DDR im freien Fall
Stasi wusste alles, aber SED-Führung ignorierte alle Warnungen und redete sich die Lage schön



Als am 7. Oktober 1989 in der Berliner Karl-Marx-Allee mit markigen Reden, dem Vorbeimarsch der Nationalen Volksarmee und einem Defilee der der zum Jubel abkommandierten Bevölkerung der 40. Jahrestag der DDR zelebriert wurde, dauerte es nur noch Wochen, bis das SED-Regime wie ein Kartenhaus in sich zusammen brach.



Bruderküsse reichten nicht aus, um die Differenzen zwischen Gorbatschow und Honecker zu überbrücken.



Bei der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 im Berliner Palast der Republik haben sich Honecker und Genossen die Lage schön geredet und sich Mut gemacht, während der "Kessel" draußen im Lande zu explodieren drohte. Ein paar Tage später war Festredner Erich Honecker weg vom Fenster.



Gedenkmünzen von 1974 und 1989 feiern die DDR als heile Welt und als ein Land, in dem die Wünsche der Menschen für Frieden, Freiheit und Wohlstand verwirklicht sind.



Leipzig war 1989 eines der wichtigen Zentren des Widerstands gegen das SED-Regime. Mit dem Mut der Verzweiflung stellten sich tausende Menschen den schwer bewaffneten Polizisten und Stasileuten entgegen. Zu einem Massaker wie wenige Wochen zuvor auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking kam es nicht. Nachdem heimlich von einem Kirchturm von Siegbert Schefke und Aram Radomski hergestellte und nach Westberlin geschmuggelte Videoaufnahmen vom Protestmarsch der 70 000 am 9. Oktober 1989 im Westfernsehen gezeigt wurden, konnten die von Honecker beherrschten Medien nicht mehr behaupten, es seien nur wenige Randalierer und Krawallmacher unterwegs gewesen.



Eine Metallplatte neben der Leipziger Nikolaikirche erinnert an die "Abstimmung mit den Füßen" gegen das SED-Regime rund um den 9. Oktober 1989.



Während die Propagandamaschine zum 40. Jahrestag der DDR lief, demonstrierten zahllose DDR-Bewohner unter dem Motto "Wir sind das Volk" für Abschaffung der Einparteien- und Stasiherrschaft, für Reisefreiheit und spürbar verbesserte Lebensbedingungen. Einige Plakate gelangten ins Deutsche Historische Museum Unter den Linden in Berlin. (Fotos/Repros: Caspar)

Die Behauptung, die SED und DDR-Führung habe keine Ahnung darüber gehabt was, in der Bevölkerung vor sich geht und wie sehr sich das Regime im freien Fall befindet, stimmt nicht. Honecker und Genossen wussten alles, genauer sie hätten wissen müssen, wie schlecht es um die DDR steht. Sie haben aber die Berichte ihres eigenen Geheimdienstes nicht ernst genommen und auch Hinweise hochrangiger Berater zur Lösung der Krise in den Wind geschlagen. Gegen alle Vernunft verdrängte das SED-Politbüro die Gefahr un d tat so, als ob alles in Ordnung ist. Die Berichte der Staatssicherheit über die "miese" Stimmung im Lande, wie ihr Minister konstatierte, wurden von Erich Honecker (SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender), Günter Mittag (Sekretär für Wirtschaft), Joachim Herrmann (Sekretär für Agitation und Propaganda) und weiteren Funktionären als "Mist und Schwarzmalerei" vom Tisch gewischt. Statt dessen setzten sie auf Drohung, Lüge und Schönfärberei.

"Kommt der 17. Juni"

Was die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS streng geheim nach oben meldete, war geschönt, um nicht den Zorn der Empfänger zu erregen. In abgeschwächter Form und mit gewundenen Worten waren sie aber noch so deutlich, dass die Informationen gereicht hätten, die Alarmglocken im SED-Politbüro und Zentralkomitee und der Regierung schrillen zu lassen. Doch Honecker und seine Leute wollten nicht wissen, wie schlecht es mit der DDR-Wirtschaft und inneren Sicherheit bestellt ist. Sie malten sich die Lage schön und behaupteten vor, rund um den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989, das Land der Arbeiter und Bauern sei stabil und wirtschaftlich potent. Dass die Leute scharenweise über DDR-Botschaften in Warschau, Budapest und Prag sowie am 19. August 1989 und danach hunderte Bewohner unbehelligt die Grenze nach Österreich passierten, wurde auf Machenschaften westlicher Geheimdienste und Medien zurück geführt. Das gilt auch für die Massenproteste, die von Plauen und Leipzig ausgehend das ganze Land ergriffen und Mielke besorgt mit Blick auf den Volksaufstand von 1953 fragen ließen "Kommt der 17. Juni?"

