Guter Ort in guten Händen
Bei einem herbstlichen Besuch des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee notiert







Am Haupteingang des 1880 eingeweihten Friedhofs an der Herbert-Baum-Straße erinnert ein Stein mit vergoldeter Inschrift an die Millionen Juden, die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden. Kreisförmig sind hier auch Steine mit den Namen der großen Konzentrations- und Vernichtungslager ausgelegt. Hinter dem Rondell befindet sich die 1880 von Hugo Licht errichtete Trauerhalle. Rechts vom Haupteingang, in einem Gräberfeld an der Nordecke des Friedhofs, wurden rund 90 während der Pogromnacht 1938 geschändete Thorarollen beigesetzt.



Mit dem Stein unweit des Haupteinganges ehrt die Jüdische Gemeinde Berlin von den Nationalsozialisten ermordete Widerstandskämpfer, Namen von Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Theresienstadt und Neuengamme sind rund um den Gedenkstein am Hauptportal ausgelegt.



Rund um den Friedhof etablierten sich Betriebe, die ihre Dienste für alles anboten, was mit Friedhofsbauten sowie Grabschmnuck zu tun hatte. Das Haus an der Ecke Lothringen- und Metzer Straße (heute Herbert-Baum-Straße/Gounodstraße)war Sitz der Firma Levy & Pohl, eine der damals führenden Werkstätten für Grabmalskunst.



Zahlreiche Berliner Persönlichkeiten sind in Weißensee beigesetzt, so Maler Lesser Ury, der Kaufhausbesitzer Hermann Tietz („Hertie“) und der Schriftsteller Stefan Heym, der 2001 starb.bestatteten Personen und ihrer Familien.



Der Berliner Denkmalpfleger Klaus von Krosigk – hier eine ältere Aufnahme – setzt sich unermüdlich für den Erhalt und die Sanierung des Jüdischen Friedhof in Weißensee ein und hat damit auch Erfolg, wie zahlreiche bereits restaurierte Grabmäler beweisen.



An einzelnen Wegen und Rondellen aufgestellte Grabmäler in ihren historisierenden Formen und kostbaren Materialien von wirtschaftlicher Potenz und gesellschaftlicher Stellung der hier



Liebevoll nach allen Regeln der Denkmalpflege wiederhergestellt sind Wandgrabmäler unweit des Haupteingangs an der nach einem von den Nationalsozialisten ermordeten Widerstandskämpfer benannten Herbert-Baum-Straße.



Vor dem von Alexander Beer gestalteten und 1927 eingeweihten Mahnmal im hinteren Teil des Friedhofs für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin liegen Kränze, die am Volkstrauertag 2022 in ehrendem, die Opfer des Holocausts einschließendem Gedenken niedergelegt wurden. Das drei Meter hohe Denkmal aus Muschelkalkstein ist wie ein monumentaler Altar gestaltet. Im Umkreis fanden auf einem Ehrenfeld zwischen 1914 und 1918 gefallenen Soldaten ihre letzte Ruhe.



Der Jüdische Friedof in Weißensee ist, wie andere Begräbnisstätten in Berlin, eine ewige Baustelle, denn noch sind längst nicht alle Erhaltungsmaßnahmen in Angriff genommen, wie man beim Rundgang sehen kann. (Fotos/Repro: Caspar)

Seit Jahren unternehmen das Land Berlin, die Bundesregierung und die Berliner Jüdische Gemeinde große Anstrengungen, um wertvolle Grabmäler auf dem 40 Hektar großen Jüdischen Friedhof in Weißensee, aber auch die ihn umgebende Mauer zu sanieren und zu restaurieren. Dazu gehört auch, dass Bäume gefällt und zersägt werden, die auf die Gräber zu stürzen drohen, wie man beim Besuch des Friedhofs sehen und hören kann. Herab gefallene Blätter werden zu großen Haufen zusammen getragen, man sieht auch, dass Handwerker da und dort vom Zerfall bedrohte Grabmale sichern und sanieren. Nach jüdischer Tradition verzichten Grabsteine, von einigen Ausnahmen abgesehen, auf Bildnisse der Verstorbenen, denen man in größerer Zahl auf anderen Friedhöfen begegnet.

