Grundsätzliche Reformen gefordert
Das so genannte Schürer-Papier vom 30. Oktober 1989 enthüllte mit vorsichtigen Worten die verzweifelte Lage in der DDR



Von Honeckers Nachfolger Egon Krenz, dem Empfänger des Schürer-Papiers, war nicht viel zu erwarten, denn für viele DDR-Bewohner war er nichts anderes als Befehlvollstrecker seines Ziehvaters, des am 18. Oktober 1989 aus dem Amt gedrängten SED-Generalsekretärs und Staatsratsvorsitzenden. Sein Lob für das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 in Peking hat die Bürgerbewegung in der DDR ihm nicht verziehen.



Der Aufruf "Für unser Land" vom 26. November 1989 forderte zur Mitarbeit auf dem Weg aus der Krise auf, von Wiedervereinigung und Abschaffung der DDR ist hier noch nicht die Rede.



Die Stimmung in der DDR-Bevölkerung war im Herbst 1989 aufgeheizt, und die bei den Demonstrationen mitgeführten Forderungen klangen immer drängender und gingen von "Wir sind das Volk" zu "Wir sind ein Volk" über.



Lustige Bilder und kernige Sprüche nutzten wenig, den sozialistischen Wedttbewerb anzukurbeln, und wenn man mal eine Prämie bekam, konnte man sich nicht das kaufen, was man haben wollte.



Dass Pläne und Planerfüllungen vielfach erstunken und erlogen sind, war bekannt und manchmal auch Gegenstand vorsichtigen Spotts min den DDR-Medien. SED und Stasi hatten 1989/90 jeden Respekt verloren, wie unzählige auf den Demonstrationen mitgeführte Plakate deutlich machten.



Der am 31. August 1990 in Bonn unterzeichnete Einigungsvertrag regelte sämtliche durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland notwendig gewordenen Veränderungen, die am Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 in Kraft traten. Dazu gehörten unter anderem beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes, die Rechtsangleichung und die Neuordnung der öffentlichen Verwaltung und des öffentlichen Vermögens. (Repros: Caspar)

In der Endphase des SED-Regimes fassten die SED-Funktionäre Gerhard Schürer, Gerhard Beil, Alexander Schalck-Golodkowski, Ernst Höfner und Arno Donda Mut und legten am 30. Oktober 1989 dem SED-Politbüro eine als Geheime Verschlusssache deklarierte "Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen" vor. Dieses nach Gerhard Schürer, dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission beim Ministerrat der DDR und Mitglied des Politbüros des ZK der SED benannte Schürer-Papier, war von Erich Honeckers Nachfolger Egon Krenz in Auftrag gegeben worden. Es stellt in vorsichtigen Worten die aus der hohen Staatsverschuldung gegenüber den westlichen Ländern resultierende Probleme und die Zahlungsunfähigkeit der DDR fest. Diese wurde in späteren Veröffentlichungen relativiert, denn die Guthaben vor allem des weitverzweigten, von Schalck-Golodkowski geleiteten Kommerziellen Koordinierung (KoKo) hatte die Vorlage nicht berücksichtigt.

Egon Krenz und das nun unter seiner Leitung stehende Politbüro hatten ausdrücklich ein ungeschminktes Bild der ökonomischen Lage der DDR und Schlussfolgerung daraus verlangt, womit auch gemeint war, dass frühere Vorlagen und Gutachten geschönt und verlogen waren. Nach dem üblichen sozialistischen "Schmus" über Erfolge der Politik der SED zum Wohle des Volkes kommen die Autoren auf die eigentlichen Probleme zu sprechen. Auf der Grundlage unseres sozialistischen Planungssystems sei eine Reihe wichtigere Formen insbesondere der intensiven Entwicklung der Volkswirtschaft in allen Hauptbereichen gewährleistet worden. Die Feststellung, wonach wir über ein funktionierendes System der Leitung und Planung verfügen, halte jedoch einer strengen Prüfung nicht stand. Durch neue Anforderungen an die DDR konfrontiert seien im Zusammenhang mit subjektiven Entscheidungen Disproportionen entstanden, denen mit aufwändigen administrativen Methoden begegnet werden sollte, schrieben die Autoren und vermieden es, Ross und Reiter zu nennen, also Honecker, Mittag und sich selbst. Dadurch habe sich ein übermäßiger Planungs- und Verwaltungsaufwand entwickelt. Die Selbstständigkeit der Kombinate und wirtschaftlichen Einheiten sowie der Territorien sei eingeschränkt worden. Das bestehende System der Planung und Leitung habe sich hinsichtlich der notwendigen Entwicklung der Produktion der "1000 kleinen Dinge" sowie der effektiven Leitung und Planung der Klein- und Mittelbetriebe und der örtlichen Versorgungswirtschaft trotz großer Anstrengungen zentraler und örtlicher Organe nicht bewährt, da ökonomische und Preisregelungen ausgeblieben seien. Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität liege die DDR gegenwärtig um 40% hinter der BRD zurück.

