Sternstunden und Zeitenwenden
Von markanten Ereignissen, die die Welt nachhaltig verändert haben (Teil 1, bis 20. Jahrhundert)



Zwei Jahrhunderte liegen zwischen der Verbrennung von Jan Hus 1415 in Konstanz und dem Prager Fenstersturz 1618. Jedesmal ging es um Glaubens- und Machtfragen, und jedesmal waren die Folgen für die Völker grausam.



Der Sturm auf die Bastille in Paris am 14. Juli 1789 läutete eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte ein.



Deklarationen über Freiheit und Menschenrechte, Anstand und Moral nutzten in den USA und anderswo wenig, wenn man durch Ausbeutung und Unterwerfung Profit erwirtschaften und durch Diskriminierung unliebsame Konkurrenten ausgrenzen wollte. Die Grafik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt die Versteigerung einer versklavten Familie.



Die sowjetische Karikatur aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sagt Hitler die gleiche Niederlage voraus, die Frankreichs Kaiser Napoleon I. bei seinem Feldzug von 1812 im eisigen Russland erlitten hat.



Die Karikatur aus der Revolutionszeit 1848/49 zeigt drastisch am Beispiel des Großherzogtums Baden, wie sich preußischer Militarismus und Machtanspruch in Deutschland breit machen.



Mit seinem preußischen Königstitel war Wilhelm I. eigentlich zufrieden, doch im Ergebnis des Kriegs von 1870/71 kam noch der des deutschen Kaisers hinzu.



Nach Gründung des Deutschen Reiches erhob die Arbeiterbewegung selbstbewusst ihr Haupt, drastische Unterdrückungsmaßnahmen der Reichsregierung konnten ihren Einfluss nicht verhindern. (Repros: Caspar)

Seit dem 24. Februar 2022 ist in Europa, ja in der Welt nichts mehr so wie früher. Wladimir Putins blutiger Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist die größte Katastrophe seit dem vor 77 Jahren mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Europa beendeten Zweiten Weltkrieg. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach am 27. Februar 2022 in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestags von einer Zeitenwende. Es gehe im Kern um die Frage, ob Macht das Recht brechen dürfe und ob es dem russischen Präsidenten gestattet werden könne, die Uhren in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts zurückzudrehen. "Oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime in Frage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen." In einer Fernsehansprache zum 77. Jahrestag des Kriegsendes in Europa bekräftigte Scholz am 8. Mai 2022 seine Überzeugung, dass Putin den Krieg nicht gewinnen wird. "Die Ukraine wird bestehen. Freiheit und Sicherheit werden siegen - so wie Freiheit und Sicherheit vor 77 Jahren über Unfreiheit, Gewalt und Diktatur triumphiert haben. Dazu nach Kräften beizutragen, das bedeutet heute ,Nie wieder'! Darin liegt das Vermächtnis des 8. Mai", sagte der SPD-Politiker.

Nichtige Anlässe, große Katastrophen

Es gab Ereignisse, aus denen sich sowohl Gutes als auch Schreckliches entwickelt hat beziehungsweise beides miteinander vermischt war. Manchmal haben sich Sternstunden hier und Katastrophen dort aus nichtigen Anlässen oder lokalen Ereignissen entwickelt, die sich zu großen Flächenbrand auswuchsen. Miteinander verfeindete Gruppen oder Mächte haben stets nach Gründen gesucht und auch welche gefunden, um Kriege anzuzetteln und zu rechtfertigen. Im Fall der Ukraine war es deren Versuch, Mitglied der NATO werden zu wollen und sich russischen Begehrlichkeiten nicht zu unterwerfen, der Grund, dass der russische Präsident Putin einen Blitzkrieg gegen "ukrainische Faschisten" anzettelte. Sehr schnell musste er erkennen, dass seine Armee nicht so schnell wie erhofft nach "Kleinrussland", wie man in Moskau besitzergreifend die Ukraine nennt, vordringen und dort auch kein Putin höriges Marionettenregime installieren kann.

Der Traum, irgendwann die ehemalige Sowjetrepublik Ukraine der Russischen Föderation anzugliedern, wird nicht in Erfüllung gehen. Wäre das der Fall, dann hätten Putin und die hinter ihm stehenden Kräfte einen großen Schritt zur Wiederherstellung der 1991 untergegangenen Sowjetunion oder gar des alten Zarenreiches in den Grenzen von 1917 gemacht. So aber ging der Plan ungeachtet der Verluste auf beiden Seiten an Blut und Gut nicht auf. Bis jetzt steht Putin mit leeren Händen da, und ihm bleibt nichts anderes übrig, als mit einem atomar geführten Weltkrieg zu drohen, bei dem er und wir alle Verlierer sein werden. Dass er den aktuellen Krieg gegen die lange als "Bruderland" eingestufte, jetzt aber als Nazidiktatur verunglimpfte Ukraine als eine Art Fortsetzung des vor 77 Jahren beendeten Kriegs gegen Hitlerdeutschland bezeichnet und mit dieser Behauptung viele seiner Landsleute hinter sich versammelt, ist besonders perfide und ändert nichts an der Tatsache, dass das eigentliche Kriegsziel die Unterwerfung ist.