Dass der Friedhof nicht nur ein „guter Ort“ des Gedenkens an längst verstorbene Menschen ist, sondern auch heute belegt wird, zeigen Grabsteine mit nicht lange zurück liegenden Jahreszahlen sowie Blumen und Kränze. Manche Steine tragen kyrillische und andere ausländische Aufschriften, erinnern also an Zuwanderer, für die Berlin zur neuen Heimat wurde. Erhalt und Pflege des Jüdischen Friedhofs ist eine Sisyphusarbeit, die große Kraftanstrengungen erfordert und noch lange nicht abgeschlossen ist. Bisher war der schon vor Jahren gestartete Versuch, den Jüdischen Friedhof in Weißensee auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes zu setzen, trotz zahlreicher guter Argumente nicht von Erfolg gekrönt. Aber die Befürworter der Initiative lassen nicht locker und setzen auf Erfolg, der auch den aktuellen Sanierungs- und Pflegemaßnahmen einen großen Schub erteilen würde.

Bettler säumten Zugangsstraße

Vor und im Jüdischen Friedhof Weißensee herrschte vor der Errichtung der NS-Diktatur ständiges Kommen und Gehen. An einem einzigen Tag gab es bis zu zwölf Bestattungen am Tag. Links und rechts der damaligen Lothringenstraße, ab 1951 Herbert-Baum-Straße, warben Betriebe für „geschmackvolle Blumen- und Kranzspenden zu billigsten Preisen“ sowie für die Anfertigung von Grabsteinen und den Bau von Erbbegräbnissen, aber auch für die Erneuerung von Inschriften und die Herstellung und Pflege von Zäunen rund um die Grabstätten(siehe dazu Peter Melcher „Weißensee – Ein Friedhof als Spiegelbild jüdischer Geschichte in Berlin, Verlag Haude & Spener Berlin 1986, S. 86 ff.). Es müssen beträchtliche Summen gezahlt worden sein, um die aus teurem schwarzem Granit, weißem Marmor und anderen Materialien erbauten, dazu noch mit Inschriften und Schmuck aus vergoldeter Bronze und mit farbigen Mosaiken geschmückten Grabmale zu bezahlen. Wohlhabende Familien haben mit ihnen ihre Stellung in der Hierarchie der Gesellschaft im kaiserlichen Berlin und danach zur Schau gestellt und auch dafür gesorgt, dass Bildhauer und Steinlieferanten Arbeit und Brot hatten.

Überliefert ist, dass Bettler an der Straße zum Friedhof in der Hoffnung auf milde Gaben warteten, was zu manchen Unmutsäußerungen führte. Im Gemeindeblatt wurde regelmäßig aufgerufen, dem „Bettelunwesen“ Einhalt zu gebieten, den Bettlern jede Gabe zu verweigern und statt dessen Geld in aufgestellt Büchsen zu tun. Das Thema öffnet den Blick weg von den oft überaus prächtig, ja protzig und teuer gestalteten Grabmälern und dito Trauerfeiern mit reichem Blumen- und Kranzschmuck hin zu den dunklen Seiten der Berlin-Geschichte und führt zu der Erkenntnis, dass es auch in der Jüdischen Gemeinde wie überhaupt in der Berliner Gesellschaft ein großes Gefälle zwischen denen da oben und denen da unten gegeben hat.

Schlaglicht auf Vergangenheit und Gegenwart

Ein reich illustrierter Inventarband erfasst die Grabstätten und erläutert die Entwicklung des Friedhofs von 1880 bis heute. Das im Michael Imhof Verlag Petersberg erschienene Buch von 2013 in deutscher und englischer Sprache mit Vorworten prominenter Persönlichkeiten beantwortet unter anderem die Frage, wie viele Bestattungen auf dem Friedhof erfolgt sind, was die hebräischen Inschriften auf den Grabsteinen und Mausoleen bedeuten, wer diese Bauten entworfen und gebaut hat, in welchem Zustand sie sich heute befinden. Die Forschungen des Landesdenkmalamtes unterstreichen die große Vielfalt bei der künstlerischen Gestaltung der Grabmäler sowie bei den Inschriften und Widmungen. Die Autoren gehen der Frage nach, wer die hier bestatteten mehr als 115 000 Personen waren, welche Stellung sie in der Jüdischen Gemeinde und der Berliner Gesellschaft einnahmen und wie sich an den Grabmälern jüdische Emanzipation seit dem 19. Jahrhundert ablesen lässt. Ungeachtet mancher Verluste ist die Pracht vieler aus der Kaiserzeit und danach stammenden Grabmäler gut zu erkennen, nach und nach werden beschädigte Anlagen von Restauratoren wiederhergestellt.

