Die DDR als Leseland und Verbotsland
Eine von Stefan Wolle gestaltete Ausstellung ist bis zum 4. Oktober in Berlin-Schöneweide zu sehen



Die Ausstellung "Leseland DDR" ist in einer Bibliothek gegenüber dem S-Bahnhof Schöneweide in einem modernen Anbau neben der alten Feuerwache bis zum 4. Oktober 2022 untergebracht und bei freiem Eintritt zu sehen.





Die von Stefan Wolle gestaltete Dokumentation schildert auf 20 Tafeln, was man in der DDR gelesen durfte und was nicht. Die SED tat alles, um die Leselust ihrer Untertanen in genehme Bahnen zu lenken, stieß aber an ihre Grenzen. Da die DDR-Bewohner gern lasen, mühten sie sich, das eine oder andere ihnen vorenthaltene Buch "unterm Ladentisch" oder aus dem Westen zu bekommen.





So genannte Schund- und Schmutzliteratur wird von tapferen FDJlerinnen im Beisein von Jungen Pionieren öffentlich verbrannt.



Das Propagandafoto zeigt, wie ein Unbekannter bei reichlich Alkohol westliche, das "Gift des Imperialismus und Militarismus", wie die SED behauptete, verbreitende Comichefte liest.



Ausgesprochen im Sinne der SED waren George Orwells "1984", die Bücher von Alexander Solschenizyn über Stalins Terror und seine Straflager sowie die sowjetische Zeitschrift "Sputnik", die von Honecker verboten wurde, weil sie erschreckende Zahlen über eben diese Seite im Leben und Handeln des Diktators beleuchtete und damit allen Stalinisten, wie Honecker einer war, sagte, dass sie einem falschen Gott gefolgt sind und immer noch folgen.



Gelesen wurde viel und gern, hier hat sich die alte Dame in ein Buch über den aus Polen stammenden Papst Johannes Paul II. vertieft, der wegen seiner antikomunistischen Haltung bei den DDR-Oberen wenig Ansehen genoss.(Fotos/Repros: Caspar)

In der 1990 untergegangenen DDR wurde viel und gern gelesen. Verlage und Druckereien hatten reichlich zu tun, Autoren ebenfalls, vorausgesetzt, sie schrieben nicht gegen das DDR Regime an oder passten nicht in sein marxistisch-leninistisches Weltbild und hatten nach damaliger Diktion eine antisozialistische Tendenz. In diese Kategorie fielen selbstverständlich Nazibücher und solche, die sich kritisch mit der Hitlerdiktatur auseinandersetzten und, weil sie im Westen gedruckt wurden und nicht ganz auf der "Linie" der SED lagen, den DDR-Bewohnern vorenthalten wurden. Wer sie zu Forschungszwecken lesen wollte, benötigte einen so genannten Giftschein, der von übergeordneten Behörden erteilt (oder nicht) wurde.

Dann konnte man, wie es dem Autor dieses Beitrag bei Recherchen zur Geschichte des Films unterm Nationalsozialismus geschah, in die Staatsbibliothek Unter den Linden gehen und in einem Extraraum die inkriminierte, dem Giftschrank entnommene Literatur einsehen. Dort war es auch möglich, politisch Magazine wie DER SPIEGEL und STERN zu lesen, wenn es denn unbedingt sein musste. Leute aus der SED-Führung und Regierung hatten damit kein Problem, ihnen wurden westliche Zeitschriften und Zeitungen frei Haus geliefert. So viel zum Thema "klassenlose Gesellschaft" und "unser Land für alle"!

Unterdrückung von Kunst und Geist

Wer gegen die Parteidoktrin schrieb, malte oder filmte, bekam es mit der - offiziell niemals zugegebene - Zensur zu tun. Linientreue Funktionäre in den Verlagen, bei der Filmgesellschaft DEFA, im Fernsehen und Rundfunk und an anderen Orten strichen unliebsame Passagen oder setzten ganze Romane und Erzählungen, aber auch Sachbücher auf den Index. Das gleiche passierte mit Filmen und Theaterstücken, von denen manche das Licht der Welt erst nach dem Ende der DDR das Licht der Welt erblickten. Nach 1989/90 wurde das ganze Ausmaß des Wütens der von der SED gesteuerten Unterdrückung von Kunst und Geist deutlich.

In einer von dem Spezialisten für DDR-Geschichte Stefan Wolle im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gestalteten Ausstellung in der Mittelpunktbibliothek Alte Feuerwache in Treptow, schräg gegenüber vom S-Bahnhof Schöneweide, laden 20 Bild- und Texttafeln zu einer Zeitreise durch das Leseland DDR ein. Dessen Obrigkeit glaubte einerseits an die Macht des geschriebenen Wortes und fürchtete es andererseits. Die DDR war ein Land, in dem nach der von Lenin ausgegebenen Parole "Lernen, lernen und nochmals lernen" das Lesen und Schreiben von parteilicher und staatlicher Seite unter dem Motto "Greif zur Feder, Kumpel" gefördert wurde, während politisch unerwünschte Literatur unterdrückt und nur in ausgewählten Bibliotheken stark eingeschränkt zugänglich. Die Schau erzählt vom Eigensinn der Menschen, die sich nicht vorschreiben ließen, was sie lesen und denken, und die für rare Bücher Schlange standen, denn bekanntlich galt in der DDR der Spruch "Kein Paradies ohne Schlangen". Die Ausstellung wird durch eine Dokumentation zum Thema "Science Fiction in der DDR" ergänzt, die der 1985 (!) im Bezirk Treptow gegründete Club Andymon gemeinsam mit Fanclubs in den ostdeutschen Bundesländern gestaltet wurde.

