde, ruft der Tod zu: „Nun legt schnell nieder die goldene Krone. / Haltet Euch zu dem Totentanz bereit: / Ihr müsst mit, es sei Euch lieb oder leid“.

Der nur noch schemenhaft erhaltene Zyklus steht in der Tradition niederländisch-norddeutscher Totentanzdarstellungen und –dichtungen des späten Mittelalters. Er beginnt, ungewöhnlich für solche Darstellungen, nicht bei den obersten Spitzen der ständisch geordneten Gesellschaft, also mit Papst und Kaiser, sondern ganz unten. In aufsteigender Linie sprechen Küster, Mönch, Prediger, Arzt, Domherr, Abt, Bischof, Kardinal und Papst mit dem Tod, der nicht als Gerippe daher kommt, sondern als eine Art Fleischkörper. Nach dem Bild des kaum noch erkennbaren gekreuzigten Christus folgen in absteigender Linie Kaiser und Kaiserin, König, Herzog und Ritter, Bürgermeister, Geistlicher, Wucherer, Junker, Kaufmann, Bauer, Gastwirtin, Narr sowie Mutter mit einem Kind. Der Totentanz bildet ziemlich genau die damalige Gesellschaftspyramide ab, an deren Basis das „gemeine Volk“ jene Güter und Werte erarbeitete, die an der Spitze von aus dem Adel stammenden weltlichen und geistlichen Herrschern verprasst werden.

Schlüters Kanzel fand Beifall der Kenner

Der Totentanz ist nicht das einzige Kunst- und Geschichtsdenkmal, das einen Besuch der Berliner Marienkirche lohnt. Das im späten 13. Jahrhundert errichtete und danach immer wieder umgebaute und erweiterte Gotteshaus birgt eine Vielzahl bedeutender Zeugnisse mittelalterlicher und späterer Malerei und Bildhauerkunst. Zu nennen sind die von Andreas Schlüter geschaffene Kanzel, deren Korb von zwei stehenden Engeln aus Marmor flankiert wird, während der Schalldeckel von jubilierenden Engeln bevölkert wird. Schon im 18. Jahrhundert wurde die Kanzel wegen ihrer ungewöhnlichen Bauart als großartige künstlerische technische Leistung. So stellte der Schriftsteller, Verleger und Vertreter der Berliner Aufklärung Friedrich Nicolai in seiner „Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin Potsdam“ von 1786 anerkennend fest: „Dieses kühne Unternehmen, vielleicht das einzige seiner Art, verdient die Aufmerksamkeit und den Beyfall der Kenner“. Wie es der Bildhauer verstanden hat, einen Stützpfeiler auf halber Höhe zu durchtrennen und dort die Kanzel sowie vier rötlich schimmernde ionische Säulen ganz luftig hineinzusetzen, wurde schon damals bewundert. Wenn man Schlüters Meisterwerk näher betrachtet, sieht man am Kanzelkorb im Stil der Zeit gestaltete Seitenreliefs der Spes (Hoffnung) und der Caritas (Nächstenliebe) sowie vorn die Darstellung von Johannes dem Täufer, der auf das Lamm Gottes als Symbol für die Auferstehung Christi und Hoffnungszeichen für die Welt deutet. Ihm zur Seite hat der Bildhauer einen Mann in Denkerpose und einer Frau gesetzt, die sich nachdenklich an die Stirn fasst.

Reste mittelalterlicher Schnitzaltäre und zahlreiche Tafelbilder religiösen Inhalts, von denen einige aus anderen, heute nicht mehr existierenden Kirchen stammen, aber auch großartige Grabmäler von der Renaissance über den Barock bis zum Klassizismus unterstreichen die Bedeutung der Marienkirche für die Berliner, aber auch als Grablege des in der brandenburgischen und preußischen Haupt- und Residenzstadt lebenden Adels und Patriziats. Zu den kostbaren Ausstattungsstücken gehört die Orgel, ein Meisterwerk von Joachim Wagner aus den 1720-Jahren. In der Orgelempore der Marienkirche nicht weit vom Alexanderplatz kann bis Mitte Februar 2002 eine monumentale Wandmalerei, die aus vorreformatorischer Zeit stammende „Schutzmantelmadonna“ , besichtigt werden. Allerdings kann man das farbenfreudige Gemälde nur von der Seite oder einem schmalen Gang aus besichtigen.

