"Dritter Weg" war unerwünscht
Ulbricht und Honecker schickten Dissidenten ins Zuchthaus oder ins Archiv, ließen sie aber am Leben



Auf "ihren" Stalin ließen Ulbricht, Honecker und die andern offenen oder verkappten Stalinisten nichts kommen, gegen Ende der DDR hat die SED sogar versucht, den sowjetischen Diktator zu rehabilitieren. Die Abkehr von stalinistischer Politik, Herstellung von Rechtssicherheit und wahrer Demokratie waren mit Walter Ulbricht und Genossen nicht zu machen, deshalb forderten Harich und seine Mitstreiter ihre Ablösung.



Bevor Harich, Janka und viele andere "Politische" vor Gericht gestellt und zu Zuchthausstrafen verurteilt wurde, hat man sie im Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen unter menschenunwürdigen Bedingungen verhört und drangsaliert. Die Gefangenenzellen und Verhörräume sind weitgehend so erhalten, wie sie die Stasi 1990 an die Bundesrepublik Deutschland übergeben hat, nicht ohne zuvor brisante Dokumente zu vernichten.



Ein Stein im Hof der heutigen Gedenkstätte Hohenschönhausen erinnert an die Opfer des Stalinismus.



In die schöne heile Welt des Sozialismus, wie sie die SED propagierte, passten kritische Stimmen nicht, weshalb Ulbricht und Genossen jede Form von Widerspruch erstickten und ihre Gegner ins Zuchthaus steckten oder mundtot machten.





Erich Honecker blieb wie sein Vorgänger Walter Ulbricht als SED- und Staatschef Zeit seines Lebens ein Stalinist, auch wenn er sich, wenn es ihm opportun erschien, liberal und weltläufig gab. Nach dem Ende der SED und der DDR wurden ungeheuerliche Einzelheiten über die Machenschaften im Politbüro und Zentralkomitee der SED und die Privilegien der Parteiführung bekannt. Das Bild oben zeigt den Bruderkuss mit Leonid Brehnew und wie man ihn auf die East-Side-Gallery gemalt hat. (Fotos/Repros: Caspar)

Ein besonderes Hassobjekt der Ulbricht-Clique war in den 1950er Jahren eine Oppositionsgruppe um den Berliner Philosophieprofessor Wolfgang Harich, zu der auch der Leiter des Berliner Aufbau-Verlags Walter Janka gehörte. Eine von ihnen ausgearbeitete "Plattform" forderte die Ablösung derjenigen Mitglieder der Parteiführung und des Staatsapparats, "die hauptverantwortlich waren für die konsequente Übertragung der Stalin-Kursus auf die DDR". Die Herstellung der innerparteilichen Demokratie, die Umwandlung der Volkskammer in ein demokratisches Parlament, die Wiederherstellung der Rechtssicherheit und Auflösung der Staatssicherheit sowie die Demokratisierung des kulturellen Lebens seien unumgänglich. Verlangt wurden außerdem die Dezentralisierung der Leitung der Wirtschaft, die Auflösung überflüssiger Ministerien, eine neue Mittelstandspolitik und die Einstellung der Zwangskollektivierung, die zu großen Problemen in der Landwirtschaft und der Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln geführt hatte. Dass die Gruppe freie Wahlen und Meinungsfreiheit, den Abzug der sowjetischen Truppen, die Wiedervereinigung als neutrales, entmilitarisiertes Deutschland sozialistischer Prägung auf ihre Fahne schrieb, brachte nicht nur die SED-Führung in Rage, sondern auch ihre "sowjetischen Freunde", die ihren Einfluss auf den weitgehend noch unter ihrer Kontrolle stehenden Satellitenstaat an der Grenze zwischen der östliche und der westlichen Hemisphäre gefährdet sahen.

Marxismus-Leninismus ohne Stalinismus

Den Verfassern der Plattform schwebte ein "dritter Weg" vor, der in den Augen der SED-Führung nichts anderes als Revisionismus war. Harich und seine Freunde forderten einen "besonderen deutschen Weg zum Sozialismus" sowie einen vom Dogma des Stalinismus befreiten Marxismus-Leninismus, über den man in der Partei und der DDR diskutieren soll. In ihrer Plattform stellten Harich und seine Freunde klar, dass sie die Positionen des Marxismus nicht verlassen, aber weg vom Stalinismus kommen wollen. Ihnen war wichtig festzustellen, dass das Parlament und der Wähler der Souverän im Lande ist. Die deutsche Wiedervereinigung forderten sie ebenso wie eine einheitliche und gesamtdeutsche Arbeiterbewegung.

