"Gorbatschow ist Totengräber des Sozialismus"
In seinen "Moabiter Notizen" von 1994 weist Erich Honecker jede Mitschuld am Untergang der DDR weit von sich



Kaum waren Erich Honecker und einige seiner engsten Genossen "weg vom Fenster", hagelte es Kritik. Alles, was in der DDR schief gelaufen war und was zur friedlichen Revolution im Herbst 1989 und zur Öffnung der Mauer und der innerdeutschen Grenze geführt hatte, wurde ihm angelastet. Die Fotos zeigen, wie Honeckers Wagenkolonne entlang der Berliner Mauer in der Mühlenstraße fährt, die später zur East Side Gallery avancierte, ferner einen Teller mit russischer Widmung im Deutschen Historischen Museum Berlin sowie Hassplakate, die ihn mit Hitler gleichsetzen und den Ministerpräsidenten Stoph an den Galgen wünschen. Die von Unbekannten ausgegebene Medaille ehrt den 1994 in Chile verstorbenen Politiker als Genossen, Kommunisten, Antifaschisten und sozialistischen Staatsmann.



Sich selber sah der seiner Macht verlustig gegangene DDR-Führer als verfolgte Unschuld und als ein Staatsmann, den Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika daran hinderte, den Sozialismus in der DDR zum Erfolg zu bringen. Die bunten Fotos stammen von der Berliner East Side Gallery.



Mit Michail Gorbatschow kam Erich Honecker trotz freundschaftlicher Gesten nicht klar. Seine in den "Moabiter Notizen" und bei anderer Gelegenheit geäußerte Kritik am damals mächtigsten Mann in der Sowjetunion fiel bitterböse aus.



Bei seinem Staatsbesuch 1987 in der Bundesrepublik Deutschland fühlte sich Erich Honecker auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er genoss es, auf Augenhöhe mit Bundeskanzler Helmut Kohl und anderen Prominenten sprechen zu können. Zwei Jahre später war das SED-Regime im Orkus der Geschichte verschwunden. Von der glanzvollen Fassade war nichts übrig, als das aus Wandlitz exmittierte Ehepaar Honecker bei Pfarrer Uwe Holmer in Lobetal bei Berlin Asyl fand.



Als am 1. Mai 1989 auf der Berliner Karl-Marx-Allee für die Kommunalwahl demonstriert wurde, ja als Erich und Margot Honecker ihre Stimmzetteln in die Urne warfen, standen die Ergebnisse fest.



In engen SED-Genossen wie dem "Maueröffner" Günter Schabowski und dem Stasi-General Markus Wolf glaubte Honecker Verräter zu erkennen. In seinen "Moabiter Notizen" kommen sie und andere Leute aus der Führungsspitze nicht gut weg. Die meisten werden namentlich nicht genannt. (Fotos/Repros: Caspar)

Man muss schon ziemlich abgebrüht sein, um die "Moabiter Notizen - Letztes schriftliches Zeugnis und Gesprächsprotokolle vom BRD-Besuch 1987 aus dem persönlichen Besitz Erich Ho zu verkraften, die der ehemalige Staats- und Parteichef der DDR vom 29. Juli 1992 bis 29. Januar 1993 während seiner 169tägigen Untersuchungshaft im Berliner Gefängnis Moabit geschrieben hat. Der Berliner Verlag edition ost preist das 1994 veröffentlichte Buch als "staatsmännische Analyse der Gründe, warum die DDR und der Staatssozialismus nach seiner Auffassung scheiterten" an. Gleich eingangs stellt der Verfasser eine Verbindung seiner Haft heute mit der her, die er im gleichen Gefängnis während der Nazizeit erleiden musste - und zieht damit eine direkte Linie zwischen Unrechtsjustiz von damals mit der der Bundesrepublik Deutschland, die ihn, den aufrechten Kommunisten und Widerstandskämpfer verfolgt und entrechtet. Die "Moabiter Notizen" entstanden in der Zeit, als Honecker und einige hochrangige Genossen in Untersuchungshaft saßen und auf ihren Prozess warteten. Deshalb musste er seine Worte sorgsam wählen. Er konnte nicht wissen, dass das Verfahren gegen ihn ohne Urteil enden und er nach Aufenthalten in Lobetal sowie in Beelitz und Moskau nach Chile gehen wird. Dort hat er seine Aufzeichnungen ergänzt und autorisiert. Elf Tage vor seinem Tod am 29. Mai 1994 im Exil kam der Verlagsvertrag zustande.

