Sternstunden und Zeitenwenden
Von markanten Ereignissen, die die Welt nachhaltig verändert haben (Teil 3, Kalter Krieg, Stalins Tod und das Ende der Sowjetsystems)



Churchill, Truman und Stalin demonstrierten während der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 zwar freundschaftliche Einigkeit, doch ließen sich im Schloss Cecilienhof die Gegensätze nur mühsam kaschieren.



Stalin, der unermüdlich im Kreml für sein Volk und die Weltrevolution arbeitende Nachfolger Lenins, der weise Staatenlenker und Befreier der Menschheit vom Faschismus - die Propaganda kannte zu seiner Zeit keine Grenzen, um den sowjetischen Diktator in den Himmel der ganz Großen der Geschichte zu heben.



Auf westlicher Seite konnte man sich Fragen nach Stalins Ableben erlauben, in seinem Herrschaftsbereich wurde Staatstrauer zelebriert.



Am blumengeschmückten Sarg standen Stalins durch schwere Verbrechen belastete Erben in den Startlöchern und dachten angespannt nach, wer die Macht ergreift.



Die Wahrheit über die Verbrechen des so lange als Übervater verehrten Stalin ließ sich nicht unterdrücken. Seine Denkmäler wurden gestürzt wie hier 1956 beim Ungarnaufstand oder kamen in die Museumsdepots. Die Stiefel stehen auf einem Sockel in Budapest und erinnern daran, dass hier ein monumentales Stalindenkmal stand und das Land unter den Stiefeln der Roten Armee und der ungarischen Geheimpolizei schwer zu leiden hatte.



Nie konnten sich führende Genossen in der DDR ganz von ihrem Glauben an den "roten Gott" trennen, wie der Titel einer Ausstellung 2018 im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen lautete. Dort hat man ein den Einschmelzungen nach 1956 entgangenes Stalindenkmal nicht aufgestellt, sondern respektlos abgelegt.



Das für die DDR in Westberlin produzierte, als unbezahlbar deklarierte Satireblatt schildert, wie Stalin vom SED-Chef Walter Ulbricht beweihräuchert wird und er wie Rotkäppchen im Märchen vom Wolf zur Großmutter gebracht wird, gemeint sind hier ostdeutsche Pläne, die imperialistische Bundesrepublik zu erobern.



Sie konnten gegensätzlicher nicht sein - Erich Honecker stand Michail Gorbatschows Kurs von Glasnost und Perestroika kritisch gegenüber und behauptete, dergleichen habe man in der DDR nicht nötig.





Eine übereilte Äußerung des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski bei einer internationalen Pressekonferenz wurde am Abend des 9. November 1989 von westlichen Medien so gedeutet, dass "ab sofort" die Mauer geöffnet ist. Prompt versammelten sich unzählige Ostberliner an den Übergangsstellen und gelangten in den Westen, ohne von den verdutzten Grenzsoldaten gehindert zu werden. (Foto/Repros: Caspar)

Das 20. Jahrhundert sah so viele Sternstunden und Zeitenwenden, dass es schwer fällt, die wichtigsten Ereignisse zu nennen. Vor allem die beiden Weltkriege von 1914 bis 1918 sowie von 1939 bis 1945 und das Ende der Nazidiktatur waren einschneidende Ereignisse, die bis heute nachwirken. Der Abwurf von zwei amerikanischen Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945, der den Zweiten Weltkrieg in Asien beendete, läutete das Atomzeitalter ein. Schon bald begannen der Kalte Krieg und das atomare Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion, die sich bis an die Zähne bewaffnet unversöhnlich gegenüber standen. Mehrere Krisen hätten geradewegs in einen Atomkrieg und damit zur Auslöschung der Menschheit geführt, doch konnte dieser letzte Schritt zum Glück noch abgewendet werden.

