Hunger und Kälte als Kriegswaffe
Stalin raubte den Ukrainern Lebensmittel, und Putin liefert sie grimmigen Temperaturen aus / Resolution des Bundestags zum Völkermord vor 90 Jahren



Das in Bronze gegossene Mädchen mit der Getreidegarbe in den Händen, die Glocke und andere Denkmäler erinnern in Kiew und an anderen Orten in der Ukraine daran, dass Stalin vor 90 Jahren die Bewohner der Sowjetrepublik durch die zwangsweise Kollektivierung und systematisches Aushungern in die Knie zwingen wollte.



Die sowjetische Propaganda unterließ nichts, um die Kulaken als Freunde des ermordeten Zaren Nikolaus II. und Parteigänger der Popen, also der Geistlichkeit, zu diffamieren und damit quasi zum Abschuss freizugeben. Für die Nazipropaganda war die Hungersnot in der Sowjetunion ein gefundenes Fressen.



Wie viele Ukrainer vor 90 Jahren dem Holodomor zum Opfer fielen, ist nicht genau bekannt, es wird von vier Millionen gesprochen. Das Thema kam erst nach dem Beschluss des Bundestages vom 30. November 2022 in Deutschland auf die Tagesordnung, in der Ukraine ist es unvergessen.



Zeit seines Lebens ließ sich Josef Stalin als Vollender der Visionen seines Vorgängers Lenin feiern, als Allwissender und Alleskönner, aus Vater und Freund der Werktätigen und großer Führer seines Volkes zum Sieg über Hitlerdeutschland. Das Studium seiner Werke wurde in der frühen DDR Schülern, Studenten und SED-Genossen zur Pflicht gemacht. Erst seine Verdammung auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 durch Nikita Chruschtschow machte dem Kult um Stalin ein Ende. Im Herzen blieben aber viele Funktionäre auch in der DDR üble Stalinisten.



Der deutsche Karikaturist Emil Kneis, auch Buzimaler genannt, lässt ausgemergelte Bauern Stalin bitten, ihnen ein wenig von seinem gewaltigen Rüstungsetat zur Linderung der allergrößten Not abzugeben. Die Tendenz war klar, denn es sollte davon abgelenkt werden, dass Nazideutschland seine Rüstung auf Kosten des Lebensstandards der „Volksgenossen“ gewaltig ankurbelt.



Wladimir Putin unterdrückt die Kritik an Stalin. Wer in der Russischen Föderation die Wahrheit sagt, wird mundtot gemacht und verschwindet im Gefängnis oder Arbeitslager.



Die Münze zu fünf Grivna von 2007 zeigt das Denkmal in Kiew mit dem Mädchen, das Korn in Händen hält und den Hungertod erleiden wird. (Repros: Caspar)

In der Ukraine wurde in diesen Tagen an den Holodomor, die vor 90 Jahren begonnene Tötung der Bewohner der damaligen Sowjetrepublik durch Hunger und Krankheit erinnert. Durch die vom damaligen Diktator Josef Stalin veranlasste Hungersnot sollen zwischen drei und sieben Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein. Seit der Erlangung ihrer Unabhängigkeit 1991 bemüht sich die Ukraine um die internationale Anerkennung des Holodomors als&xnbsp;Völkermord. Das Thema hat durch Putins Politik des Aushungerns im bald ein Jahr dauernden Krieg gegen die Ukraine und der absichtlichen Zerstörung von Infrastruktur, Heizkraftwerken, Magazinen, Stromleitungen und Versorgungswegen große Brisanz erlangt und war Gegenstand von Gedenkreden in der Ukraine und im westlichen Ausland.

Putin sabotiert im Rahmen seines am 24. Februar 2022 vom Zaun gebrochenen Krieges gegen die Ukraine die Ausfuhr von Getreide und Gas und lässt die Infrastruktur systematisch zerstören. Im Winter 2022/23 kommt noch die Kälte hinzu, von der sich der Diktator ganz im Geiste von Stalin erhofft, dass die Ukrainer durch Aushungern und eisige Kälte mürbe werden und ihre Widerstandes aufgeben. Sein Ziel wäre erreicht, wenn in Kiew ein ihm höriges Regime installiert wird und sich die Ukraine irgendwann in Demut der Russischen Föderation anschließt. Dazu ist jedes Mittel recht, dazu werden auch Hunger und Kälte als Waffe eingesetzt.