Egon Krenz, der Erfinder der "Wende"

Erich Honecker wurde von seinen Genossen im Politbüro am 18. Oktober 1989 zur Abdankung genötigt, er war nicht mehr zu halten, seine Tage im Amt waren gezählt, das Land verlangte nach neuen Köpfen und Ideen. An seine "lieben Genossinnen und Genossen" gewandt, erklärte er, sein Gesundheitszustand erlaube ihm den Einsatz an Kraft und Energie, den die Geschicke unserer Partei und des Volkes heute und künftig verlangen, nicht mehr. "Deshalb bitte ich das Zentralkomitee, mich von der Funktion des Generalsekretärs des ZK der SED, vom Amt des Vorsitzenden Staatsrates der DDR und von der Funktion des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zu entbinden."

Als Nachfolger schlug Honecker Egon Krenz vor, "der fähig und entschlossen ist, der Verantwortung und dem Ausmaß der Arbeit so zu entsprechen, wie es die Lage, die Interessen der Partei und des Volkes und die alle Bereiche der Gesellschaft umfassenden Vorbereitung des XII. Parteitags erfordern." Die Gründung und die erfolgreiche Entwicklung der sozialistischen DDR, deren Bilanz am 40. Jahrestag gemeinsam gezogen wurde, betrachte er als die Krönung des Kampfes der SED und seines eigenen Wirkens als Kommunist.

Wie bei Walter Ulbricht 1971, so vollzog sich 18 Jahre später auch der Abgang seines Nachfolgers Erich Honecker glanzlos und mit dürren Worten des Dankes seiner früheren Genossen, die lange seine abenteuerliche Politik des Wegschauens und der Lüge mitgemacht hatten. Zwar führte Egon Krenz ständig das Wort "Wende" im Mund, das inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist und die Ergebnisse der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 und das Ende der SED-Herrschaft nur undeutlich und missverständlich umschreibt. Doch er und seine Freunde dachten nicht im Mindesten daran, ein Stück ihrer angemaßten Macht abzugeben und auf das Volk zu hören, das freie Wahlen, wirkliche Demokratie, Reisefreiheit, Auflösung der Staatssicherheit und schon bald die Wiedervereinigung forderte.

Verräter in den eigenen Reihen

Seine Aufzeichnungen verstand Honecker nicht als Testament, sondern als Selbstzeugnis. Der Verfasser gab sich alle Mühe, seine Politik alles in allem als gelungen, menschenfreundlich und zukunftsorientiert darzustellen. Alles sei richtig gemacht worden, von gewissen Fehlern abgesehen, die er aber nicht benennt. Wäre er ehrlich mit seiner gescheiterten, von Ignoranz und Starrsinn geprägten Politik ins Gericht wie einige seiner Mitstreiter mit ihren Memoiren, hätte er eine lange Liste von Verbrechen, Verfehlungen und Lügen aufschreiben müssen. Bei seiner Selbstverteidigung dürfte er im Hinterkopf gehabt haben, dem Gericht keine Handhabe gegen ihn zu liefern. Wichtig war Honecker bei allen seinen Einlassungen, als großer, um sein Volk besorgter Staatsmann dazustehen, der von Verrätern in den eigenen Reihen, vor allem aber von Michail Gorbatschow daran gehindert wurde, die DDR in die lichte Zukunft des Sozialismus und Kommunismus zu führen.

In dem 1985 an die Macht gelangten sowjetischen Staats- und Parteichef sieht Honecker einen Agenten des Imperialismus, dessen Lebensaufgabe es ist, die Sowjetunion und das sozialistische Weltsystem zu zerstören und seine Reste den USA, der Bundesrepublik Deutschland und weiteren westlichen Staaten auszuliefern. Heute versucht Wladimir Putin auf gewaltsame und blutige Weise in der Ukraine und weiteren Ländern am Rand der Russischen Föderation, die Geschichte zu revidieren und sein Imperium in den Grenzen der früheren Sowjetunion, wenn nicht gar des 1917 untergegangenen Zarenreiches wiederherzustellen, mit dessen Fahne und Symbolen er sich so gern schmückt. Das Ende der alten UdSSR unter chaotischen Bedingungen in den frühen 1990er Jahre sieht der heutige Diktator als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts an, als habe es nicht den Ersten und denn Zweiten Weltkrieg und weitere Kriege und auch nicht den deutschen Massenmord an den deutschen und europäischen Juden gegeben.

