"Klein Zacks" Rache an Dissidenten
Karl Schirdewan wurde 1958 aus dem Politbüro geworfen, mit anderen Abweichlern ging Walter Ulbricht weniger glimpflich um



Karl Schirdewan ließ sich von Walter Ulbricht, hier noch der Star beim dem VII. Parteitag der SED 1967 in der Berliner Seelenbinderhalle, nichts sagen und musste mit Gesinnungsgenossen für seinen Oppositionskurs schwer büßen.



"Walter schützt vor Torheit nicht, Erich währt am längsten" hieß es in Parteikreisen, doch durfte man sich mit solchem Spott nicht erwischen lassen. Weder Walter Ulbricht, der sich gern in der Pose eines großen Arbeiterführers und Staatsmannes sah, noch Erich Honecker, sein um die Gunst seiner Untertanen und internationales Ansehen buhlender Nachfolger, verstanden Spaß und schickten ihre Häscher aus, wo immer sie Lunte rochen.



Stalin, Stalin über alles war die - wegen der Analogie zum Deutschlandlied - nur inoffiziell ausgesprochene Parole in der SED-Propaganda, solange "Genosse Gott" en vogue war. Wer gegen das Pauken von Stalinsprüchen nicht mitmachen wollte und seine wahnwitzigen Weltherrschaftspläne in Zweifel zog, riskierte Freiheit und manchmal auch sein Leben.



Wer ist der nächste? Solche Fragen konnte man nur im Westen stellen, wer das im Machtbereich von Ulbricht und Genossen tat, brachte sich in Gefahr.





Teure Genossen widmeten ihrem Idol, dem 1994 im chilenischen Exil verstorbenen Erich Honecker, eine Medaille, von seinem Vorgänger Walter Ulbricht sind solche Prägungen nicht bekannt, dafür aber jede Menge Briefmarken mit unterschiedlich bezeichneten DDR-Währungen. (Fotos: Caspar)

In den Tagen des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 war es fast um den SED-Chef Walter Ulbricht geschehen, er musste um seine Macht bangen, und mit ihm andere Spitzenfunktionäre. Wenige Wochen nach Stalins Tod am 5. März 1953 entlud sich die Wut der DDR-Bewohner über Normenerhöhung, geringen Lebensstandard, schamlose Schönfärberei und leere Versprechungen in Streiks quer durch den zweiten deutschen Staat. Nur mit Hilfe sowjetischer Panzer und Gewehre sowie dem Wüten der Staatssicherheit und der Volkspolizei konnte sich "Klein Zack", wie man den Oberstalinisten Ulbricht in Anlehnung an einen spindeldürren Zwerg in der Operette von Jacques Offenbach "Hoffmanns Erzählungen" insgeheim nannte, an der Spitze der SED halten. Dem Sachsen mit der Fistelstimme und dem Spitzbart gelang es sogar, seine Position weiter auszubauen, bis er 1971 von seinem Ziehsohn und Mann fürs Grobe, Erich Honecker, in die Wüste geschickt wurde.

Dass es dann aber anders kam und sich Ulbricht behaupten und seine Macht mithilfe der Sowjets sowie der Staatssicherheit und Justiz weiter ausbaute und wie er seine Gegner zur Strecke brachte, schildert als Zeitzeuge und Betroffener Karl Schirdewan in seinem 1994 im Aufbau Verlag Berlin erschienenen Buch "Aufstand gegen Ulbricht. Im Kampf um politische Kurskorrektur, gegen stalinistische, dogmatische Politik" (224 Seiten, ISBN 3-7466-80-5). Schirdewan war 1958 wegen angeblicher Fraktionsbildung von Ulbricht seines Amtes als Politbüromitglied enthoben worden. Seine von der SED-Führung eingeforderte Stellungnahme vom 1. Januar 1958 fiel nicht so aus, wie es der Parteichef und seine Getreuen erwartet hatten.

Engstirniger Machtmensch und Dogmatiker

Der ehemalige Spitzenfunktionär hatte Glück, er kam nicht ins Gefängnis wie andere Dissidenten, sondern wurde nach Potsdam als Direktor des Staatsarchivs abgeschoben. Die Parteiführung hatte zuvor das ehemalige Politbüromitglied Rudolf Herrnstadt als Archivmitarbeiter in Merseburg an untergeordneter Stelle regelrecht versauern lassen. Sein unter dem Pseudonym R. E. Hardt verfasstes, von Hassgesängen gegen das ehemalige preußische Königs- und deutsche Kaiserhaus und allgemein den deutschen Imperialismus und Militarismus triefendes Buch "Die Beine der Hohenzollern" trug dem früheren Chefredakteur des Neuen Deutschland die erhoffte Rückkehr in den Schoß seiner Partei nicht ein. Schirdewans Rehabilitierung und die anderer in Ungnade gefallener Genossen erfolgte erst 1990 auf Beschluss der PDS, die aus der abgewirtschafteten SED hervor gegangen ist und den demokratischen Sozialismus zu ihrem Ziel ganz ohne Bevormundung und dogmatische Indoktrination erkläre, aber in ihren Reihe zahlreiche "gewendete" Genossen hatte, die von der nun eingeschlagenen Richtung wenig begeistert waren.

