Die Legende vom guten Nazi
Topographie des Terrors fragt, wie es Hitlers Rüstungsminister Albert Speer gelang, sich als Unschuldslamm auszugeben und wer ihm dabei half



Die Nazipropaganda und sein eigener Apparat sorgten dafür, dass überall im Deutschen Reich Albert Speers als "Kopf" des deutschen Rüstungswunders bekannt wurde. In der Topographie des Terrors räsonniert Hitlers Lieblingsarchitekt und Rüstungsminister wie ein Technikrat über seine Arbeit im Nazistaat und weist jede Schuld an dort und den besetzten Ländern verübte Verbrechen weit von sich.



Die Topographie des Terrors zeigt Bücher, die hier Speer als "guten Nazi" loben und ihn dort als Kriegsverbrecher entlarven. Speer sah seine Millioneneinahmen wohl als eine Art Entschädigung dafür an, dass ihm nach dem Ende der Naziherrschaft eine Karriere als Architekt und Städtebauer versagt blieb.





Der von der Naziführung geschätzte Bildhauer Arno Breker arbeitet an der Büste von Albert Speer. Dieser trägt auf dem Foto darunter das Zeichen der paramilitärischen Organisation Todt (OT) über der Armbinde mit dem Hakenkreuz.



Albert Speer (rechts im Kreis) saß seine zwanzigjährige Haftstrafe in einem ehemaligen Militärgefängnis im Berliner Ortsteil Spandau ab. Nach dem Tod von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß 1987 wurde die von den vier Besatzungsmächten betriebene Anstalt abgerissen, weil man befürchtete, sie könnte Alt- und Neonazis als Wallfahrtstätte dienen.



Albert Speer war ein treuer Diener seine "Führers" Adolf Hitler, der sich am 30. April 1945 im Bunker der Berliner Reichskanzlei umbrachte. Er überstand die zwanzigjährige Haft im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis - hier ein Foto mit Schreibmaschine und trockenen Brotscheiben davor - so gut, dass er ab 1966 viel Geld mit seinen Memoiren, Zeitungsinterviews sowie Auftritten im Rundfunk und Fernsehen verdiente.



Mit seiner Selbststilisierung als "verführter Künstler" in einer Rotte von Mördern, korrupten Gaunern und selbstsüchtigen Intriganten und als angeblich unpolitischer Mitläufer kam Albert Speer in der Bundesrepublik gut an. Sichtlich gealtert genoss Speer den Rummel, den die damalige Presse um ihn machte. Seine Legenden wurden von willigen Helfern unter Journalisten und Verlegern in alle Welt transportiert. Allzu gern hat man dem verurteilten Kriegsverbrecher geglaubt.





Die für Hitler gebaute Neue Reichskanzlei in Berlin existierte nur wenige Jahre, und auch das von ihrem Architekten Albert Speer propagierte Märchen von der angeblich nur einjährigen Bauzeit und davon abgeleitet von der hocheffektiven Wirtschaft und Baukultur in Hitlers Reich ist eine dreiste Lüge. Nach der Einnahme der Reichshauptstadt rissen Sowjetsoldaten den Adler mit dem Hakenkreuz aus der Fassade der Kriegsruine.



Von der für "Germania" geplanten Riesenhalle mit der gewaltigen Kuppel existieren nur Modelle, dieses wird im Deutschen Dom am Berliner Gendarmenmarkt gezeigt. Auch die anderen Monumentalbauten blieben unvollendet oder wurden nicht errichtet. (Fotos/Repros: Caspar)

Im Bunker der Reichskanzlei in Berlin verschanzt, soll Hitler zu seinem Lieblingsarchitekten und Rüstungsminister Albert Speer gesagt haben, wenn der Krieg verloren geht, werde auch das Volk verloren sein. "Dieses Schicksal ist unabwendbar. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören." Die Deutschen hätten sich dann als die schwächeren erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre ausschließlich die Zukunft. Was nach dem Krieg übrig bleibt, seien ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten seien gefallen. Albert Speer, der Hitler mit diesen Worten vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zitierte, widersetzte sich nach eigenen Angaben dem so genannten Nerobefehl vom 19. März 1945, in dem Hitler verfügte, militärische Anlagen, Brücken, Vorratslager, Schienen, Bahnhöfe und weitere Versorgungseinrichtungen zu zerstören. Sich diesem Befehl entgegenzustellen, war mutig. Angeblich soll Speer das Schlimmste verhindert haben. Während Hitler andere Befehlsverweigerer erschießen ließ oder sie zumindest ihrer Posten enthob, blieb sein Rüstungsminister ungeschoren. Die von ihm später in die Welt gesetzte Legende, er habe in die Bunkeranlagen unter der Neuen Reichskanzlei Giftgas einleiten und damit Hitler und einige seiner Getreuen töten wollen, wird von Historikern bezweifelt und als Versuch angesehen, sich als Regimegegner zu stilisieren.