Das ließ sich die SED-Führung nicht gefallen, denn was Harich, Janka und ihre Mitstreiter rüttelte an den Grundlagen ihrer Macht. Deshalb wurde die Oppositionsgruppe zu Agenten des westdeutschen Imperialismus erklärt und zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. In einem von der Stasi sorgfältig vorbereiteten Schauprozess nach Moskauer Muster wurde Wolfgang Harich im März 1957 wegen "Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe" zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. In einem weiteren Prozess erhielten auch Walter Janka, Gustav Just und andere hohen Zuchthausstrafen. Harich wurde Ende 1964 amnestiert und aus der Haft entlassen. Er durfte im Akademie Verlag Berlin als freier Mitarbeiter eine Ludwig-Feuerbach-Ausgabe bearbeiten, aber auch sein Jean-Paul-Buch schreiben und herausbringen und starb 1995 im Alter von 71 Jahren.

Konterevolutionäre Verschwörung

Auch Walter Janka wurde der "konterrevolutionären Verschwörung" angeklagt und vom Obersten Gericht der DDR am 26. Juli 1957 "als unmittelbarer Hintermann und Teilnehmer einer konterrevolutionären Gruppe" wegen angeblicher Boykotthetze zu fünf Jahren Zuchthaus mit verschärfter Einzelhaft verurteilt. Beim Prozess gegen ihn trat Harich als Hauptzeuge auf und belastete Janka schwer. Die ehemaligen Freunde blieben von da ab da ein Leben lang verfeindet. Janka verbüßte seine Strafe im Zuchthaus Bautzen II, wo er schwer erkrankte. Über seine Haftzeit schrieb er von sich in der dritten Person: "Wieder musste Janka an die Jahre der Nazizeit denken. Immer beginne es damit, die Köpfe zu verunstalten", also die Haare abzuschneiden. Als man ihm die Instandsetzung der Heizung in seiner Zelle verweigerte, sei ihm das wie damals vorgekommen, "als Janka in den dreißiger Jahren bei den Nazis in Bautzen gesessen hatte. Damals in der großen Haftanstalt. Am Rande der Stadt. Die Einwohner von Bautzen nennen sie ‚das gelbe Elend', weil alle Gebäude aus gelben Klinkersteinen gemauert sind." Ende 1960 wurde Walter Janka auf Grund internationaler Proteste vorzeitig aus der Haft entlassen. Von der Stasi streng observiert, durfte er als Dramaturg bei der DEFA arbeiten. Er starb 1994 in Kleinmachnow, wo er schon in den 1950er Jahren gewohnt hatte.

Parteiführer spuckt Gift und Galle

In den Augen der SED-Führung waren alle Abweichler von ihrer Linie ganz gemeine Verräter und Klassenfeinde. Auf der 35. Tagung des Zentralkomitees der SED am 3. Februar 1958 spuckte das damalige Politbüromitglied Erich Honecker Gift und Galle und verlangte strenge Maßnahmen gegen sie. Anfang Dezember 1954 habe es eine Parteiversammlung in der Wismut gegeben, bei der zwei ZK-Mitglieder, der Minister für Schwermaschinenbau Gerhard Ziller und Fritz Selbmann, der Stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Plankommission und des Volkswirtschaftsrates, gegen die Politik und die Beschlüsse der Partei aufgetreten waren. Ziller habe einigen Genossen gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass auf der nächsten, der 35. ZK-Tagung, eine Gruppe von Genossen auftreten würde, um eine Änderung in der politisch Linie der Partei und bei der Parteiführung herbeizuführen. "Ich werde auspacken, da können die Halunken etwas erleben", auf dem nächsten Plenum gehe es auf Biegen und Brechen, aufs Ganze, soll Ziller, Honecker zufolge, gesagt haben. "Wir lassen uns nicht einen nach dem anderen abschießen, entweder wir gehen vor die Hunde, dann wird man uns als Lumpen bezeichnen, oder wir gehen als Sieger hervor. Wir entnehmen Honeckers bis damals geheim gehaltene Rede dem Buch "Tatort Politbüro - Die Akte Honecker" von Peter Przybylski, das 1991 im Rowohlt Verlag Berlin erschien.