Karl Schirdewan schildert Ulbricht als engstirnigen Machtmensch und linkssektirerischen Dogmatiker, der nicht mit sich spaßen lässt. Nicht alle Genossen im Politbüro seien auf Ulbrichts Linie gewesen, hätten sich aber nicht durchsetzen können und sich nicht getraut, ihre Meinung offen und mutig zu sagen. Die SED-Führung, deren Teil er längere Zeit war, habe nach dem XX. Parteitag der KPdSU und der Geheimrede von Chruschtschow im Februar 1956 über die Verbrechen des bis dahin als Halbgott verehrten Josef Stalin alles getan, um einer ehrlichen Auseinandersetzung mit ihm und dem Stalinismus zu unterbinden. Lediglich wurde der Personenkult rund um Stalin moniert und festgelegt, dass künftig Theaterbesuch von Mitgliedern der SED-Führung in der Zeitung nicht mehr erwähnt werden und statt dessen die Kollektivität in diesem Gremium betont werden soll. Indem der Ulbricht die Parole "Stalin ist kein Klassiker mehr" ausgab, glaubte er, das leidige Thema abhaken zu können.

"Stalin ist kein Klassiker mehr"

Das ging angesichts der halbherzigen Distanzierung von der eigenen Stalin-Verehrung gründlich schief und verstärkte die Irritation unter den Genossen, und nicht nur bei ihnen, weiter, die quasi von einem Tag zum anderen ihres großen Vorbilds ledig waren. Wie nebenbei hatte der SED-Chef am 4. März 1956 im Neuen Deutschland den Satz fallen lassen, Stalin sei fortan nicht mehr als "Klassiker" anzusehen. "Als sich Stalin über die Partei stellte und den Personenkult pflegte, erwuchsen der KPdSU und dem Sowjetstaat daraus bedeutende Schäden", schrieb er und vermied es, wie die Lage in der Sowjetzone und ab 1949 in der DDR war und ist. Dass er wenige Zeit zuvor den "Führer des Weltproletariats" noch in den Himmel gehoben und es seinen Untertanen zur Pflicht gemacht hatte, markante Stalinzitate vor- und rückwärts aufzusagen, fiel bei dieser merkwürdigen Art der Vergangenheitsbewältigung unter den Tisch. Durch die Reduzierung des Stalinismus auf den "Personenkult", und damit war lediglich die Aufstellung von Denkmälern, das Aufhängen von Stalinbildern und das Deklamieren von Stalinsprüchen gemeint, klammerte aus, dass unter Stalin Millionen Menschen ermordet sowie im Gulag verhungert und verrottet sind. Mit keinem Wort wird gesagt, dass Personenkult weitaus mehr ist als die bloße Verherrlichung von Stalin.

Auf der 3. Parteikonferenz der SED Ende März 1956 versuchte Ulbricht, das Thema Stalin und Stalinismus als ein eher zu vernachlässigendes Problem zu verharmlosen. Der Parteichef behauptete wider besseren Wissens, in der DDR habe es niemals Personenkult gegeben habe und es habe auch keine Übergriffe des Staates auf einzelne Personen gegeben. Daher sei in der DDR auch keine "Entstalinisierung" nötig, und die Debatte sei damit beendet. Die Urteile der wegen so genannter "staatsfeindlicher Vergehen" würden, so Ulbricht weiter, überprüft. Und tatsächlich wurden im Verlauf des Jahres etwa 21.000 politische Gefangene aus den Gefängnissen und Zuchthäusern der Republik entlassen. Natürlich waren Ulbrichts Verheißungen reine Augenauswischerei, denn der Terror der Staatsicherheit und der DDR-Justiz sowie die Ausgrenzung und Verfolgung Oppositioneller wurden nicht zurückgenommen, sondern im Gegenteil noch ausgebaut.