Nürnberger Richter waren beeindruckt

Nachdem sich Speer im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher kleinlaut zu so etwas wie Mitschuld an der Katastrophe bekannt und sich gegenüber den Richtern kooperativ ausgegeben hatte, kam er gegen das Votum des sowjetischen Anklägers mit 20 Jahren Haft glimpflich davon. Hätte das Gericht Speers Rolle bei der brutalen Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Sklavenarbeitern in ober- und unterirdischen Rüstungsfabriken genauer untersucht, dann wäre ihm wie Göring, Keitel, Kaltenbrunner und anderen Hauptkriegsverbrechern der Strang gewiss gewesen. Aber sie haben nicht nachgefragt, was Speer und seine Leute taten, etwa als sie von Zwangsarbeitern Bunker bauen ließen oder "judenfrei" gemachte Wohnungen in Berlin an Ausgebombte abgaben. Kein Thema war, dass die Deportation von Juden in die Vernichtungslager bei der "Lösung der Wohnungsfrage" eine große Rolle spielte. Speer gelang es in Nürnberg, mit seiner großbürgerlich anmutenden, konzilianten, weltläufigen und am Ende reumütigen Art, die Richter zu beeindrucken. Der Kontrast zwischen Göring, Heß, Keitel, Ley und den anderen Nazibonzen und ihm hat sie offenbar imponiert. Speers vorsichtig vorgetragenes Schuldbekenntnis wurde von den andern Angeklagten empört als Verrat quittiert.

Ertragreiches Comeback als Buchautor

"War Speer ein Verbrecher?" So steht es in großen Buchstaben an der Wand einer neuen Sonderausstellung in der Topographie des Terrors, die sich bis zum 25. September 2022 weniger mit dem beschäftigt, wie die von Speer entworfenen überdimensionalen "Großbauten des Führers" geplant und teilweise errichtet wurden und was von ihnen übrig blieb, sondern mit der Zeit nach seiner Entlassung 1966 aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis. Während seiner Haft konnte sich Speer 20 Jahre lang auf seine Zeit "danach" vorbereiten und über Mittelsmänner Kontakt zur Außenwelt halten. Ein Comeback als Architekt gelang ihm nicht, dafür aber nach seiner Entlassung am 30. September 1966 ein Comeback als Medienstar und schreibfreudiger Geschichtsfälscher. Die Vermarktung der "Marke Speer" trieb die Auflagen seiner Bücher und die Einnahmen aus Fernsehauftritten und Rundfunkinterviews in die Höhe. Kritische Nachfragen waren nicht erwünscht, wer das tat, wurde von der konservativen Presse abgebügelt und/oder totgeschwiegen.

Auf Fotos aus der Kriegszeit ist Speer mit der Armbinde der Organisation Todt (OT) zu sehen, benannt nach Fritz Todt, dem 1942 bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückten Chef aller kriegsbedingten Baumaßnahmen wie Befestigungsanlagen und Bunker, Führerhauptquartiere und Flaktürme sowie im Straßenbau. Der OT standen Ende 1944 über 1.360.000 Arbeitskräfte zu Gebote, darunter unzählige Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, die der "Vernichtung durch Arbeit" ausgeliefert waren. In Nürnberg wurde dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel, dem Generalbevollmächtigten für den Kriegseinsatz Fritz Sauckel und Rüstungsminister Albert Speer nachgewiesen, den völkerrechtswidrigen Einsatz ausländischer Zivilisten und Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen bei militärischen Infrastrukturmaßnahmen brutal umgesetzt zu haben und für den Tod von unzähligen Menschen verantwortlich zu sein. Während Keitel und Sauckel hingerichtet wurden, kam Speer glimpflich davon.