Im Sommer 1945 tagten im Potsdamer Schloss Cecilienhof die Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion, um über die Nachkriegsordnung in Europa zu beraten. Während der Zweite Weltkrieg noch in Asien tobte, ließen sich die Differenzen in der bisherigen Anti-Hitler-Koalition nur mühsam bemänteln. Ohne Zweifel war Stalin die dominierende Person der Tagung. Seine Verhandlungspartner wussten, dass "Onkel Jo" am längeren Hebel sitzt. Um Stärke zu beweisen, vor allem aber um den Krieg gegen Japan schnellstmöglich zu beenden, gab Präsident Truman von Potsdam aus den Befehl, Hiroshima und Nagasaki durch den Abwurf von Atombomben zu zerstören.

Gleichgewicht des Schreckens

Stalin ließ sich in Potsdam nichts anmerken, denn schon bald verfügte auch er über eine solche Massenvernichtungswaffe. So war das Gleichgewicht des Schreckens hergestellt, und der Kalte Krieg begann. Der dritte Weltkrieg konnte verhindert werden, doch stand die Menschheit in den folgenden Jahrzehnten mehrmals kurz davor. Dass der sowjetische Diktator Wladimir Putin heute mit einem atomaren Schlag gegen die von ihm und seinen Truppen am 24. Februar 2022 überfallene Ukraine droht, markiert eine vor 30 Jahre, als die alte Sowjetunion Geschichte wurde, nicht für möglich gehaltene Eskalation in den Beziehungen der Länder untereinander und eine ungeheure Gefährdung des Weltfriedens.

Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 legte zwar fest, dass die Deutschen für ihre furchtbaren Verbrechen büßen sollen, aber die Alliierten fügten hinzu, dass sie das deutsche Volk nicht vernichten und versklaven wollen. Es soll die Möglichkeit erhalten, sich auf einen Neubeginn auf demokratischer und friedlicher Grundlage vorzubereiten. "Wenn die eigenen Anstrengungen des deutschen Volkes unablässig auf die Erreichung dieses Zieles gerichtet sein werden, wird es ihm möglich sein, zu gegebener Zeit seinen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen." Die Geschichte hat gezeigt, dass sich beide 1949 gegründete Staaten mehr oder weniger gut bemühten, diesen Forderungen gerecht zu werden.

Eiserner Vorhang senkt sich über Europa

Am 5. März 1946 erklärte der bisherige britische Premierminister Winston Churchill in Anwesenheit des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman in Fulton, von Stettin an der Ostsee bis nach Triest an der Adria habe sich ein "Eiserner Vorhang" über Europa gesenkt und meinte damit, dass der Kontinent in zwei Hälften geteilt ist und alles dafür getan werden muss, den unter westlicher Herrschaft stehenden Bereich vor dem Kommunismus auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zu schützen. Mit der Aufsehen erregenden und sogleich im politischen Tageskampf viel benutzten Begriff beschrieb er die neuen Machtverhältnisse und die unüberbrückbaren Differenzen zwischen Ost und West. Die Botschaft wurde verstanden, und so protestierte der sowjetische Staats- und Parteichef Stalin in scharfer Form gegen die Rede und nannte Churchill, seinen bisherigen Verbündeten im Kampf gegen das Nazireich, einen Kriegsbrandstifter.

Atomar hochgerüstet konkurrierten die Westmächte unter Führung der USA mit den Staaten des Ostblocks, die von der Sowjetunion dominiert wurden. Die beiden Militärblöcke - Nato und Warschauer Vertrag - beschuldigten einander der schlimmsten Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Während die DDR ihren Erzfeind, die Bundesrepublik Deutschland, als Nachfolgestaat der Hitlerdiktatur und als Lakai des amerikanischen Imperialismus verurteilte, nannte man umgekehrt die "Zone" einen sowjetischen Satellitenstaat, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Ermordung von Gegnern wie am Fließband