Michael Müller, der damals für Stadtentwicklung und den Denkmalschutz zuständige Senator für Stadtentwicklung und spätere Regierende Bürgermeister Berlins, weist auf das Erscheinen des Inventarbandes im Themenjahr 2013 hin, das die von den Nationalsozialisten seit 1933 systematisch betriebene „Zerstörte Vielfalt“ in Erinnerung brachte. Der „Gute Ort“, wie der Friedhof in Weißensee und all die anderen jüdischen Friedhöfe genannt werden, sei zwar phasenweise vernachlässigt worden, lasse sich aber substanziell erhalten und sei wiederherstellbar. „Gerade wer Berlins verbrecherische Rolle im Nazi-Deutschland nicht vergessen will, wird in der Erschließung und Erhaltung dieser außergewöhnlichen Begräbnisstätte eine besondere Verpflichtung sein“, so Müller.

Das Buch beschreibt einen facettenreichen Bestand, der aufschlussreiche Schlaglichter auf die Kultur-, Sozial- und Baugeschichte Berlins wirft. Es enthält nicht nur biografische Angaben, sondern bietet auch wichtige Informationen über die noch lange nicht abgeschlossene Sanierung und Restaurierung der Grabmäler auf dem Friedhof, der einen Platz auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes erhalten soll. Vom Landesdenkmalamt in Verbindung mit der Technischen Universität Berlin erarbeitet, schildert der Inventarband die auch für ähnliche Anlagen interessanten Methoden, nach denen die Weißenseer Grabmäler aufgenommen und erfasst wurden, und er gibt Hinweise für weitere Sanierungsmaßnahmen. Die Angaben über die Grabmäler und die dort bestatteten Personen sind Ausgangspunkte für weitere Forschungen, denn bei der Größe und Vielschichtigkeit des Bestandes sind diese noch lange nicht abgeschlossen.

Emsig im Schaffen, tapfer im Leiden

Viele Inschriften auf Grabsteinen sowie an und in Mausoleen rühmen in poetischen, doch auch sachlich-nüchternen en Worten das Leben der Verstorbenen und weisen auf ein Wiedersehen und ein zweites, besseres Leben im Jenseits. Die Frage ist, wer die Widmungen formuliert hat und ob den Hinterbliebenen dafür Spruchsammlungen zur Verfügung standen. Auf dem Friedhof liest man in der Regel nur Namen und Lebensdaten, oft auch Angaben über Geburts- und Sterbeorte und manchmal Berufsangaben wie Rabbiner, Professor, Kommerzienrat, Rechtsanwalt oder Maler. Zu Herzen gehen Widmungen wie „Wahrhaftigkeit, das Gottessiegel /War Deiner reinen Seele Spiegel“, „Hoheitsvoller Wandel / schlicht Gemüte./ Streng gegen sich / für andere voller Güte“ (Fritz Eduard und Anna Sachs), „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt der ist nicht todt, der ist nur fern.“, „Ich habe ein schönes Glück besessen / Hier schlummert es auf ewig unvergessen“ (Emil Schmelz), „In wahrhaft edlen Sinne und treuer Menschenliebe sorgte er für die Verlassenen und Armen und lebt in ihnen dankbar fort Friede seiner Asche“ (Isidor Kraft), „Du bist dahin gegangen in deines Lebens Blüthe doch strahlend lebst Du fort in den Herzen, wo deine Güte dir ein unvergängliches Denkmal gebaut für alle Zeiten.“, „Preist Ihr das Ringen nach Wahrheit, / des Geistes erhabene Erleuchtung. / Denkt auch des sonnigen, frohen Gemütes, des Adels der Seele! / Goldener Kern in herrlicher Schale. / Ein Segen der Menschheit. Ach! Wie groß dieses Herz. / Wissen die Seinen nur ganz!“ (Hermann Staub), „Emsig im Schaffen, tapfer im Leiden / Ein kluger Berater und selbstloser Freund / gleich Vater und Ahn. / Ein Jünger der Menschheit. / So bleibt sein Gedächtnis zum Segen“ (Helmut Meyer) und „Zu helfen Allen war Dir süße Pflicht - / Weh mir, dass jetzt der kalte Stein dies spricht! / Verwaist stehe ich an deiner letzten Ruh – auf Wiedersehen einst! Mein Alles du!“