Wann immer der ehemalige Rüstungsminister und Hitler-Vertraute nach seiner Rolle als Organisator von Kriegsindustrie und Zwangsarbeit gefragt wurde, gab er sich als verfolgte Unschuld aus. Speer malte, unterstützt durch die westdeutsche Journaille, von sich das Bild als das eines gutgläubigen, von Hitler verführten Nazis, gab sich als besorgter Arbeitgeber, feinfühliger Kunstmensch und alles in allem unwissender Technokrat aus, der nur das Beste für sein Land wollte. Er habe von Hitlers Kriegs- und Massenvernichtungsplänen nichts gewusst, und er sei auch sonst an seinen Entscheidungen nicht beteiligt worden, sagt er in einem Video, das in der Ausstellung läuft. Den systematischen Massenmord an Juden habe man sich in seinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können. Er habe sich in seine Arbeit verkrochen und wenig von dem mitbekommen, was um ihn geschah. Diese Aussage deckt sich mit der Behauptung von Millionen Deutschen, von nichts gewusst zu haben wollen und von Hitler in die Irre geführt fühlten. Damals machte der Spruch "Mein Kampf verbrannt, Hitler nicht gekannt" die Runde.

Hanebüchenen Verdrehungen und Lügen

Albert Speer hatte während seiner Haft in Spandau heimlich Aufzeichnungen angefertigt, die von einem bestochenen Krankenpfleger nach draußen, zu seinem Freund und früheren Mitarbeiter Rudolf Wolters nach Coesfeld geschmuggelt wurden. Aus ihnen entstanden die "Erinnerungen" (1969) und die "Spandauer Tagebücher" (1975), die hohe Auflagen erzielten. Mit seinen hanebüchenen Verdrehungen, Lügen und Schutzbehauptungen sowie pikanten Einsichten in das Innenleben der Naziführung stieß Speer auf offene Ohren. Ein großer Teil der westdeutschen Öffentlichkeit nahm ihm seine Geschichten liebend gern ab. Er stieß auf offene Ohren wohl auch deshalb, als sich seriös gebende Historiker und Publizisten wie Joachim Fest, der in den 50er Jahren beim RIAS gearbeitet und dort die Sendung "15 Minuten Geschichte" moderiert hatte, und der Verleger Wolf Jobst Siedler alle Mühe gaben, ihren Schützling mit der Aura des "guten, anständen Nazis" zu versehen. Mit Speers Rechtfertigungstiraden ließ sich viel Geld verdienen, mit ihnen konnte man auch das tiefbraune Bild des Nazidiktatur wunderbar aufhellen. Fest, Siedler und mit ihnen willfährige Schreiber und Filmemacher, unter denen nicht wenige eine Nazi-Vergangenheit hatten, schilderten Speer als einen geläuterten und einsichtigen Mann der treuen Pflichterfüllung und als einen, der im Dienst um den Staat sein Künstlerdasein aufgeben musste und sogar zu einem verkappten Widerstandskämpfer wurde. Im Unterschied zu blutbesudelten Henkersknechten habe der Reichsminister außer Diensten saubere Hände gehabt, lautete das Credo. Solche Erzählungen finden sich auch in Spielfilmen wieder, die Hitler und Speer in trautem Gespräch über die Pläne zur Umwandlung Berlins in die "Welthauptstadt Germania" zeigen, sie aber auch miteinander streitend zeigen.

In einem Brief, den der französische Widerstandskämpfer, Häftling in der unterirdischen Rüstungsfabrik Mittelbau-Dora und Publizist nach seiner Befreiung, Jean Amérie, am 6. Oktober 1975 an Speer per Adresse Propylen Verlag Lindenstraße 76/1000 Berlin 61 schrieb und der in der Ausstellung gezeigt wird, teilt der Briefschreiber dem ehemaligen Minister mit, er habe dessen Bücher "aus zureichenden und wohl sogar Ihnen verständlichen Gründen" nicht gelesen. Er werde sie auch nicht lesen, nur durch die Presse sei die Nachricht zu ihm gedrungen, Speer sei in seiner Haftzeit zu "Einsichten" gekommen. Das aber hält er, Amérie, für unmöglich. Er fordert Speer auf, lieber zu schweigen, denn kein einziger Mittäter habe das moralische Recht, "mit ergreifenden Expektorationen [Erklärungen von Gefühlen, H. C.] an die Öffentlichkeit zu treten.