Maßlose Verblendung, Obrigkeitsgläubigkeit und Untertanengeist, aber auch Hoffnung auf ein besseres Leben in einer friedlichen und freiheitlichen Gesellschaft ohne Klassenunterschiede waren Gründe, warum sich der sowjetische Diktator Josef Stalin so lange in den Herzen und Hirnen seiner Untertanen und zahlloser Menschen außerhalb seines Machtbereichs halten konnte. Vor allem seine von der eigenen Propaganda als überragend verherrlichte Leistung als Militärführer im Kampf gegen den Hitlerfaschismus sicherten ihm einen Platz in der Riege der ganz Großen des 20. Jahrhunderts. Wer aber Stalins Feldherrentätigkeit in Zweifel zog, hatte in seinem Machtbereich mit Repressalien und Tod zu rechnen. Obwohl in der Sowjetunion nicht unbekannt war, wie Stalins Blutrichter so genanntes Recht sprechen und sein Geheimdienst Angst und Schrecken verbreitete und seine Schergen unzählige Menschen wie am Fließband umbrachten, war in der kommunistischen Welt und auch bei manchen Sympathisanten im Westen die Trauer groß, als bekannt wurde, dass am 5. März 1953 "dass das Herz des großen Stalin aufgehört hat zu schlagen", wie in amtlichen Mitteilungen von damals hieß.

In der der Sowjetunion und den von ihr beherrschten Ländern, also auch in der DDR, wurden die Fahnen auf halbmast gesenkt. Das Radio spielte Trauermusik, die Leute flüsterten untereinander. Die Zeitungen druckten Stalinbilder mit schwarzen Rändern, Arbeiter, Angestellte, Bauern und andere DDR-Bewohner traten zu kilometerlangen Trauerzügen an Stalindenkmälern in der Berliner Stalinallee und an anderen Orten an und legten Kränze nieder. Stalins Werk ist unsterblich, behauptet eine Sonderausgabe der Wochenschau "Der Augenzeuge" und zeigte, wie Junge Pioniere schwarzen Flor um Stalins Bildnis drapieren. Sich im Machtbereich des sowjetischen Diktators und seiner ostdeutschen Helfershelfer über diesen lustig zu machen, gar seinen Tod zu begrüßen, weil sie an ihn die Hoffnung Freiheit von kommunistischer Herrschaft knüpften, war lebensgefährlich.

"In seinen Werken reicht er uns die Hand..."

Kommunistische Parteien und Regierungen überschlugen sich mit Beileidskundgebungen und Lobesworten für Stalin, nannten ihn den Lenin von heute, großen Führer und weisen Lehrer des Weltproletariats. Überall in der DDR fanden quasireligiöse Andachten vor dem Bild des teuren Toten statt, und Dichter wie Johannes R. Becher sonderten damals todernst gemeinte Hymnen auf den Staatenlenker ab. In seiner "Danksagung" verstieg sich der Verfasser der DDR-Hymne zu diesen von Kitsch triefenden Worten: "In seinen Werken reicht er uns die Hand. / Band reiht an Band sich in den Bibliotheken, / Und niederblickt sein Bildnis von der Wand. / Auch in dem fernsten Dorf ist er zugegen. Mit Marx und Engels geht er durch Stralsund, / Bei Rostock überprüft er die Traktoren, / Und über einen dunklen Wiesengrund / Blickt in die Weite er, wie traumverloren. / Er geht durch die Betriebe an der Ruhr, / Und auf den Feldern tritt er zu den Bauern, / Die Panzerfurche - eine Leidensspur. / Und Stalin sagt: ,Es wird nicht lang mehr dauern.'" Kaum jemand wusste, Stalin einsam und elend an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben war. Keiner seiner Leibärzte und seiner engsten Genossen war bei ihm, denn sie hatten Angst dafür verantwortlich gemacht zu werden, wenn der "Unterbliche" stirbt.

Erst langsam kam ans Tageslicht, wer der "Stählerne", der eigentlich Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili hieß, wirklich war. Die Welt hielt den Atem an, als in aller Vorsicht die Verbrechen des Diktators und Massenmörders durch eine Rede angesprochen wurde, der KPdSU-Chefs Nikita Chruschtschow den harmlosen Titel "Über den Personenkult und seine Folgen" gab. Nach der Oktoberrevolution 1917 war Josef Stalin als Volkskommissar für Nationalitätenfragen Lenins Mann fürs Grobe. Indem er gewaltsam mit Hilfe der Roten Armee und des Geheimdienstes die von Russland abgefallenen Kaukasusvölker in den sowjetischen Herrschaftsbereich eingliederte und oppositionelle Kräfte liquidierte, machte er sich Lenin unentbehrlich. Stalin stieg in der Parteihierarchie auf, wurde 1922 Generalsekretär des ZK der KPdSU und arbeitete unermüdlich an der Stärkung seiner Machtposition mit dem Ziel, die Nachfolge des erkrankten Gründers des Sowjetstaates anzutreten.