Bei der Festveranstaltung im Berliner Palast der Republik behauptete der SED- und Staatschef am 7. Oktober 1989: "Unsere Republik gehört heute zu den zehn leistungsfähigsten Industrienationen der Weit, zu den knapp zwei Dutzend Ländern mit dem höchsten Lebensstandard". Honecker erhielt bei diesen Worten tosenden Beifall, während draußen Demonstranten mit "Gorbi, Gorbi" nach dem sowjetischen Hoffnungsträger Michail Gorbatschow riefen und von der Stasi und Polizei zusammengeprügelt wurden. Unverdrossen beschrieb Honecker den Wohlstand in der DDR, der weder aus der Erde gesprudelt noch auf Kosten anderer erreicht wurde und das "Werk von Millionen, von mehreren Generationen (ist), die in harter Arbeit ihren Arbeiter- und Bauern-Staat aufgebaut haben, einen Staat mit moderner Industrie und Landwirtschaft, mit einem sozialistischen Bildungswesen, mit aufblühender Wissenschaft und Kultur. Schließlich ist die DDR eine Weltnation im Sport. Mit unseren Händen und Köpfen haben wir das zuwege gebracht, unter Führung der Partei der Arbeiterklasse. Nichts, aber auch gar nichts wurde uns geschenkt oder ist uns in den Schoß gefallen. Zudem waren hier nicht nur mehr Trümmer wegzuräumen als westlich der Elbe und Werra, sondern auch noch die Steine, die uns von dort in den Weg gelegt wurden. Heute ist die DDR ein Vorposten des Friedens und des Sozialismus in Europa. Dies zu keiner Zeit zu verkennen, bewahrt uns, sollte aber auch unsere Feinde vor Fehleinschätzungen bewahren." Wenn der Gegner in einem noch nie gekannten Ausmaß seine Verleumdungen gegen die DDR richtet, dann sei das kein Zufall. In 40 Jahren DDR habe sich die vierzigjährige Niederlage des deutschen Imperialismus und Militarismus summiert.

Betonköpfe ignorierten Stasiberichte

Propaganda dieser Art und Jubelberichte in den Zeitungen und DDR-Fernsehen halfen nicht, die Stimmung im Lande zu heben. Fleißig sammelte die Staatssicherheit nach dem Motto "Wir sind überall, wir müssen alles wissen" mithilfe ihres Heers an hauptamtlichen und inoffiziellen Spitzel riesenhafte Berge an Informationen über die Stimmung und Aktivitäten "feindlich-negativer Personen", also von Oppositionellen. Doch bei der Auswertung und Weitergabe legten Mielkes Leute Scheuklappen an und bedienten sich der Methode der Verschlüsselung und Schönfärberei. Auch wenn in aller Vorsicht Missstände in der Versorgung und Produktion, beim Umweltschutz und der Beachtung der Gesetze und vielen anderen Bereichen bis zur Vergabe von Wohnungen, zog die Führung keine Schlussfolgerung und verwies darauf, dass alles seine Zeit braucht und die Dinge "noch" besser werden, als ob sie schon gut sind.

Die Erich Mielke unterstehende ZAIG sah, dass ihre Berichte nicht wahrgenommen werden und sie keine Möglichkeit hat, die Führung im Interesse der Machterhaltung zu beeinflussen. Dabei legte der Stasiminister selbst Hand an die Berichte, um sie bei der Besprechung im Politbüro seinem Generalsekretär Honecker schmackhaft zu machen. Der aber ignorierte die geschönten Informationen, weil er sie für übertrieben und unglaubwürdig hielt. Es durfte ja nicht sein, was nicht in sein Weltbild und das der anderen Betonköpfe, wie man hinter vorgehaltener Hand die Altherrenriege an der Spitze des Zentralkomitees nannte.