Klima der Angst lähmt Politik fürs Volk

Der Autor hatte sich durch seine Forderungen, sich unmissverständlich von Stalin und seinem System zu distanzieren und von der elenden Schönfärberei Abstand zu nehmen, bei Ulbricht und seinen Helfershelfern unbeliebt gemacht. Im SED Politbüro mit Organisations- und Kaderfragen betraut, forderte Schirdewan, dass sich der Parteiführer von seiner Selbstherrlichkeit und einsamen Beschlüssen verabschiedet und Probleme konstruktiv im Politbüro und Zentralkomitee berät. Da dort aber ein Klima der Angst herrschte und die Politik fürs Volk lähmte, war es riskant, Kritik an Ulbricht und seinen Freunden zu üben, obwohl das Prinzip "Kritik und Selbstkritik" hochgehalten, aber nur auf andere angewandt wurde.

Im Zusammenhang mit seinem Rauswurf aus dem obersten Entscheidungsgremium der Partei schrieb Schirdewan für das ehemalige Politbüro am 1 Januar 1958 eine Stellungnahme, in der er Ulbricht hart angeht. Seine Besorgnis sei entstanden aus der vielseitigen Erfahrung, die er in der Arbeit mit Ulbricht, insbesondere mit seinem unguten Reagieren auf Kritik und seinem Verhalten zur Kollektivität gemacht habe. Die Erfahrungen seit dem XX. Parteitag hätten gezeigt, dass Ulbricht Vorschläge von Mitgliedern des Politbüros nicht genügend beachtet oder ohne vorherige Zustimmung des Politbüros gehandelt hat. "Ich erinnere mich an das sprunghafte und nicht genügend durchdachte Auftreten in der Auswertung der Kritik des XX. Parteitags an Genossen Stalin."

Abweichler werden nicht geduldet

Das war harter Tobak, und so mussten Ulbricht und Genossen handeln. Sie hatten panische Angst vor Fraktionsbildung, denn oberstes Gebot war, dass sich die Partei geschlossen um ihren Führer schart und keine Abweichungen von seiner Linie duldet. Mit Blick auf die Unruhen in Polen und Ungarn 1956 schreibt Schirdewan, er habe in keiner Situation den Kopf verloren. Er sei überzeugt gewesen, dass bei freimütiger Aussprache im Politbüro und Festigung der Kollektivität der Führung die Lage in jeder Situation zu meistern war. Er habe an die Stärke der Partei geglaubt und auch an ihren Einfluss auf die breiten Massen der Arbeiterklasse. "Genosse Ulbricht war in einer schweren Lage. Das Korrigieren von Fehlern war immer mit seiner Person verbunden. Aber warum war nach seiner Rede auf der Berliner Universität bei den dort Anwesenden eine solche gute Atmosphäre entstanden? Weil Genosse Ulbricht auch einige Worte der Selbstkritik gesagt hat, die dann bei der Veröffentlichung der Rede trotz der einmütigen Meinung des Politbüros, sie zu äußern, wieder herausgefallen waren. War das ein Mangel an Selbstvertrauen und auch an Vertrauen in die Festigkeit unserer Führung und unserer ganzen Partei?"

Falsche Zahlen waren bekannt und wurden geduldet

Der Dokumentenband enthält haarsträubende Aussagen über die prekäre Lage der DDR vor dem Mauerbau am 13. August 1961. Walter Ulbricht sprach die Probleme in gewundenen Worten an und ging nicht auf die Beschwerden über so genannte Versorgungsengpässe ein, sondern schob die Schuld unfähigen und fantasielosen Funktionären und selbstverständlich westlichen Agenten in die Schuhe, die in der DDR eine verbrecherische Wühlarbeit verrichten und sich dabei verblendeter DDR-Bewohner bedienen. Der SED-Chef kam aber nicht umhin zuzugeben, dass Tiere in den Schlachtbetrieben und den Ställen auf dem Lande regelrecht mangels Pflege und Futter verrecken, bevor sie geschlachtet werden können. Er bemängelte auch die nach "oben" gemeldeten Erfolgszahlen, die zwar sehr schön aussehen, aber nicht stimmen.

Bei seiner Kritik an untergeordneten "Organen" vergaß Ulbricht diese anzuweisen, von nun an wahrheitsgemäß abzurechnen, denn die Macht hätte er dazu gehabt. Aber er wollte es nicht, weil das ein schlechtes Licht auf das ganze System geworfen hätte. So wurde bis zum Ende der SED-Herrschaft etwas weder an Schönfärberei noch an falschen Zahlen geändert. Im Gegenteil haben Honecker und sein Wirtschaftssekretär Günter Mittag und mit ihnen die Medien fleißig Erfolgsmeldungen verbreitet, denen sie kaum selber Glauben geschenkt haben dürften.

30. Juli 2022

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