Kleines Licht und verfolgte Unschuld

Wie der Münchner Historiker Magnus Brechtken in seinem 2017 erschienenen Buch "Albert Speer. Eine deutsche Karriere" (Siedler Verlag München, 910 Seiten, zahlr. Abbildungen, 40 Euro, ISBN 978-3-8275-0040-3) nachweist, war Albert Speer ein ausgesprochener Machtmensch, der die Nähe zu Hitler und Goebbels suchte und sich ihnen durch Parteitagsinszenierungen, Monumentalbauten sowie Höchstleistungen der Kriegsindustrie andiente und unersetzbar machte. Brechtkens Buch ist zugleich eine Abrechnung mit der Art und Weise, wie es der Architekt, Rüstungsminister und Kriegsverbrecher mit Hilfe westdeutscher Medien von QUICK und BILD bis SPIEGEL und Frankfurter Allgemeiner Zeitung sowie hilfreicher Apologeten im In- und Ausland vermochte, sich als "kleines Licht" in der Nazihierarchie und verfolgte Unschuld darzustellen. Magnus Brechtkens Buch ist eine bittere Abrechnung mit einem bestimmten Zweig der westdeutschen Zeitgeschichtsforschung und -publizistik, die sich nur allzu gern von den Legenden des Albert Speer und seinesgleichen einlullen ließ. In die Phalanx der Nachbeter Speer'scher Märchen reihten sich Fernsehleute und Filmemacher ein. Erinnert sei unter anderem an TV-Filme wie "Speer und Er" sowie "Der Untergang", aber auch an Fernsehinterviews, in denen Speer seine Geschichten erzählen konnte, ohne dass ihm jemand in die Parade fuhr und ihn mit den harten Tatsachen des Naziterrors und der Kriegsverbrechen konfrontiert hätte, für die auch er Verantwortung trug.

Vernichtung durch Arbeit

Dabei war die Beteiligung von Speer an Kriegsverbrechen bekannt, man hätte nur in den Unterlagen des Nürnberger Tribunals und weiteren Dokumentensammlungen sowie in unzähligen Studienbänden nachschauen müssen, um seine Rolle bei der "Endlösung der Judenfrage", von der er angeblich nichts wusste, sowie der "Vernichtung durch Arbeit" in den von seinem Ministerium angelegten Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern festzustellen. Bohrende Nachfragen traute sich damals kaum jemand angesichts der bizarren Prominenz des alten Hitlerfreundes, den man auch deshalb hofierte, weil er immer Hitler und seine Kumpanen belastende oder karikierende Anekdoten zum Besten gab, so wie er es auch in seinen Erinnerungen getan hat.

Der Ausbau des KZ-Systems, die Ausbeutung von Millionen Zwangsarbeitern, die Ausplünderung der besetzten Länder, die Vertreibung der Juden aus Berlin und weitere dunkle Punkte auch seiner Biographie kommen in den Büchern nicht vor oder werden nur verklausuliert angedeutet. Den Novemberpogrom von 1938 registrierte der Verfasser nur wegen der dabei verursachten "Unordnung" auf den Straßen, das Schicksal der Juden schien ihm nicht zu interessieren. Von Auschwitz will er nur durch Andeutungen seines Freundes, des Breslauer Gauleiters Hanke, gehört haben, verbunden mit der Mahnung, da lieber nicht hinzufahren. Dass Speer einer der berüchtigten Posener Reden vom Reichsführer SS Heinrich Himmler zugehört hat, in der die Notwendigkeit kaltblütiger Ermordung von Juden und anderen "Untermenschen" begründet und von SS-Leuten verlangt wurde, dabei immer "anständig" zu bleiben, räumte Speer nach anfänglichem Leugnen erst sehr spät ein.

In den "Spandauer Tagebüchern" schilderte Speer seine Spandauer Haft, in der herein geschmuggelter Alkohol reichlich floss und die Gefangenen dank Bestechung der Bediensteten alles andere als hungern mussten. Mit viel Häme führt Speer seine Mitgefangenen Baldur von Schirach, Rudolf Heß, Karl Dönitz, Erich Raeder, Konstantin von Neurath, Walther Funk sowie die Nazibonzen vor, die bereits in Nürnberg hingerichtet und sich selber umgebracht hatten. Indem er seine Kumpane lächerlich machte, kommt er, Albert Speer, als respektabler Außenseiter mit sauberen Händen weg. Er strickt zudem an der von der Nazipropaganda verbreiteten Legende, er habe die Neue Reichskanzlei in weniger als zwölf Monaten errichten lassen, was in der Nachkriegszeit von manchen Apologeten als Beweis für die Effektivität des NS-Systems und seiner Wirtschaft aufgewärmt und in weiteren Publikationen fortgesponnen wurde.

23. Mai 2022

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