Gerhard Ziller und seine Freunde gingen aus der Tagung nicht als Sieger hervor sondern als Lumpen und Verlierer. Ulbricht, Honecker und Genossen rechneten mit ihnen unbarmherzig ab, riefen ihre Leute zur Wachsamkeit und zum Kampf gegen feindliche Gruppen auf. Es sei zunächst, so Honecker, nicht ganz klar gewesen, wer die Organisatoren der feindlichen Gruppierungen waren, aber dass es sie gab sei offenkundig gewesen. In Zeitschriften und Zeitungen sei ihre Konzeption mehr oder weniger offen vertreten worden. "Es gelang unserer Partei und den staatlichen Organen, feindliche Gruppierungen aufzudecken und die Tatsachen haben gezeigt, dass sich einige dieser Gruppierungen, z. B. Harich-Janka-Gruppe, schon zu einem konterrevolutionären Zentrum entwickelt haben hatten. Wir haben nicht zugelassen, dass sich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Dogmatismus die Konterrevolution organisierte, wir eröffneten, ohne den Kampf gegen Dogmatismus zu vernachlässigen einen entschiedenen Kampf gegen die Hauptgefahr, den Revisionismus. Wir haben uns keine Fehlerdiskussion aufzwingen lassen", sagte Honecker. Er bezichtigte den "neunmalklugen" Schirdewan kleinbürgerlichen Größenwahns und grenzenlosen Unfehlbarkeitsdünkels. Folgerichtig erhielt dieser eine strenge Parteirüge und wurde aus dem Politbüros wegen wiederholter Verletzung der Parteidisziplin geworfen.

Das Zentralkomitee verurteilte auf Schärfste auch Fritz Selbmann und den Minister für Staatssicherheit Ernst Wollweber, die ebenfalls ausgeschlossen und kalt gestellt wurden. Nach den Auseinandersetzungen mit Ulbricht über wirtschaftspolitische Fragen und seinen Führungsstil beging Ziller am 14. Dezember 1957 Selbstmord. Posthum wurde er beschuldigt, zur "parteifeindlichen Gruppe Schirdewan, Wollweber und anderen" gehört zu haben. Nachdem der "Abweichler" Selbmann aus dem SED-Zentralkomitee geworfen worden war, verlegte er sich auf die Schriftstellerei und war von 1969 bis 1975 er einer der Vizepräsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes.

"Oberindianer" ließ keine Diskussion zu

Das Politbüro des Zentralkomitees der SED war das eigentliche Machtzentrum der DDR. In dem aus zwei Dutzend Spitzenfunktionären, darunter nur zwei Frauen, bestehenden Gremium wurden Entscheidungen von Bedeutung, aber auch solche von lächerlichem Belang besprochen und abgenickt. In der Honeckerzeit ab 1971 fanden in der dienstags tagenden Runde kaum noch Diskussionen statt, unter Ulbricht soll es welche noch gegeben haben. Kritik am Parteichef und seinen Entscheidungen hätte für die betreffende Person den Rauswurf aus dem Politbüro, Degradierung und Entzug von Privilegien bedeutet. Also hielt man sich besser zurück und sah zu, wie das Land langsam den Bach herunter ging.

Wie der von Udo Lindenberg in dem Lied vom Sonderzug nach Pankow als "Oberindianer" bezeichnete Honecker mit innerparteilicher Opposition umging, zeigte sich am Herauswurf der Politbüromitglieder Herbert Häber und Konrad Naumann im Jahr 1985. Der für Beziehungen zum Westen zuständige Häber hatte sich für eine Abmilderung des unmenschlichen Grenzregimes ausgesprochen. Da das dem Parteichef, der 1961 im Auftrag von Ulbricht den Bau des "antifaschistischen Schutzwalls" vorbereitet und überwacht hatte, nicht in den Kram passte, musste er aus angeblich gesundheitlichen Gründen zurücktreten und wurde in die Psychiatrie eingeliefert und danach in die SED-eigene Akademie für Gesellschaftswissenschaften abgeschoben. In einem Interview erklärte Häber später, dass er wie ein Krimineller behandelt wurde und sich jede Woche auf einer Köpenicker Polizeiwache melden musste, um zu zeigen, dass er nicht geflohen ist.