Als toxisch eingestufte Literatur

Als ausgesprochen toxisch eingestuft wurde von der Staats- und Stasimacht der düstere Zukunftsroman "1984" von George Orwell. Wer sich mit der Schilderung eines totalen Überwachungsstaates und anderen als klassenfeindlich eingestuften Büchern erwischen ließ, bekam es mit der Justiz und der Staatssicherheit zu tun. Die Ausstellung zeigt, dass der Besitz, vor allem aber die Weitergabe dieses 1948 verfassten, aber im Jahr 1984 angesiedelten Buches Haftstrafen nach sich zog. Jugendlichen drohte der Ausschluss von der Oberschule und vom Studium. In wissenschaftlichen Bibliotheken war staatsfeindliches Schrifttum wie Orwells Buch zwar vorhanden, aber in Giftschränken eingelagert und kaum schwer zugänglich.

Ein Theologe, der zuletzt als Friedhofsarbeiter tätig war, wurde 1978 vom Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) wegen "mehrfacher vollendeter und versuchter staatsfeindlicher Hetze" zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und 4 Monaten verurteilt. Er hatte Orwells Buch gelesen und an Freunde weitergegeben. Indem das Gericht das Buch auf die DDR und die dort praktizierten Herrschaftsmethoden bezog, obwohl es geschrieben wurde, als es den zweiten deutschen Staat noch gar nicht gab, stellte es fest und traf den Nagel auf den Kopf: "Das Buch ,1984' soll dazu dienen, den Sozialismus allgemein zu verteufeln und zu verunglimpfen. Dabei wird insbesondere die Sowjetunion sowie die führende Rolle der marxistischen Partei diffamiert. Gleichzeitig werden die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse diskriminiert, indem das Leben im Jahre 1984 als düster und grau geschildert wird und die Menschen dem ideologischen und physischen Zwang der Partei als einer ,hypnotischen Macht unterworfen sind. Dabei wird dies Machtbestreben durch die Schutz- und Sicherheitsorgane abgesichert und die Freiheit des Denkens unter Strafe gestellt. Die Freiheit und Persönlichkeit der Menschen werden durch die ,innere Partei' eingeengt und auf Kosten der ,Proles', wie die Werktätigen bezeichnet werden, führt die Schicht der inneren Partei ein luxuriöses Leben. Dieses Machwerk stellt objektiv eine Schrift dar, die die staatlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse der sozialistischen Gesellschaftsordnung diskriminiert. Die Tatsache, dass dieses Machwerk besonders in den letzten Jahren gezielt und zwar im Rahmen der ideologischen Diversion gegen die DDR gerichtet wird, beweist einmal mehr dass den Feind des Sozialismus alles gelegen kommt, was ihrer Zielsetzung der inneren Unterhöhlung der sozialistischen Gesellschaftsordnung dient."

Zöllner durchschnüffelten Autos und Pakete

Um dem ein Riegel vorzuschieben, durchfühlten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, die als Zöllner ausgaben, Koffer und Autos und beschlagnahmten Druckschriften aller Art westlicher Herkunft, manchmal auch Bücher aus der DDR, die dort verboten waren und/oder kaum zu bekommen waren. Natürlich wurden auch Postpakete aus dem Westen streng kontrolliert. Geistige Schmuggelware drang trotz alledem ins Land ein und wurde, in neutrales Packpapier eingeschlagen, von Hand zu Hand gereicht.

Da alles, was aus der Sowjetunion kam, a priori als gut und zuträglich eingestuft wurde, bildeten sich an der Buchhandlung wie am "Sowjetische Buch" in Unter den Linden in Berlin lange Schlangen. Nicht immer bereiteten Übersetzungen ins Deutsche der SED-Führung Freude. Als etwa nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin am 5. März 1953 der eine kurze Epoche kennzeichnende Roman von Ilja Ehrenburg "Tauwetter" sowie Kriegsromane von Konstantin Simonow, in denen die schweren strategischen Fehler des Diktators zur Sprache kamen, erschienen, hat man die Auflagen verknappt oder ganz verboten. Denn aus sowjetischen Romanen und Sachbüchern sollten die DDR Bewohner nicht erfahren, wie hohl die Parole "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" in Wirklichkeit ist.

Da die von Michael Gorbatschow verkündete Politik von Glasnost und Perestroika der Führung um SED-Chef Erich Honecker nicht passte, wurde auch das Journal "Sputnik" verboten, in dem Stalins Opfer Stalin aufgezählt und das Bild des Generalismus einer kritischen Revision unterzogen wurde. Auch dieses zum "Leseland DDR" gehörende Kapitel wird in der Ausstellung thematisiert, ebenso Bücher, die die Schokoladenseite der DDR beschreiben und sozialistischen Optimismus verbreiten.

12. September 2022

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