Unmut sogar bei treuen Genossen

In einem geheimen MfS-Papier vom 16. Oktober 1989, verfasst zwei Tage vor dem Sturz von Erich Honecker, werden zunehmender Umfang und Intensität von "äußerst kritischen Meinungsäußerungen aus der Bevölkerung" konstatiert. Selbst langjährige Mitglieder der SED und andere progressive, also systemkonforme Kräfte sowie Mitglieder und Funktionäre befreundeter Parteien würden in diesem Sinne auftreten. Die Verantwortung für die innenpolitische Lage in der DDR werde weitgehend der Parteiführung der SED angelastet. "Progressive Kräfte schätzen ein, dass es in besorgniserregenden Umfang Meinungsäußerungen aus allen Bevölkerungsteilen gibt, in denen die der Parteiführung das Vertrauen und die Verbindung zum Volk abgesprochen werden. Die Reformfähigkeit der Parteiführung und ihr Wille dazu werden direkt in Abrede gestellt. In diesem Zusammenhang werden immer wieder Forderungen nach einer Kaderverjüngung in der Parteiführung erhoben."

Zahlreiche Mitarbeiter zentraler Organe, Mitglieder und Funktionäre der SED würden nicht mehr akzeptieren, heißt es in dem Papier weiter, dass es im realen Sozialismus der DDR zu Massenfluchten und Mangelerscheinungen, zu ökonomischer Stagnation und offenen Unzufriedenheit in der Bevölkerung kommt und es eine lebensfremde Medienpolitik gibt. Das Stasi-Dokument vermeidet es, Ross und Reiter zu nennen, denn die Lügen und Verdrehungen wurden von Honecker und seinem Mediensekretär Joachim Herrmann über das Neue Deutschland, die Nachrichtenagentur ADN und die Aktuelle Kamera im DDR-Fernsehen lanciert. In vielen Aussprachen werde gefordert, berichtet die Stasi dem Politbüro, sofort mit Schönfärberei und selbstherrlichen Darstellungen Schluss zu machen. Die in den Medien präsentierten ausschließlich positiven Planbilanzen würden als Volksverdummung bezeichnet. Honecker und Genossen hörten nicht auf die Stimme des Volkes, ließen alle Kritik abprallen und schoben die Schuld an der mit blumigen Worten umschriebenen Misere der Wühlarbeit "feindlich-negativer Kräfte" zu.

Geschönte Daten für die Volkskammer

Wie ernst die Lage war und wie sehr sich die alles beherrschende Staatspartei mühte, sie zu beschönigen, geht aus internen Papieren hervor, die erst nach 1989/90 publik wurden. Das DDR-Finanzministerium informierte am 9. Mai 1988 das SED-Politbüro über die Abrechnung des Staatshaushaltplans 1988, der als nicht ausgeglichen bezeichnet wird und ein Defizit von 5,4 Milliarden Mark enthält. Um nicht das Bild von einem wirtschaftlich starken und gesunden Land zu verdunkeln, schlug das Finanzministerium vor, der Volkskammer die Haushaltsrechnung ohne Angaben über das Defizit vorzulegen und stattdessen von ausgeglichenen Einnahmen und Ausgaben zu sprechen. Der Volkskammer, die ja formal das höchste Gesetzgebungs- und Entscheidungsorgan in der DDR war, bekam frisierte Zahlen vorgelegt und gab sich, da von der SED zu einem Akklamationsorgan herabgewürdigt, damit zufrieden. Das Politbüro stimmte einer Rede des Finanzministers Ernst Höfner zu, in der die Ausgeglichenheit des Etats als wesentlicher Unterschied zwischen der Haushaltsführung in den sozialistischen Ländern im Kontrast zur kapitalistischen Welt hervorgehoben wurde. So wurde auch hier mit Lügen und Verdrehungen Propaganda für den Sozialismus in der DDR und damit auch gegen den Kapitalismus in der BRD betrieben.

Der bisherige Minister für Finanzen Ernst Höfner und andere Politiker taten wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 vor der Volkskammer und versuchten sich in Erklärungen und Beschönigungen. Höfner räumte ein, dass die Wirtschaft der DDR, von der die Propaganda immer behauptet hatte, sie sei stark, gesund und gehöre zu den zehn führenden Volkswirtschaften der Welt, zum großen Teil nur durch Kredite finanziert worden sei. Er übernahm in seiner Stellungnahme zur Staatsverschuldung die Verantwortung für die unterlassene Rechenschaftslegung über die wirkliche Finanzlage des Landes.

1. Juli 2022

16. März 2022

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