Republikgeburtstag ohne Feierlaune
Stasi und Volkspolizei machten sich rund um den 7. Oktober 1989 über friedliche Demonstranten her, und es kam zu massenhaften Zuführungen



Unter dem Schutz von Mielkes Truppen konnte sich Erich Honecker alles erlauben. Er war keiner Kontrolle unterworfen und niemandem rechenschaftspflichtig - bis seine Untertanen wenn nicht auf die sprichwörtlichen Barrikaden so aber massenhaft auf die Straße gingen und mit ihren Protesten dem morschen SED-Regime den letzten, tödlichen Stoß versetzten. "Zwerg Allwissend", wie man den Stasiminister Erich Mielke hinter vorgehaltener Hand nannte, besaß Material gegen seinen Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden und hütete den jetzt in der Gedenkstätte auf dem Stasigelände in Berlin-Lichtenberg gezeigten "Roten Koffer" wie seinen Augapfel, falls er einmal in Ungnade fallen sollte.



Die SED hatte 1989 gründlich abgewirtschaftet, ihr Parteisymbol verschwand schnell aus der Öffentlichkeit wie hier am 23. Januar 1990 von der Fassade des Zentralkomitees, und kaum jemand weinte ihm eine Träne nach, wie Honecker mit Blick auf DDR-Flüchtlinge formuliert hatte. Heute ist in der ehemaligen Reichsbank aus der NS-Zeit das Außenministerium untergebracht. Sich mit dem "Bonbon" am Revers zu schmücken war auch nicht mehr anzuraten.





Von ihrem auch Runde Ecke genannten Hauptquartier in Leipzig steuerte die Stasi die Überwachung der Bevölkerung und alle anderen Unterdrückungsmaßnahmen, und hier gingen im Herbst 1989 alle Informationen über die Massendemonstrationen ein, die Honeckers "Schild und Schwert" sich nicht traute, im Stil des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens niederzuschlagen. Heute ist das frühere Versicherungsgebäude eine gut besuchte Gedenk- und Bildungsstätte.



Seit Ende der 1980er Jahre gab es in der DDR Zentrale Zuführungspunkte, um protestierende Regimegegner zu inhaftieren. Einer dieser Orte des Schreckens befand sich auf dem Gelände des Ostberliner Strafgefängnisses an der Hauptstraße in Rummelsburg. 2014 gab es dazu eine Open-Air-Ausstellung.



Im Herbst 1989 gingen Bilder von Protestveranstaltungen und Fürbittgottesdiensten in der Erlöserkirche im Berliner Ortsteil Rummelsburg um die Welt.



Überall im ehemaligen Ostsektor von Berlin erinnern solche Stelen an die Friedliche Revolution. Diese stehen vor der Samariterkirche und der Zionskirche sowie auf dem Alexanderplatz. (Fotos/Repros: Caspar)

Innigster Wunsch von Erich Honecker war es, dass die DDR an ihrem 40. Jahrestag, dem 7. Oktober 1989, als strahlender Sieger der Geschichte dasteht, als ein Land, in dessen vierzigjähriger Geschichte sich die vierzigjährige Niederlage des deutschen Imperialismus und Militarismus manifestiert. Da passte es nicht ins Bild, dass in Berlin und anderswo tausende Menschen gegen offenkundige Lügen und Zwangsmaßnahmen gegen Oppositionelle protestierten. An jenem 7. Oktober 1989 und danach wurden tausende Menschen von der Straße weg verhaftet und "zugeführt". In einem handgeschriebenen Zettel, der von Berlinerinnen in einem Berliner Wohngebiet verbreitet wurde, wird gefordert "Werdet aktiv! Tausende Bürger verlassen unser Land, Demonstrationen werden niedergeknüppelt, eine Opposition ist illegal. Eine greise starre Regierung feiert sich in unglaublicher, verdächtiger Weise (Fackelzug usw.), stellt sich: blind - taub - stumm. Nur wenn wir alle endlich den Mund aufmachen und gemeinsam handeln, gibt es für unser krankes Land Hoffnung".

"Aufscheinen von Widerstandsgeist"

Im Vorfeld der mit riesigem propagandistischem Aufwand vorbereiteten Geburtstagsfeier hatten die Sicherheitsorgane genau festgelegt, was beim "Aufscheinen von Widerstandsgeist" zu tun ist. Stasi-Minister Mielke befahl am 5. Oktober 1989 in einem Fernschreiben an die Leiter der MfS-Diensteinheiten nachdrücklich, "die Anreise aller Personen, von denen Gefahren ausgehen können, nach der Hauptstadt der DDR, Berlin, während des Aktionszeitraums unter Nutzung aller Möglichkeiten und mit allen Mitteln zu verhindern". Die Wirksamkeit aller Vorkehrungen und Maßnahmen zur Sicherung der Veranstaltungen seien mit dem Ziel des rechtzeitigen Erkennens jeglicher provokatorisch-demonstrativer Handlungen, der Formierung und Ansammlung feindlich-negativer Kräfte nochmals gründlich zu überprüfen, und es seien weitere Reservekräfte bereitzustellen.