Prager Fenstersturz und die Folgen

Blicken wir ins ausgehende Mittelalter. Die Verbrennung des tschechischen Theologen und Kirchenreformers Jan Hus als Ketzer 1415 beim Konzil in Konstanz war der Auslöser für die blutigen und verlustreichen Hussitenkriege, mit der Veröffentlichung seiner Thesen zur Erneuerung der Kirche und wider den elenden Ablasshandel löste Martin Luther 1517 eine Bewegung aus, bei der sich Katholiken und Protestanten bis aufs Messer bekämpften. Mit dem Prager Fenstersturz begann 1618 der Dreißigjährige Krieg. Aufgebrachte Tschechen hatten zwei Statthalter des römisch-deutschen Kaisers Matthias und einen Schreiber aus dem Fenster der Prager Burg geworfen. Sie landeten weich auf einem Misthaufen, erzählt die Legende. Bei der "Defenestration" ging es um erneut um einen Glaubenskonflikt, denn Anhänger des 102 Jahre zuvor verbrannten Reformators Jan Hus forderten, dass die katholischen Habsburger, die als Könige in Böhmen herrschten, die mühsam erkämpften Glaubensfreiheiten weiterhin zu respektieren. Es kam zum Aufstand der protestantischen Stände gegen die Dominanz der katholischen Habsburger. Aus dem Konflikt entwickelte sich der bis dahin schlimmste aller Kriege in Europa.

Nach dem Friedensschluss von 1648 dauerte es Jahrzehnte, bis die Verluste ausgeglichen waren, doch da tobten bereits neue, nicht minder schreckliche Kriege. Der Spanische Erbfolgekrieg zu Beginn des 18. Jahrhundert begann wegen der Frage, wer in Madrid die Krone aufgesetzt bekommt - ein Enkel König Ludwigs XIV. von Frankreich oder ein Sohn des römisch-deutschen Kaisers Leopold I. Nach 14 Jahren und zahlreichen blutigen Schlachten war der französische Prinz Philipp von Anjou neuer König in Spanien. Die französische Furcht, vom Haus Habsburg "eingekreist" zu werden, war vom Tisch.

Neue Epoche der Weltgeschichte

Die Annahme der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zählt zu den Sternstunden der Menschheitsgeschichte, um den Titel einer berühmten Publikation von Stefan Zweig zu verwenden. erwähnen. Es gelte als "ausgemacht", so eine zeitgenössische Übersetzung ins Deutsche, dass alle Menschen gleich erschaffen und dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit, begabt sind. Die Unterzeichner der im Wesentlichen von Thomas Jefferson formulierten Unabhängigkeitserklärung, mit der sich 13 Staaten mit damals drei Millionen Einwohnern von der britischen Krone losgesagt hatten, schrieben erstmals in der Geschichte die Menschenrechte fest. Dem in London residierenden König Georg II. warfen sie vor, sich geweigert zu haben, notwendigen Gesetzen seine Zustimmung zu erteilen. Alle Warnungen vor den Folgen des Machtmissbrauchs und der Unterdrückung seien in den Wind geschlagen worden, es sei jetzt das Recht der Kolonien, ihre staatlichen Bindungen an das Mutterland zu lösen. Dieses habe einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung in den Kolonien begonnen, "unsere Seen geplündert, unsere Küsten verheert, unsere Städte verbrannt, und unser Volk ums Leben gebracht". Außerdem seien ausländische Söldner ins Land gebracht worden, um die Werke des Todes, der Zerstörung und Tyrannei zu vollführen, "die bereits mit solchen Umständen von Grausamkeit und Treulosigkeit angefangen worden, welche selbst in den barbarischen Zeiten ihres Gleichen nicht finden, und dem Haupt einer gesitteten Nation gänzlich unanständig sind". Schließlich sei versucht worden, die Indianer in diesen Kampf einzuspannen. So schön Unabhängigkeitserklärung formuliert war, so schwierig war ihre Umsetzung. Denn in der Praxis waren und sind auch heute Menschen anderer Hautfarbe und solche mit anderer Religion diskriminiert und Verfolgungen ausgesetzt.

Nach der Erstürmung der Pariser Bastille am 14. Juli 1789 dauerte es noch drei Jahre, bis sich Frankreich zur Republik erklärte und König Ludwig XVI. formal abgesetzt und zum "Bürger Capet" degradiert war. Vergeblich hatten Royalisten vom Exil aus und ausländische Mächte versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den Monarchen in seine alten Rechte einzusetzen. Doch die überwiegende Mehrheit der Franzosen war mit der Bourbonenherrschaft und dem Schmarotzertum am Hof von Versailles fertig und wünschte sich inbrünstig, dass das Motto "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" Realität wird. Um die lange Königsherrschaft zu beenden, beschloss der Nationalkonvent am 21. September 1792 in Paris, dass Frankreich eine Republik wird und eine neue Zeitrechnung bekommt. Über die Kanonade von Valmy am 20. September 1792, die die Truppen der antirepublikanischen und königsfreundlichen Verbündeten zum Stehen und bald darauf zum Rückzug gezwungen wurden, soll Johann Wolfgang von Goethe als Begleiter des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar gesagt haben "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Ob Goethe die weltgeschichtliche Bedeutung des Ereignisses wirklich erkannt und den Ausspruch so getan hat, wird von der Literaturwissenschaft bezweifelt.