Schutzmantelmadonna hinter der Orgel

Dass die Marienkirche außer dem „Totentanz“ noch ein weiteres mittelalterliches Wandbild birgt, war lange unbekannt. Geschützt hinter der barocken Wagner-Orgel konnte dieses einzigartige mittelalterliche Kunstwerk in seiner Authentizität die Zeiten überdauern. Im Zusammenhang mit der Sanierung der Orgel konnten vor einigen Jahren Kunsthistoriker und Restauratoren das monumentale Fresko inspizieren und würdigen. Dargestellt ist die drei Meter hohe Gottesmutter mit dem Christuskind auf dem Schoß. Von ihren Schultern geht wie ein Baldachin ein langer Mantel aus blauem Stoff herab. Unter diesem Schutzschirm suchen Papst, Kaiser, Mönch und andere Personen betend Zuflucht. Zu Füßen der so genannten Schutzmantelmadonna windet sich eine verwundete Schlange als Sinnbild des Bösen. Zwar wurde das Bild schon Ende des 19. Jahrhunderts von dem Geheimen Baurat Hermann Blankenstein vorsichtig freigelegt, doch der schwer einsehbare Ort hinter der Orgel brachte es mit sich, dass das Monumentalgemälde wieder vergessen wurde.

Für die Kunsthistorikerin Birgit Neumann-Dietzsch ist die Bedeutung des auf Kalkputz aufgetragenen Wandbildes nicht hoch genug einzuschätzen. Dies liege zunächst am geringen Bestand überlieferter mittelalterlicher Bilder dieser Art in Berlin, zum anderen aber in dem seltenen Vorkommen eines Schutzmantels und in der hochwertigen künstlerischen Ausführung der Gestalten mit ihren „beseelten“ Gesichtern. Das sieben Meter hohe und an seiner Basis 4,40 Meter breite Wandbild wird von zwei Wappenschildern einer noch nicht identifizierten Berliner Ratsfamilie flankiert. Die Kunsthistorikerin hofft, in der heraldischen Literatur oder in Urkunden heraus zu finden, wem die Wappen gehörten, um dann die Entstehungszeit des Gemäldes näher bestimmen zu können. Zusätzlich wird es durch Bänder mit einer nicht ganz vollständigen lateinischen Inschrift geschmückt. Auf ihnen sind die – übersetzten – Worte aus der Bibel in gotischen Minuskeln „Kommt her zu mir alle, die ihr nach mir verlangt und sättigt Euch an meinen Früchten“ zu lesen.

Die praktischen Untersuchungen und Konservierungsmaßnahmen erfolgten unter Leitung von Diplomrestaurator Jörg Breitenfeldt durch die Firma „Restaurierung am Oberbaum“ und wurden vom Landesdenkmalamt finanziert und fachlich begleitet. Der Zustand der Schutzmantelmadonna sei im Großen und Ganzen gut, von Fehlstellen abgesehen. „Durch den Ausbau der eisernen Verankerungen der Orgel und Reinigung der Malerei konnte die Lesbarkeit der Darstellung deutlich verbessert werden. Wir haben Risse geschlossen, schadhafte Kittungen ausgetauscht und Hohlräume hinterfüllt“, so Breitenfeldt. Außerdem sei ein die Wirkung des Wandbildes schädigender Leimüberzug auf dem 19. Jahrhundert abgetragen worden. Um die Authentizität des Bildes nicht zu beeinträchtigen, habe man auf „aufwertende“ Retuschen und Ergänzungen verzichtet. Hier und beim Totentanz gibt es keine schriftlichen Nachrichten darüber, wer sie in wessen Auftrag geschaffen haben. Der Totentanz und die Schutzmantelmadonna weisen stilistische und maltechnische Übereinstimmungen auf. Auch inhaltlich können sie im Zusammenhang stehen, denn während der Besucher beim Eintreten in die Kirche mit der Mahnung an Tod und Weltgericht konfrontiert wurden, konnten sie sie mit dem Blick auf die beschützende Muttergottes gestärkt und getröstet wieder verlassen.

29. November 2022

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