Lenin warnte vor Stalin

Lenin hatte die verhängnisvolle Entwicklung seines früheren Schützlings voraus gesehen und die Partei vor ihm gewarnt. In einem Brief an den Parteitag bezweifelte er 1922, ob Stalin in der Lage ist, die in seiner Hand konzentrierte ungeheure Machtfülle mit genügender Vorsicht anzuwenden. "Stalin ist zu schroff, und dieser Fehler [...] ist in dem Amt des Generalsekretärs untragbar", schrieb Lenin und forderte für den Posten des Generalsekretärs einen Menschen, "der geduldiger, loyaler, höflicher, aufmerksamer gegenüber den Genossen und weniger launenhaft ist". Nach Lenins Tod ließ sich Stalin als "Lenin von heute" feiern. Viele Fotos und Filmaufnahmen, die Lenin mit Freunden und Funktionären zeigen, die in der Stalinzeit als angebliche Volksfeinde verfolgt und hingerichtet wurden, hat die Zensur vernichtet, retuschiert und in den Archiven verschwinden lassen. 1929 setzte Stalin die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft durch und begann die rigorose Industrialisierung der UdSSR. Sein Endziel war die Errichtung des Sozialismus und Kommunismus in der Sowjetunion und dann auf dem Erdball. Ab 1934 entledigte er sich seiner Gegner. In einer Serie von Schauprozessen ließ er alte Weggefährten wegen verurteilen und hinrichten.

Stalins im August 1939 überraschend mit Hitler abgeschlossenes Freundschaftsabkommen verhinderte den Zweiten Weltkrieg nicht, im Gegenteil. Der deutsche Diktator überfiel Polen, und Stalin, sein neuer "Freund, unterwarf sich die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen und Teile der Ukraine. Viele Anhänger des "großen Stalin", wie die sowjetische Propaganda den allmächtigen Partei- und Staatschef nannte, und auch in die Sowjetunion geflohene Kommunisten waren über den Kurswechsel entsetzt. Doch wer es wagte, an Stalins "Weisheit" zu zweifeln, wurde eingekerkert oder umgebracht. Als Hitlerdeutschland die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überfiel, waren die Rote Armee, die Rüstungsindustrie und allgemein die Bevölkerung auf den Vertragsbruch nicht vorbereitet.

Stalin und seine Militärs mobilisierten alle verfügbaren Kräfte für den "Großen Vaterländischen Krieg" und gewannen ihn gemeinsam mit ihren westlichen Verbündeten. Dass an dem Erfolg viele unterm Sowjetstern mehr oder weniger freiwillig vereinten Völker, allen voran die besonders unter der deutschen Besatzung leidende Ukraine, großen Anteil hatten, wurde jetzt, da die Russische Föderation Krieg gegen das Nachbarland und Brudervolk, wie es lange hieß, führt, ein großes Thema. Denn lange war nur vom Sieg der Roten Armee beziehungsweise der Sowjetunion die Rede, und wenn an Ehrenmälern Blumen niedergelegt wurden, dann galten sie den tapferen Sowjetsoldaten. Diese Sichtweise hat sich geändert, und so werden auch die Völker außerhalb der heutigen Russischen Föderation in das Gedenken einbezogen.