Napoleon I. erlebte sein Waterloo

Nach den Befreiungskriegen gegen das napoleonische Frankreich und seine Verbündeten von 1813 bis 1815 bestimmten die europäischen Siegermächte Russland, Österreich, England, Preußen beim Wiener Kongress über Frankreichs weiteres Schicksal. Kaiser Napoleon I., der eine ganze Epoche geprägt hatte, wurde ins Exil auf die Insel Elba geschickt, kam aber bald zurück, versuchte noch einmal sein Glück und verspielte es endgültig. Russland und England, Österreich und Preußen zeichneten die Landkarte neu und restaurierten und zementierten die feudalen Machtverhältnisse in Europa. Die antinapoleonische Koalition vermochte es nur mit großen Anstrengungen, ihn während seiner "Herrschaft der hundert Tage" in die Schranken zu weisen. Er erlebte am 18. Juni 1815 sein sprichwörtliches Waterloo (Belle Alliance), die nach der Entscheidungsschlacht in Belgien zum Synonym für eine militärische und politische Niederlagen wurde, und starb 1821 auf der fernen Insel Sankt Helena.

Dass irgendwann in der preußischen Haupt- und Residenzstadt Berlin ein Aufstand ausbrechen würde, war in den 1840er Jahren abzusehen. Am 24. Februar 1848 war in Frankreich die Königsherrschaft gefallen und die Republik ausgerufen worden. Um Kopf und Krone fürchtete König Friedrich Wilhelm IV., und so ließ er nach dem Motto "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" seine Truppen gegen die Aufrührer aufmarschieren. Sie hatten am 18. März 1848 in Berlin Barrikaden aufgerichtet und lieferten sich mit den Soldaten des Königs blutige Straßenschlachten. Hunderte Todesopfer wurden auf beiden Seiten der Barrikaden gezählt. Zwar verneigte sich der Monarch am 19. März 1848 vom Balkon des Berliner Stadtschlosses vor den Toten, die in einem langen Trauerzug an ihm vorbei hinaus zum Friedhof der Märzgefallenen getragen wurden. In seinem Aufruf "An meine lieben Berliner" behauptete der um seine Herrschaft besorgte König wider besseren Wissens, eine "Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend" habe das Blutvergießen verursacht. Ähnlich dachten andere Herrscher im damaligen Deutschen Bund und in Europa, die ebenfalls von Aufständen und Freiheitskämpfen betroffen waren.

Die Revolution von 1848/49 erreichte zwar bei Weitem nicht ihre Ziele, aber sie lehrte die damals herrschenden Cliquen das Fürchten. Und sie brachte den Entwurf einer Reichsverfassung hervor, in der es unter anderem heißt: "Vor dem Gesetze gilt kein Unterschied der Stände. Der Adel als Stand ist aufgehoben. Alle Standesvorrechte sind abgeschafft. Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Alle Titel, insoweit sie nicht mit einem Amte verbunden sind, sind aufgehoben und dürfen nie wieder eingeführt werden." Zwar wurde die Reichsverfassung 1851 aufgehoben, als die deutschen Fürsten wieder fest im Sattel saßen, aber manche Prinzipien wurden in spätere Verfassungen übernommen und sind auch heute im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert.

Keim neuer Katastrophen

Einer Zeitenwende gleich kommt die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. am 18. Januar 1871 Spiegelsaal des Schlosses von Versailles gleich. Mitten im Deutsch-französischen Krieg war es dem preußischen Ministerpräsidenten und alsbaldigen Reichskanzler Otto von Bismarck gelungen, seinem Herrn die Rangerhöhung schmackhaft zu machen. Das Thema stand schon lange auf der Tagesordnung, doch hat man das Volk nicht gefragt, ob das neue Staatsoberhaupt ein König oder anderer Fürst und das geeinte Deutschland weiterhin eine Monarchie und nicht eine Republik sein soll, wie in der Revolution von 1848/49 gefordert wurde. Nicht mehr zu übersehen war für die damals Herrschenden, dass sich das "Volk" nicht mehr alles gefallen lässt und sich ungeachtet vielfältiger Unterdrückungsmaßnahmen eine starke Arbeiterbewegung entwickelte. Es sollte nach der Reichseinigung "von oben", also ohne Beteiligung der Bevölkerung, noch 47 Jahre dauern, bis im Ergebnis des Ersten Weltkriegs die elende Fürsten- und Standesherrschaft im Orkus der Geschichte verschwunden war. Aber schon zogen neue dunkle Wolken am Horizont auf, und die Ergebnisse dieses Krieges bargen bereits den Keim neuer Katastrophen ungekannten Ausmaßes in sich.

10. Mai 2022

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