Widerstand gegen Kollektivierung

Von der Kollektivierung der Landwirtschaft in seinem Riesenreich versprach sich Stalin die Lösung der Versorgungsprobleme in Lande und Zustimmung seiner Untertanen für die Politik des Aufbaus des Sozialismus und Kommunismus auf einem Sechstel der Erde, wie man in der Sowjetunion sich zu loben pflegte. Ein anderes Ziel bestand darin, den Ukrainern die Lebensgrundlagen zu entziehen und sie zu willenlosen Untertanen zu machen. Allerdings rechnete der wie in einem Kokon eingesponnene, von großer Furcht vor einer Palastrevolution und Attentätern getriebene Diktator nicht mit dem Widerstand der zwangsweise in die Sowchosen und Kolchosen sowie Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) gepressten Bauern. Sie versteckten Ernteerträge vor Stalins Häschern, und wenn sie dabei ertappt wurden, drohten Todesstrafe oder Deportation in entlegene Gebiete und Arbeitslager. Die sich Stalins Plänen widersetzten, wurde als „Kulaken“, also relativ wohlhabende Bauern, die die sowjetische Propaganda als Freunde des 1918 ermordeten Zaren und der Geistlichkeit, als Knechte des ausländischen Kapitals diffamiert und waren blutigem Terror ausgeliefert.

Wer nicht umgebracht wurde, kam in eines der berüchtigten Straf- und Arbeitslager (Gulag), in denen nach dem Muster aus der Zarenzeit politisch missliebige Personen oft auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Dem von Stalin verantworteten Holodomor fielen in der Ukraine und anderen Landesteilen mehreren Millionen Menschen das Leben. Die genaue Zahl konnte nicht festgestellt werden, es ist von vier Millionen allein in der Ukraine die Rede. Stalins Schwager Stanislaw Redens, der Leiter des ukrainischen Geheimdienstes, und der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine Stanislaw Kossior setzten 1932 und danach rücksichtslos die Befehle aus Moskau durch und ließen zahlreiche auf dort zusammengestellten Todeslisten vermerkte Bauern und andere so genannte Volksfeinde ermorden.

Sympathie bei Stalinverstehern

Was in der Sowjetunion vor sich ging, blieb dem Ausland nicht verborgen. Stalinfreunde und „Sowjetversteher“, wie wir heute sagen würden, schlossen willig die Augen und sprachen von notwendigen Opfern auf dem Weg der Sowjetunion in die lichte Zukunft der von Ausbeutung und Knechtung befreiten Welt. Für viele Stalinisten war und ist auch heute der Diktator ein weitsichtiger und mutiger Staatsmann und erfolgreicher Heerführer im Zweiten Weltkrieg, der zu rigorosen Mitteln greifen musste, um sein Land gegen eine Welt von Feinden verteidigte und ihm den Himmel auf Erden verschaffte, wie es die damalige Propaganda glauben machen wollte. Ähnlich war auch die Meinung mancher Leute über die von Stalin angestrengten Schauprozesse gegen Regimegegner und so genannte Volksfeinde, von denen der Gewaltherrscher annahm, sie könnten ihm gefährlich werden. Dem britischen Premierminister und Verbündeten im Krieg gegen Hitlerdeutschland Winston Churchill soll Stalin die mit der Hungersnot und vielen Todesopfern verbundene Kollektivierung so begründet haben: „Es war alles sehr schlimm und schwierig – aber notwendig. Wir haben unsere Lebensmittelerzeugung nicht nur mengenmäßig gewaltig gesteigert, sondern auch die Qualität des Getreides.“ Dass Millionen Tote seinen Weg säumen, darunter auch die Opfer des Holodomor in der Ukraine, wird in dieser Sichtweise ausgeblendet. In Putins Russland an Stalins Verbrechen zu erinnern, wird schwer bestraft, und auch der Hungertod von Millionen Ukrainern ist dort kein Thema.