Wer nun war der "Gegner", der sich in Plauen, Leipzig, Berlin, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Halle, Erfurt, Potsdam und anderswo zusammengerottet hatten, wie Erich Honecker am 8. Oktober 1989 in einem Fernschreiben an die 1. SED-Bezirkssekretäre formulierte, um gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen unseres sozialistischen Staates vorzugehen? Gab es überhaupt Krawalle, und was geschah mit den Verhafteten? Wir sind ziemlich genau über die Vorgänge rund um den 7. Oktober 1989 informiert, es gibt erschütternde Berichte von Demonstranten über die Brutalität und die Menschenverachtung, die von Stasi-Leuten und Volkspolizisten bei der so genannten Zuführung an den Tag gelegt wurden. Im Oktober 1989 veröffentlichte der Berliner Maler und Grafiker Manfred Butzmann eine hektografierte Broschüre mit dem Titel "Ich zeige an. Berichte von Betroffenen zu den Ereignissen am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin".

Prügelnde Polizisten und Stasileute

Das 150-seitige Heft enthält zahlreiche Gedächtnisprotokolle von Frauen, Männern und Jugendlichen, die auf Lastkraftwagen regelrecht geprügelt wurden und stehend, die Gesichter zur Wand gerichtet wie Schwerverbrecher in Garagen und auf kalten Gefängnisgängen ohne zu essen und zu trinken und ohne dass sie auf die Toilette gehen durften festgehalten wurden. Die Berichte der betreffenden Personen sind ebenso präzise wie glaubwürdig, sie wurden von Butzmann, der selber zu den Zugeführten gehörte und geschlagen wurde, und anderen zur Grundlage einer Anzeige gemacht. Es soll Volkspolizisten gegeben haben, die die Beteiligung an den Einsätzen abgelehnt haben. "Beweisen wir auch ihnen unsere Solidarität, wie sie auch uns bewiesen wurde, von Christen, von Kollegen und Genossen, Genossen also, deren Mitgefühl größer war als ihre Parteidisziplin."

Aus den noch ganz unter dem Eindruck der Prügeleien, des stundenlangen Wartens in zugigen Räumen, der Beleidigungen, des Entzugs von Essen und Trinken sowie unbeschreiblicher hygienischer Zustände im Gefängnis Rummelsburg und an anderen Orten geht klar hervor: Hier wollte das Regime Stärke zeigen und abschrecken. Es machte keinen Unterschied zwischen Randalierern, die es auch gab und die es auf Prügeleien abgesehen hatten, und friedlichen, ihre von der Verfassung garantierten Rechte einfordernden Bürgern, die zufällig im Stadtbezirk Prenzlauer Berg in eine Menschenansammlung geraten waren oder, weil sie mit ihrer Kleidung oder Frisur von der Stasi als feindlich-dekadent ausgemacht worden waren.

Sprechverbot, Verletzungen, Hunger und Durst

Aus den Berichten ist immer das Gleiche zu erfahren: Verhaftung ohne Begründung, Sprechverbot unter Androhung von Schlägen während der Fahrt zum Zuführungsort, dort stundenlanges Warten stehend mit dem Gesicht zur Wand oder in überfüllten Zellen, Leibesvisitationen und erniedrigende Verhöre - und irgendwann Entlassung ohne ein Wort des Bedauerns un der Entschuldigung. Eine schwangere Frau berichtete von Schlägen gegen ihren Bauch, eine andere Frau wurde geschlagen, als sie forderte, zu ihrem Kind gelassen zu werden. "Als sie dann laut weinte und weiter nach ihrem Kind rief, wurde sie aus der Zelle geholt, vor unseren Augen mit äußerster Brutalität zu Boden geprügelt, wobei sie von einem Polizisten am Genick festgehalten und zu Boden geworfen wurde und die anderen beiden wahllos mehrere Minuten auf sie einschlugen. Als ich nach 24 Stunden Gewahrsam zusammen mit mehreren Frauen darum bat, einen Anwalt sprechen zu dürfen, da uns der Anwalt lt. Verfassung der DDR zusteht, wurde uns von einem VP-Meister erklärt: ,Die Verfassung der DDR interessiert mich nicht, Rechte haben Sie hier unten gar nicht, und das Gesetz mache ich selber".