Versteck für Verfolgte des Naziregimes

Obwohl die Nationalsozialisten an anderen Orten in ihrem Herrschaftsbereich jüdische Friedhöfe geschändet und zerstört haben, ließen sie die Weißenseer Anlage im Wesentlichen bestehen und erlaubten dort unter den Augen der Gestapo und ihrer Spitze auch Bestattungen bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Für die Zeit nach dem zum Glück nicht errungenen „Endsieg“ sollte auch der Jüdische Friedhof in Weißensee dem Erdboden gleichgemacht werden. Aus Verzweiflung über Verfolgung und bevorstehende&xnbsp;Deportationen&xnbsp;nahmen sich viele jüdische Berliner das Leben, was einen Anstieg der Beerdigungen führte und 1942 einen Höhepunkt erreichte. Insgesamt sind auf dem Friedhof 1907&xnbsp;Juden begraben, die sich zwischen 1933 und 1945&xnbsp;das Leben nahmen. Auf einem Feld ist die Asche von 809&xnbsp;Juden begraben ist, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Auf zahlreichen Grabsteinen haben Hinterbliebene die Namen ihrer dem nationalsozialistischen Massenmord zum Opfer gefallenen Angehörigen verewigt.

Im Frühjahr 1943 versteckten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Berlin 583&xnbsp;Thorarollen&xnbsp;in der 1910 errichteten Neuen Feierhalle im Südostteil des Friedhofes. Nachdem diese durch eine Brandbombe im Sommer 1943 stark beschädigt war, konnten aus den Trümmern beschädigte Reste geborgen werden und wurden unweit des Haupteingangs bestattet. Die restlichen Thorarollen wurden bis zum Ende des Krieges in einem Keller unter der Blumenhalle verwahrt und später den Synagogen in und außerhalb Berlins übergeben. An die Vernichtung des jüdischen Schriftgutes erinnert ein Gedenkstein mit einer symbolischen Beisetzung. Das eine oder andere Mausoleum diente im Zweiten Weltkrieg als Unterschlupf für Juden, die hier mit Unterstützung durch mutige Berliner von außen der sicheren Deportation und Ermordung entgingen.

DDR-Pläne für Ausfallstraße wieder aufgegeben

In den 1970er Jahren griff die Ostberliner Führung älteren Pläne für die Ausfallstraße über den Friedhof hinweg wieder auf. Zwischen der in&xnbsp;Artur-Becker-Straße&xnbsp;umbenannten Kniprodestraße und der&xnbsp;Hansastraße&xnbsp;sollte der Verkehr über einen seit der Weimarer Republik freigehaltenen Streifen stadtauswärts verlaufen mit der Folge, dass die Straße den Friedhof in zwei durch Fußgängerbrücken verbundene Teile zerschnitten. Die Bauarbeiten begannen 1986, wurden aber angesichts von Diskussionen über eine nicht hinnehmbare Missnutzung des Friedhofs schon bald wieder aufgegeben. Staats- und Parteichef Erich Honecker, der einen Staatsbesuch in den USA anstrebte, und einen Imageverlust der DDR befürchtete, verfügte den Baustopp. Mit welchen Argumenten das Vorhaben zu Fall gebracht wurde, wäre noch eine genauere Untersuchung wert.

Bliebe noch ein Gedicht von Kurt Tucholsky, dessen Eltern auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee bestattet sind und das er 1925 unter dem Pseudonym Theobald Tiger in der „Weltbühne“ publizierte. Die Jüdische Gemeinde und sicher auch Hinterbliebene der hier bestatteten Menschen dürften von diesen Worten wenig begeistert gewesen sein: „Da, wo Chamottefabriken stehn – Motorgebrumm – da kannst du einen Friedhof sehn, mit Mauern drum. / Jedweder hat hier seine Welt: ein Feld. / Und so ein Feld heißt irgendwie O oder I... Sie kamen hierher aus dem Betten, aus Kellern, Wagen und Toiletten, und manche aus der Charité nach Weißensee, nach Weißensee. // Wird einer frisch dort eingepflanzt nach frommen Brauch, dann kommen viele angetanzt – das muss man auch. Harmonie singt Adagio – Feld O - das Auto wartet– Taxi drei – Feld Ei. Ein Geistlicher kann seins nicht lesen. Und was er für ein Herz gewesen, hört stolz im Sarge der Bankier in Weißensee, in Weißensee. // Da, wo ich oft gewesen bin, zwecks Trauerei, da kommst du hin, da komm ich hin, wenn es mal ist vorbei. / Du liebst. Du reist. Du freust dich, du – Feld U –Es wartet in absentia Feld A. / Es tickt die Uhr. Dein Grab hat Zeit, drei Meter Lang, ein Meter breit. / Du siehst noch drei, vier fremde Städte, du siehst noch eine nackte Grete, noch zwanzig-, dreißigmal den Schnee / Und dann: Feld P in Weißensee in Weißensee.“

20. November 2022

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