Honecker geht gegen den "Sputnik" vor

Aus dem Kampf um die Macht nach Stalins Tod kristallisierte sich schon bald Nikita Chruschtschow als Nachfolger heraus, einer der engsten Mitarbeiter des Diktators und drei Jahre später auch sein erster Kritiker. Der ehemalige KP-Chef der Ukraine war Mitglied des Politbüros und damit beteiligt an sowjetischer Innen- und Außenpolitik. Er bootete den langjährigen Geheimdienstschef Lawrentij Berija aus, der sich bei den Stalinschen Verfolgungen die Hände besonders blutig gemacht hatte und, als er den Machtkampf verloren hatte, Ende 1953 kurzerhand erschossen wurde. Stalin starb in der Zeit des Kalten Kriegs, einer höchst gefährlichen Konfrontation zwischen Ost und West. Doch nicht die Rücksicht auf die instabile Weltlage mag die neuen Kremlherren davon abgehalten haben, hart und ehrlichen Herzens mit ihrem bisherigen Idol ins Gericht zu gehen, denn sie wussten nur zu genau, dass die Anklage auf sie selber zurückfallen würde.

Erst unter Michail Gorbatschow, der 1985 sowjetischer Parteichef wurde, wagte man im Zuge von "Glasnost und Perestroika", auch öffentlich die Millionen Toten zusammenzurechnen, die auf Stalins Schuldkonto gingen, und es durfte auch vom lange geleugneten Zusatzprotokoll im Abkommen zwischen Hitler und Stalin gesprochen werden, das jene Interessensverteilung regelte. Ausgesprochen allergisch reagierte Altstalinist Erich Honecker, der SED- und Staatschef der DDR, auf Enthüllungen im Sowjetmagazin "Sputnik", das ziemlich ungeschminkt Einzelheiten über Stalins Terror berichtete und sogar Vergleiche zwischen den Opfern seiner Diktatur und denen Hitlerdeutschlands anstellte. Diese neue Offenheit brachte Honecker so sehr in Rage, dass er persönlich und gegen den Rat aus seiner Umgebung den Vertrieb der deutschsprachigen Ausgabe 10/1988 unterband, angeblich weil sie keinen Beitrag bringt, "der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, statt dessen verzerrende Beiträge zur Geschichte". Dieses auch von treuen SED-Genossen kritisierte Verbot war einer von vielen Nägeln am Sarg der DDR.

Chruschtschows Kritik am Vorgänger

In seiner Geheimrede am 25. Februar 1956 sprach Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit Blick auf seinen Vorgänger Josef Stalin vorsichtig nur von Personenkult, Dogmatismus und Vergehen gegen die sozialistische Gesetzlichkeit. Dass die Rede in Moskau nicht veröffentlicht, sondern nur auf Umwegen ins westliche Ausland gelangte und dort zum Entsetzen der Sowjetführer publiziert wurde, war nicht zu vermeiden. Chruschtschow behandelte das Problem vor allem abstrakt und theoretisch. Es sei unzulässig und dem Geist des Marxismus-Leninismus fremd, "eine einzelne Person herauszuheben und sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen, gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln. Dieser Mensch weiß angeblich alles, sieht alles, denkt für alle, vermag alles zu tun, ist unfehlbar in seinem Handeln. Eine solche Vorstellung über einen Menschen, konkret gesagt über Stalin, war bei uns viele Jahre lang verbreitet", erklärte der Redner, der selber kräftig als ukrainischer Parteichef an seinem Mythos gearbeitet hatte und sich nun seinerseits zum Halbgott erheben ließ. Die selbst gestellte Frage, "wie sich allmählich der Kult um die Person Stalins herausgebildet hat, der in einer bestimmten Phase zur Quelle einer ganzen Reihe äußerst ernster und schwerwiegender Entstellungen der Parteiprinzipien, der innerparteilichen Demokratie und der revolutionären Gesetzlichkeit wurde", beantwortete Stalins früherer Handlanger nicht. Er hätte ja bei sich anfangen und seine Rolle in der Parteiführung beschreiben müssen.