Eine andere Person berichtete in dem Dossier, obwohl die in Rummelsburg Inhaftierten auf ihre Verletzungen aufmerksam gemacht hätten, sei ihnen ärztliche Betreuung versagt worden. Ein Inhaftierter, der sich als polnischer Staatsbürger auswies, sei verhöhnt worden, als er verlangte, seine Botschaft zu benachrichtigen. "Es ist wohl nicht möglich, alle Eindrücke dieser widerrechtlichen Verhaftung zu schildern. Auch ich habe mich bemüht, nur Fakten niederzuschreiben, die ich am eigenen Leibe verspürt oder mit den Sinnen wahrgenommen habe. Unbeschrieben bleiben die Gefühle der Erniedringung, der Müdigkeit, des Gestanks, des Sauerstoffmangels, des Durstes, des Hungers. Unbeschrieben blieb auch der Beistand der Inhaftierten untereinander, die tiefe Solidarität, die Hoffnung, dass die Willensbekundung am 8. 10. 1989 uns einen Schritt weiter in die Richtung einer menschenwürdigeren und lebenswürdigeren Gesellschaft gebracht hat."

Am 17. Januar 1988 hatten Bürgerrechtler und Ausreisewillige geplant, sich gegen sich mit regimekritischen Transparenten in die alljährlich offizielle Luxemburg-Liebknecht-Demonstration mit Honecker an der Spitze einzureihen. Von Spitzeln über diese Aktion informiert, verhaftete die Stasi mehr als 100 Personen, die nach Rummelsburg kamen. Auch später spielten die Zuführungspunkte wie das ehemalige Arbeits- und Erziehungsbaus aus der Kaiserzeit in Rummelsburg eine wichtige Rolle bei dem Versuch, Proteste zu unterdrücken. Das betraf auch diejenigen, die gegen die von der SED gefälschte Kommunalwahl vom 7. Mai 1989 protestierten und von der Stasi als "feindlich-negativ" eingestuft wurden. Ziel war es, unangepasste DDR-Bewohner einschüchtern und mundtot zu machen, kurzum aus dem "Verkehr" zu ziehen, um noch einmal den Stasijargon zu bemühen. Inhaftierte Personen berichteten von gebrochenen Nasenbeinen und blauen Augen, die ihnen mit Polizeiknüppeln zugefügt wurden. "Ich sah, wie eine Hetzjagd auf eine Schwangere begann und wie eine etwa 40-jährige Frau mit dem Kopf gegen eine Häuserwand geschlagen wurde. Eine andere wurde mit dem Knüppel auf die Brust geschlagen, um ihre Haltung zu korrigieren."

Von der SED-Herrschaft die Schnauze voll

Die so genannten Zuführungen und weitere Drangsalierungen haben, das steht außer Frage, viele Menschen, die bisher loyal zur SED und ihrem sozialistischen Staat standen, um den damaligen Jargon zu verwenden, in tiefe Zweifel an der Richtigkeit dessen gestürzt, was offizielle Staats- und Parteipolitik war. Mielkes Schlägertrupps sorgten dafür, dass die Zahl derer weiter zunahm, die von der SED-Herrschaft die "Schnauze voll" hatten, um es drastisch auszudrücken. Zerknirscht gestand auf der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED am 10. November 1989 der Generalstaatsanwalt der DDR und Kandidat des Zentralkomitees, Günter Wendland, er habe noch niemals "so etwas" untersuchen müssen. Im Zusammenhang mit den Ereignissen um den 7. Oktober sei es zu Übergriffen der Schutz- und Sicherheitsorgane gekommen. "Das waren insbesondere Tätlichkeiten, aber auch Verhaltensweisen gewesen, die die Würde der einzelnen verletzten, im Gewahrsam, bei der Zuführung. Es gab Personen, die geschlagen wurden, lange Zeit zum Stehen in zum Teil körperlich schmerzhaften Stellungen gezwungen wurden und die auch erniedrigt wurden." Die hohe Zahl der zugeführten Personen habe zu Staus geführt, so dass ihre Unterbringung auf Fahrzeugen, Garagen und anderen, auch ungeeigneten Räumen geschah, zum Teil ohne Sitzmöglichkeiten und unter unzureichenden sanitären Bedingungen. Exakte Festlegungen über den Gewahrsam und die Unterbringung von Personen in Gewahrsamsräumen seien nicht eingehalten worden. Ein Wort des Bedauerns und der Entschuldigung an die Adresse der in die Fänge der Stasi und Polizei als deren verlängerter Arm geratenen Menschen kam dem Generalstaatsanwalt nicht über die Lippen, lediglich die lapidare Bemerkung, dass er sich gewünscht hätte, eine andere Rede vor dem Zentralkomitee halten zu können.

6. Juli 2022

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