Man sollte ihnen keine Träne nachweinen

Über die Wirkung seinen "Moabiter Notizen" hatte Honecker keine Illusionen. "Sollten diese Zeilen jemals veröffentlicht werden, dann für jene, die es mit der Analyse der Vergangenheit ernst meinen; im Gegensatz zu den sogenannten Geschichtsbewältigern, denen es einzig und allein um die Hetze gegen den Sozialismus geht, um den unausweichlichen Niedergang des Kapitalismus noch möglichst weit hinauszuschieben." Trotz der gut bezahlten Lobgesänge auf den Kapitalismus, die heute nicht nur von bürgerlichen und rechten Politikern und Journalisten angestimmt werden, könne niemand ernsthaft bestreiten, dass die Lage für Millionen Arbeiter und Angestellten, für Wissenschaftler und Künstler, für Befürworter und Gegner der "Marktwirtschaft" außerordentlich schwierig ist. Existenzsorgen seien allgegenwärtig. So wie es jetzt ist, könne und werde es nicht weitergehen. Eine Welt ohne Arbeitslosigkeit und Not werde der Kapitalismus nicht zu Wege bringen.

"Der Untergang der DDR hat mich hart getroffen, aber er hat mir und nicht wenigen Kampfgefährten nicht den Glauben an den Sozialismus als der einzigen Alternative für eine menschliche, eine gerechte Gesellschaft genommen. Die Kommunisten gehören, seit es den Kapitalismus gibt, zu den Verfolgten dieser Erde, aber sie gehören nicht zu den Zukunftslosen", schreibt er. Ihn hätten die "Ereignisse", die sich in der DDR seit seinem Rücktritt am 18. Oktober 1989 vollzogen haben, zutiefst erschüttert. Honecker gibt sich keine Mühe zu analysieren, was zum Ende der DDR geführt hat. Er hätte seine Äußerung vom Anfang 1989 kommentieren können, die "Mauer" werde noch 50 oder 100 Jahre stehen, oder die vom Herbst des gleichen Jahres, man werde den in den Westen geflohenen Menschen "keine Träne" nachweinen, was sogar viele linientreue Genossen aufbrachte. Der Altstalinist Honecker hätte auch zu dem von ihm veranlassten Verbot der deutschen Ausgabe des sowjetischen Magazins "Sputnik" Stellung nehmen können, das die Verbrechen der Stalindiktatur aufdeckte. Das alles kommt in den "Moabiter Notizen" nicht vor.

Verhaltene Kritik an eigenen Fehlern

Das Buch enthält hier und dort verhaltene Kritik in eigener Sache, etwa wo Honecker die keineswegs unter freien Bedingungen veranstaltet Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 erwähnt. Eine um wenige Prozente geringere Wahlbeteiligung und selbst ein zehn Prozent schlechteres Ergebnis hätten am Endergebnis nichts geändert, räumt der Verfasser ein. Als er noch an der Macht war, mussten es 98,5 Prozent sein, alles andere wäre in seinen Augen Wasser auf die Mühlen der Opposition gewesen, die trotz Stasiterrors und Strafandrohungen mutig ihr Haupt erhob. Es habe zu wenig Antworten auf Fragen nach Kommunalwahlen, so zu den Ausreiseanträgen, immer wieder auftretende Lücken in der Versorgung und zur mangelhafte Sicherung der Produktion. "Alle diese Probleme wurden erkannt, aber es gelang uns nicht, sie so schnell zu lösen, wie das notwendig gewesen wäre. Es ist heute nicht mehr auszumachen, was Absicht war und was Unvermögen. Es hat auch keinen Sinn mehr, darüber zu philosophieren. Der Kapitalismus hat jetzt ganz andere Sorgen gebracht, Existenz Angst und Zukunftssorgen."

Getreu seinem Credo, dass immer die anderen an allem Schuld sind, macht Honecker Leute aus dem Kulturbetrieb und der Kirche verantwortlich, dass es in der DDR zu einer Stimmungskrise kam und im Politbüro laut darüber nachgedacht wurde, die DDR durch Ablösung älterer Funktionsträger bis in die Kreise hinunter zu erneuern und durch Kader aus der FDJ zu ersetzen. "Das alles verlief sehr exakt, weil, wie sich später herausstelle stellte, alle Schritte in dieser Richtung mit Gorbatschow abgestimmt waren. Im Zusammenhang mit meiner Erkrankung Anfang Juli hatte die westliche Presse die DDR bereits als führungslos dargestellt. Der Vorschlag für eine Wende in Richtung der Gorbatschowschen Politik fiel in eine Situation, in der durch die Irritierung der Volksmassen und die Unentschlossenheit der Führung der DDR schließlich eine Lage entstand, die in eine Richtung der völligen Aufgabe der DDR eskalierte." Die Erklärung zur Wende sei praktisch nur der Auftakt für das gewesen, was Zug um Zug folgte: die Aufgabe der Rolle der Partei, der Rücktritt des Politbüros und des Zentralkomitees, der geschlossene Rücktritt der Regierung der DDR, die Direktive zur Absetzung aller 1. Bezirks- und Kreissekretäre, die Auflösung von Staatsorganen, die Auflösung der Kampfgruppen der Arbeiterklasse und vieles mehr. Honecker lässt das Ministerium für Staatssicherheit, das sich "Schild und Schwert der Partei" nannte und das Land mit einem undurchdringlichen Spinnennetz von Spitzeln und Provokateuren überzog und mit seinem Staatsterrorismus Angst und Schrecken überzog unerwähnt. Wirtschaftliche Probleme führt er auf "Sabotage im Großhandel" und nicht die von ihm und seinem engsten Mitarbeiter Günter Mittag verantwortete Misswirtschaft.