Dass das "System Stalin" auf Terror und Gewalt basierte und unter anderem Namen auch weiter funktioniert, war Basis von Chruschtschows Machterhalt und daher für ihn kein Thema. Ungeniert verband er seine Ausführungen mit Avancen an den toten Sowjetführer, über dessen Verdienste "noch zu seinen Lebzeiten eine völlig ausreichende Anzahl von Büchern, Broschüren, Studien verfasst (wurde). Allgemein bekannt ist die Rolle Stalins bei der Vorbereitung und der Durchführung der sozialistischen Revolution, während des Bürgerkrieges sowie im Kampf um die Errichtung des Sozialismus in unserem Lande. Darüber wissen alle gut Bescheid", sagte Redner, den offenbar Zweifel an dieser mit hohen Menschenopfern verbundenen Politik nicht befielen. Die Wahrheit der Schauprozesse und Massenhinrichtungen, die Bolschewisierung der Landwirtschaft und Industrie, die Liquidierung der geistigen Elite des Landes, die Umsiedlung von ganzen Völkerschaften, Stalins Fehler vor allem zu Beginn des Zweiten Weltkrieg sowie die Annexion und Unterdrückung fremder Länder - das konnte und durfte nicht angesprochen werden.

Halbgott kein "Klassiker" mehr

Die ziemlich allgemein gehaltenen Enthüllungen auf dem XX. Parteitag der KPdSU läuteten die vorsichtig die Demontage Stalins auch in der DDR und anderen sozialistischen Bruderländern ein, wie sie sich untereinander nannten. Der noch vor drei Jahren als Halbgott verehrte Stalin sei nun kein "Klassiker" mehr, verkündete SED-Chef Walter Ulbricht, einer der schlimmsten Stalinisten im zweiten deutschen Staat. Lange daher gebetete Sprüche aus dem Mund des großen Führers waren Makulatur. Klammheimlich hat man 1961 das Stalindenkmal in der Berliner Stalinallee, die heutige Karl-Marx-Allee, abgebaut, und Stalinstadt hieß nun Eisenhüttenstadt.

Einzelheiten über Stalins Verbrechen, die natürlich auch Schatten auf die Politik von SED-Chef Ulbricht & Co. warfen, ließen sich auch im Osten Deutschlands auf Dauer nicht verheimlichen. Am 17. Juni 1953 wurden in der DDR beziehungsweise drei Jahre später in Ungarn und Polen und dann 1968 auch in der damaligen ?SSR Volksbewegungen für mehr Demokratie und Überwindung stalinistischer Verkrustungen niedergeschlagen. Trotz verbaler Bekundungen für mehr Demokratie und Mitbestimmung wurde, um bei der DDR zu bleiben, stalinistisches Denken nicht überwunden, weder bei Ulbricht noch bei seinem Nachfolger Honecker.

Die Geheimrede von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag 1956 in Moskau blieb auch der SED-Führung und darüber hinaus auch westlichen Regierungen nicht verborgen. Irgendwie, doch ganz vorsichtig und verklausuliert wurden Chruschtschows Enthüllungen der DDR-Bevölkerung nahegebracht. Offiziell hieß es nur, Stalin habe Fehler gemacht sowie Verstöße gegen die sozialistische Gesetzlichkeit und einen Kult um seine Person zugelassen. Auf der anderen Seite habe er Überragendes für die Befreiung des deutschen Volkes und der anderen Völker vom Hitlerfaschismus geleistet, wofür ihm ewiger Dank gewiss ist. Der hochrangige SED-Funktionär Karl Schirdewan, der mit Ulbricht überhaupt nicht auskam und von ihm geschasst wurde, erklärte auf der Tagung des Zentralkomitees der SED am 22. März 1956, es habe in der Sowjetunion eine "dem Geist des Marxismus-Leninismus feindliche Theorie und Praxis des Kultus der Person" gegeben. Dadurch sei der Parteiarbeit sowohl großer Schaden zugefügt worden. Natürlich habe er ebenso wie andere Führer der KPdSU und der internationalen Arbeiterbewegung bedeutende Leistungen als Marxist vollbracht. "Aber neben Marx und Engels ist Lenins Werk das große schöpferische geniale Werk, das die Menschheit für viele kommende Generationen inspiriert."