Hohe Funktionäre wurden Unpersonen

Konrad Naumann, der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, hatte sich im Alkoholrausch über Honecker und seine miserablen Führungsqualitäten und die "Faulheit" der Professoren an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften mokiert und wurde, nachdem man einen Mitschnitt seiner Rede dem gescholtenen Parteichef vorgespielt hatte, ebenfalls aller seiner Posten enthoben, aber nicht liquidiert, wie es in der Sowjetunion unter Stalin üblich war. Der zur Persona non grata abgestempelte Funktionär mit ausgeprägtem Machtbewusstsein und großem "Frauenverschleiß", wie es intern hieß, kam in der Staatliche Archivverwaltung in Potsdam unter, die offenbar als Auffangbecken für gestürzte SED-Leute diente, und starb 1992 in Ecuador.

Im Politbüro gab es einen aus Honecker, Stasiminister Erich Mielke, Wirtschaftssekretär Günter Mittag und Propagandachef Joachim Herrmann bestehenden inneren Zirkel, in dem Fragen der Sicherheits-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ausbaldowert wurden. "In der Tat gab es keine kollektive politische Führung durch das Politbüro. In der Tat gab es ein Regime der persönlichen Macht durch Honecker, dessen engster Kumpan Mittag war und der besonders durch Herrmann und Schabowski, Sindermann und Kessler forciert und aktiv unterstützt wurde" schrieb das frühere Politbüromitglied Werner Krolikowski 1990. Das das Regime der persönlichen Machtausübung und der in der Parteiführung herrschende Opportunismus führte die DDR in den Abgrund, mochte die Propaganda sich noch so sehr bemühen, sie als die bessere Alternative für den zum Untergang bestimmten westdeutschen Imperialismus zu feiern.

Ernste Lage, absurdes Theater

In seinem Buch "Der Absturz" (rororo Verlag Reinbek bei Hamburg 1991) hat das ehemalige Politbüromitglied Günter Schabowski beschrieben, wie es unter Honecker im Politbüro zuging. Der Parteischef habe auf die "Abwanderung" der DDR-Bewohner 1989 so reagiert: "Warum stellt ihr überhaupt die Zahl der Ausreisenden zusammen? Was soll das? Vor dem Mauerbau sind viel mehr von uns weggegangen." Die Sitzungen des Politbüros und des Sekretariats seien immer mehr zu Szenen eines absurden Theaters geworden, schreibt Schabowski, der als unfreiwilliger "Maueröffner" vom 9. November 1989 in Erinnerung bleibt. "Während sich das Volk von uns abwandte, übten wir uns in der kunstgesellschaftlicher Voraussicht, zum Beispiel indem wir festlegen, wie im Jahr 1991 die Pionierleistung Otto Lilienthals in Anklam zu würdigen sei. Begünstigt wurde die Atmosphäre des Selbstbetrugs durch die Separiertheit der Politbüromitglieder. Während Honecker und Mittag oder Honecker und Mielke immer häufiger zusammen hocken und geheime Staatsachen besprachen, herrschte zwischen uns anderen ,splendid isolation'."

Er hätte zu jener Zeit nicht sagen können, wie einzelne Politbüromitglieder über die Lage wirklich dachten und urteilten, schreibt der nach dem Ende der SED-Herrschaft von ehemaligen Mitkämpfern als Verräter verunglimpfte Schabowski weiter. Es sei nicht üblich gewesen, sich mit einem anderen zu treffen und unbefangen zu räsonieren. In den wenigen Minuten vor Beginn einer Bürositzung habe man gelegentlich in kleinen Gruppen zusammengestanden. Dieser oder jener habe eine Bemerkung fallen gelassen, in der sich kritische Sicht oder Alarmiertheit über die Lage andeutete. Das Gespräch sei verstummt oder man habe sich einem unverfänglichen Gegenstand zugewandt, sobald Mittag oder Mielke sich zu der Gruppe gesellten. "Während der Generalsekretär die Beratung eröffnete, wurde die quälende Hauptsache weggesteckt, und man widmete sich mit ernster Miele den bedeutenden Nebensächlichkeiten der von Honecker komponierten Tagesordnung."

1. August 2022

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