Untergang der DDR von langer Hand vorbereitet

Für Erich Honecker ist Michael Gorbatschow der Totengräber der sozialistischen Weltordnung. All die kleinen Reformer hätten den Sozialismus preisgegeben, "indem sie auf den großen Reformer hörten, der es im Laufe von sechs Jahren fertig brachte, seine Partei, die KPdSU, deren Generalsekretär er war, zu entwaffnen und die UdSSR in ihren Untergang zu führen." Die Opferung der DDR auf dem Altar des von ihm, Gorbatschow, eifrig verfochtenen "europäischen Hauses" sei für ihn, Honecker, und viele andere das Schmerzlichste in seinem Leben. Möglich sei das nur gewesen, weil Teile der SED an der Beseitigung des Sozialismus objektiv mitgewirkt haben, darunter sogar einige Verräter, "die sich heute damit brüsten, durch ihre jahrelange Kontakte zur BRD den Weg für die Annexion der DDR gebahnt zu haben." Honecker wird mit seinem Urteil an Genossen aus dem Politbüro gedacht haben, die ihn seit seinem Amtsantritt 1971 mit Reformvorschlägen und mit Ideen für die Gesundung der maroden DDR-Wirtschaft, die er aber allesamt vom Tisch fegte. Dass er selber der Bremser und Ignorant war und die Zeichen der Zeit nicht erkannte, kam dem in seiner Blase weit weg von den Realitäten lebenden Politiker auch bei der Niederschrift seiner Notizen nicht in den Sinn.

Für Honecker war der Untergang der DDR von langer Hand vorbereitet worden. Das von den Führern des Imperialismus, den USA, der BRD und anderen kapitalistischen Ländern, jahrelang offen verkündete Ziel des Systemwechsels in den Ländern Osteuropas habe sich dank einer gut funktionierenden Regie mit der UdSSR in der Hauptrolle vollzogen. Die 1985 an die Macht gelangte Führungsgruppe um Gorbatschow, Schewardnadse, Jakowlew und Jelzin habe das Ziel vor Augen, das System zu verändern. Sie seien bereit gewesen, hierzu die Verbündeten der Sowjetunion zu opfern. Der Schlüssel hierzu sei schon 1985 gefertigt worden. Als im Dezember 1991 die Fahne der Sowjetunion auf dem Kreml eingezogen wurde, war dies das erschütternste und zugleich eindeutigste Zeichen dafür, wie ein Volk hinters Licht geführt werden kann. Schließlich hätten sich die Bürger der großen Union noch kurze Zeit vorher in einem Plebiszit für den Weiterbestand der UdSSR ausgesprochen. Das zeige, was möglich ist, wenn man das Schicksal des Volkes Abenteurern überlässt, die am Schluss dieser traurigen Entwicklung erklären, sie hätten sich schon immer mehr als die Sozialdemokraten gefühlt, sie seien entschiedene Anhänger der Marktwirtschaft, und ihr Vorbild sei die BRD. Es sei und bleibe ein Irrtum zu glauben, dass die Wende 1989 von der Straße eingeleitet wurde, das heißt durch die Massendemonstrationen gegen das SED-Regime. Davon sollten alle, die sie hatten oder noch haben, getrost Abschied nehmen. Die Wende 1989 sei durch die radikale Änderung in der Weltpolitik erzwungen worden, und Ausgangspunkt sei die radikale Änderung der Politik der sowjetischen Führung unter Gorbatschow gewesen. Trotz alledem fühle er sich durch die Ereignisse seit 1989/90 nur darin besteht bestärkt, macht sich Honecker selber Mut, dass die sozialistische Idee keinesfalls tot ist, Denn eines Tages werde sie über ihre Feinde triumphieren.

21. Juni 2022

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