Fatale Erinnerungen an Folter durch die Gestapo

Wie aus internen Dokumenten der SED weiter hervorgeht, entspann sich in dieser Sitzung eine heftige Diskussion. Der Altkommunist und Widerstandskämpfer Otto Buchwitz erklärte, er habe Briefe von alten Genossen bekommen, in denen sie ihm jammervoll geschrieben haben: In uns ist etwas zerbrochen. Gebt uns Antwort darauf! Er habe sich bei den hier verlesenen Briefe von (in der DDR, H. C.) Verhafteten und Gefolterten sich wieder an das Gestapogefängnis Prinz-Albrecht-Straße erinnert, "wo ich sie habe schreien hören. Da wurde alles wieder lebendig in mir. Aber damals waren wir Genossen es, die von Faschisten gefoltert wurden. Doch was wir heute erfahren haben, da handelt es sich um Genossen, um unsere Genossen, die von einem Genossen gefoltert worden sind. Darüber komme ich nicht hinweg. Nein das kann ich heute noch nicht fassen." Buchwitz forderte, die ganze Wahrheit auszusprechen, denn ein Stück Wahrheit ist immer besser als Gerüchte. Das Politbüro und die Parteileitung müsse sie uns sagen, heute oder morgen.

Das war ein frommer Wunsch, denn Ulbricht und Genossen dachten nicht daran, eigene Fehler einzugestehen und öffentlich über den Machtmissbrauch in der Sowjetunion und bei sich in der DDR zu sprechen. Wann immer in den höchsten Parteikreisen davon die Rede war, hat man in Abrede gestellt, dass es so etwas in der DDR gegeben hat. Dabei blieb es bis zu ihrem Ende der DDR. Dass sie 1990 im Orkus der Geschichte verschwand hat auch damit zu tun, dass über unbequeme Tatsachen und peinliche Fehlentscheidungen nie klar gesprochen wurde. Ein Großmeister der auch das eigene System festigenden Lobhudelei war Walter Ulbricht. Dem SED-Chef und stellvertretenden Ministerpräsidenten war keine Hymne zu schrill, kein Reim zu billig, keine Losung zu hochtrabend, um sie nicht auf Stalin anzustimmen. Als der Diktator am 21. Dezember 1949 seinen 70. Geburtstag feierte, sandten ihm Ulbricht und der SED-Parteivorstand diese im Neuen Deutschland abgedruckten Glückwünsche: "Wir begrüßen Sie, Genosse Stalin, als den großen Fortsetzer und Vollender der unsterblichen Werke von Marx, Engels und Lenin. Wir begrüßen Sie, Genosse Stalin, als den tiefgründigen Forscher und kühnen Denker, der den Marxismus-Leninismus in seiner Reinheit verteidigt und durch neue Erkenntnisse bereichert und entwickelt hat." Stalin wurde bei anderen Gelegenheiten als der große Lehrer der deutschen Arbeiterbewegung und der beste Freund des deutschen Volkes bezeichnet. Der "Bannerträger im Kampf um den Frieden der Welt" galt den deutschen Kommunisten als Genius, "der die gesamte Menschheit auf die breite lichte Bahn des erfolgreichen Kampfes für ein Leben in Wohlstand und Frieden führt." Nie haben Walter Ulbricht, sein Nachfolger Erich Honecker und ihresgleichen ihre stalinistischen Auffassungen in Zweifel gezogen, sondern sie mehr oder weniger offen und drakonisch praktiziert.

Blutbefleckte Kolosse auf tönernen Füßen

Die Geschichte lehrt, dass selbst mächtige Staaten und blutige Regimes blutbefleckte Kolosse auf tönernen Füßen sind. Wir haben das gesehen, als sich nach dem Fall der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989 quasi im Minutentakt das SED- und Stasisystem in der DDR auflöste und am 3. Oktober 1990 "Deutschland einig Vaterland" war, wie es in der unter Honecker nie mehr gesungenen, sondern nur orchestrierten Nationalhymne heißt. Beides waren wahre Sternstunden. Niemand kann sagen, wie die Welt aussähe, wenn es nicht diese beiden Ereignisse gegeben hätte. Der Zerfall der Sowjetunion und des immer als unschlagbar ausgegebenen kommunistischen Weltsystems ließ nicht lange auf sich warten. Dass auf die ehemalige DDR und die anderen frei gewordenen Staaten neue, uns auch heute noch bedrückende Probleme und Verwerfungen zukamen, steht auf einem anderen Blatt. 18. Mai 2022

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