Kaufkraftüberhang und Zahlungsunfähigkeit

Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet sei seit dem VIII. Parteitag der SED auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt. Das Wachstumstempo des Nationaleinkommens von 1986 bis 1990 liege voraussichtlich mit 3,6% bei abnehmender Tendenz bedeutend unter den erreichten Ergebnissen bis 1985. Dieser langjährige Rückgangs der produktiven Akkumulation werde auch nach 1990 noch wirken, sehen die Autoren voraus. Seit 1971 sei mehr verbraucht worden als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde. Das alles gehe zu Lasten der Verschuldung im Nichtsozialistischen Wirtschaftssystems (NSW), die sich von zwei Milliarden Valutamark 1970 auf 49 Milliarden Valutamark 1989 erhöht hat. Das bedeute, dass die Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag nicht in vollem Umfang auf eigenen Leistung beruht, sondern zu einer wachsenden Verschuldung im nichtsozialistischen NSW führte. Geldeinnahmen der Bevölkerung sei höher gewesen als der Warenfonds zu ihre Versorgung, was zu Mangelerscheinungen im Angebot und zu einem beträchtlichen Kaufkraftüberhang führte. Worin dieser besteht und was das mangelhafte Angebot in der Bevölkerung auslöst, war für die Gutachter offenbar so gering, dass sie es in ihrem Papier nicht erwähnten. Das in seiner Wandlitzer Blase lebende Politbüro hatte keine Ahnung, wie es "da unten" zugeht.

Das Dokument stellt ferner fest, dass der Fünfjahrplan 1986 bis 1990 für das NSW in bedeutendem Umfang nicht erfüllt wurde, was die unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit zur Folge hat. Die Lösung wäre ein Moratorium (Umschuldung), bei der der Internationale Währungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat. Solche Auflagen aber setzen Untersuchungen des Internationalen Währungsfonds in den betreffenden Ländern zur Kostenentwicklung, Geldstabilität und ähnliches voraus. Diese Untersuchungen seien aber mit der Forderung auf den Verzichte des Staates, in die Wirtschaft einzugreifen, der Reprivatisierung von Unternehmen, der Einschränkung der Subvention mit dem Ziel sie gänzlich abzuschaffen und dem Verzicht des Staates, die Importpolitik zu bestimmen, verbunden. Es sei notwendig, alles zu tun, damit dieser Weg vermieden wird.

Wirtschaftspolitik muss sich ändern

Die Verfasser fordern eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik der DDR verbunden mit einer Wirtschaftsreform. Leistung und Verbrauch müssten wieder in ein Übereinstimmung gebracht werden, denn es könne im Inland nur das verbraucht werden, was nach Abzug des erforderlichen Exportüberschusses für die innere Verwendung der Konsumption und Akkumulation zur Verfügung steht. Als erster Schritt wird eine bedeutende Senkung des Planungs- und Verwaltungsaufwandes auf allen Ebenen gefordert. Vorhandene Elemente einer bürokratischen Zentralisierung in Leitung und Planung, deren Bearbeitung und Lösung nicht in der Zentrale möglich und erforderlich sind, seien abzuschaffen und die Eigenverantwortung der Kombinate und Betriebe wesentlich zu erhöhen. Die Rolle des Geldes als Maßstab für Leistung, wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg sei wesentlich zu erhöhen. Der Wahrheitsgehalt der Statistik und Information sei auf allen Gebieten zu gewährleisten. Mit anderen Worten fordert das Schürer-Papier, endlich von Lüge und Betrug bei der Erstellung von Erfolgsmeldungen und schöngefärbten Statistiken abzukommen, wie Honecker und sein Adlatus Mittag sie so liebte.

Insgesamt gehe es um die Entwicklung einer an den Marktbedingungen orientierten sozialistischen Planwirtschaft bei optimaler Ausgestaltung des demokratischen Zentralismus, wo jede Frage dort entschieden wird, wo die nötige größere Kompetenz vorhanden ist, schreiben die Autoren. Sie lehnen Verfasser "jede Idee von Wiedervereinigung mit der BRD oder der Schaffung einer Konföderation" ab. "Wir sehen in unseren Vorschlägen jedoch einen Weg in Richtung des zu schaffenden europäischen Hauses entsprechend der Idee Michael Sergejewitsch Gorbatschows, in dem beide deutsche Staaten als gute Nachbarn Platz finden können."

"Wir sind das Volk - Wir sind ein Volk"

Am Untergang der DDR haben weder Gesundbeterei noch Anbiederung an den Sowjetführer nichts mehr ändern können. Die Zeichen standen nach dem Motto "Wir sind das Volk - Wir sind ein Volk" auf klar Wiedervereinigung, der sich auch die ehemaligen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die in diesem Punkt einiges mitzureden hatten, nicht verweigern konnten. Ein Jahr später war die deutsche Einheit erreicht. Zwischendurch kamen ungeheuerliche Tatsachen über die wirtschaftliche Lage ans Tageslicht. Auch ohne das Ende der SED-Herrschaft und den Abgang der alten Führungsriege wäre das Jahr 1990, in dem der XII. Parteitag stattfinden sollte, und die Zeit danach alles andere als angenehm für die Bewohner des zweiten deutschen Staats geworden, denn sie hätten den sprichwörtlichen Gürtel enger und noch enger schnallen müssen.

5. Juli 2022

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