Sowjetisches Herrschafts- und Wirtschaftsmodells

Der Deutsche Bundestag hat am 30. November 2022 über die Resolution „Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen“ abgestimmt. Von SPD, Bündnis 90/Die Grünen,&xnbsp;FDP sowie CDU/CSU gemeinsam vorgelegt, wird der Holodomor 1932/33 als Völkermord bezeichnet und anerkannt. Das hatte die Ukraine seit ihrer Gründung 1991 immer wieder gefordert. „Vor neunzig Jahren erreichte der Holodomor (von ukrainisch ,holod' – Hunger; ,moryty' – umbringen) im Winter 1932/1933 seine schrecklichste Phase. Dieser gezielten und massenhaften Tötung von Menschen durch Hunger fielen Millionen Menschen in der Ukraine zum Opfer“, heißt es in der Resolution. Der massenhafte Hungertod sei keine Folge von Missernten gewesen, sondern wurde von der politischen Führung der Sowjetunion unter Josef Stalin befohlen. Der Holodomor stelle damit ein Menschheitsverbrechen dar. „In Deutschland und der Europäischen Union ist der Holodomor bislang nur wenigen Menschen bekannt. Zum einen war der Hunger die direkte Folge der Politik der Zwangskollektivierung der Bäuerinnen und Bauern, das heißt der Durchsetzung des sowjetischen Herrschafts- und Wirtschaftsmodells von oben nach unten bis in die ländlichen Gebiete und Dörfer. Stalin wollte die Konsolidierung seiner Macht und die Industrialisierung der Sowjetunion unter allen Umständen vorantreiben. Menschenleben spielten dabei keine Rolle. Ab 1928 wurde Millionen Bäuerinnen und Bauern die Ernte weggenommen, um Städte und Fabriken zu versorgen. Um Devisen sowie Maschinen aus westlicher Produktion zu beschaffen, wurde das Getreide zudem exportiert. Vermeintlich wohlhabende Bäuerinnen und Bauern wurden als sogenannte ,Kulaken' brutal verfolgt und deportiert. Mit jedem weiteren Jahr nahmen Rigorosität und Brutalität der Zwangsrequirierungen zu. Bereits im Winter 1931/1932 starben Hunderttausende auf dem Land und in den Dörfern an Unterernährung. Trotzdem wurden die gewaltsamen Zwangsrequirierungen fortgesetzt. Hunger wurde zusätzlich als Strafe eingesetzt und bei Nichterfüllung der festgesetzten Abgabemengen ein Vielfaches an Getreide und anderen Lebensmitteln verlangt und konfisziert. Die betroffenen Regionen wurden abgeriegelt, um die Flucht der Hungernden in die Städte und den Transport von Lebensmitteln in die Regionen zu verhindern. Allein im Winter 1932/1933 verhungerten dadurch in der Ukraine 3 bis 3,5 Millionen Menschen. Hunderttausende verhungerten auch in der vor allem ukrainisch besiedelten Kuban-Region östlich der Ukraine bzw. nördlich des Kaukasus.“

Der Bundestag erklärt abschließend: „Wir gedenken der Opfer des Holodomors. Für die Ukraine ist der Holodomor ein zutiefst traumatisches, grausames und leidvolles Kapitel der eigenen Geschichte. Der Holodomor prägt das nationale Bewusstsein dieses großen europäischen Landes, das sich von der sowjetischen Vergangenheit gelöst hat. (…) Der Holodomor ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte als Europäerinnen und Europäer. Er reiht sich ein in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme, in deren Zuge vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden. Vor diesem Hintergrund und angesichts unserer eigenen Vergangenheit sehen wir uns in der Verantwortung, das Wissen um dieses Menschheitsverbrechen zu verbreiten und seine notwendige weitere Aufarbeitung zu fördern. Dazu gehört auch die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit für die Thematik des Holodomor, um seine Hintergründe stärker in das europäische Bewusstsein zu rücken. Mehr denn je treten wir in diesen Tagen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, der gleichzeitig einen Angriff auf unsere europäische Friedens- und Werteordnung darstellt, dafür ein, dass für Großmachtstreben und Unterdrückung in Europa kein Platz mehr sein darf.“

Russischen Narrativen entgegen wirken

Die ohne die Stimmen der Linken und der AfD beschlossene Resolution fordert der Bundestag die Bundesregierung auf: „1. die Erinnerung an die Opfer des Holodomors und zu dessen internationaler Bekanntmachung politisch – bspw. durch verschiedene Bildungsangebote – weiter zu unterstützen; 2. jeglichen Versuchen, einseitige russische historische Narrative zu lancieren, weiterhin entschieden entgegen zu wirken; 3. bei allen Gelegenheiten eine selbstreflektierende und achtsame Perspektive auf unsere östliche Nachbarschaft und deren wechselvolle und komplexe Geschichte zu fördern, um dortige historische Erfahrungen wahrzunehmen und blinde Flecken in der deutschen Perspektive auf unsere gemeinsame, europäische Geschichte zu erhellen; 4. die Ukraine als Opfer des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands und der imperialistischen Politik Wladimir Putins im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch zu unterstützen.“

30. November 2022

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