Mit bloßen Fäusten gegen Panzer
Bild- und Texttafeln informieren Unter den Linden und an anderen Orten über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953



Auf Bild-Text-Tafeln werden bis 19. Juni 2023 an verschiedenen Stellen in Berlin Ursachen, Verlauf und Folgen der ersten Erhebung im sowjetischen Machtbereich wenige Wochen nach Stalins Tod geschildert. Hier und an anderen Stellen in Berlin ist das Logo des diesjährigen Gedenkens zu sehen.





Siebzig Jahre nach den dramatischen Ereignissen des 17. Juni 1953 und danach können die Berlinerinnen und Berliner und Gäste der Stadt an historischen Orten wie hier Unter den Linden gegenüber der Russischen Botschaft nachempfinden, was damals geschah. Die Fotografien zeigen, wie die Menschen mit dem Mut der Verzweiflung und der Hoffnung auf bessere Zeiten im Angesicht von Panzern für Freiheit und Demokratie, deutsche Einheit und Anschaffung der SED-Diktatur protestierten.



Eine Mahnwache neben der Gedenkstätte Unter den Linden prangert Putins Krieg gegen die Ukraine an. Sie soll so lange vor der Russischen Botschaft bestehen, bis die Aggressoren abgezogen sind.



SED-Chef Walter Ulbricht und seine Genossen hatten allen Grund, sich vor 70 Jahren um ihren Kopf zu sorgen, doch dann holten sie die Rote Armee, die den Aufstand wenige Wochen nach Stalins Tod brutal niederschlug. Dass das Time-Magazin ihn als eine Art Gefängniswärter porträtierte, dürfte dem um Volksnähe bemühten Oberstalinisten mit der Fistelstimme kaum gefallen haben.



Die ostdeutsche Propaganda diffamierte den Volksaufstand mit etwa einer Million Demonstranten zwischen Kap Arkona und Vogtland als faschistischen Putschversuch. Dazu gehörte auch, dass die Niederschlagung als Friedenstat der Roten Armee gelobt wurde.





Arbeitsniederlegungen und gewaltsame Auseinandersetzungen wie am 17. Juni 1953 in Berloin und auch in Leipzig (Foto darunter) gab es im Wendejahr 1989 zwar nicht, aber dafür gingen die Leute massenhaft demonstrierend auf die Straße und brachten das marode SED-System zu Fall.



In der DDR wurde der 17. Juni als faschistischer, vom Westen gesteuerter Putschversuch diffamiert, die westdeutsche Briefmarke feiert ihn als Versuch, in der DDR Freiheit und Demokratie zu erkämpfen. (Fotos/Repros: Caspar)

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR brachte die SED-Herrschaft ins Wanken. Über eine Million Menschen quer durch das Land beteiligten sich vor 70 Jahren an den Protestaktionen, die als Bauarbeiterstreik im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain begannen. Auslöser war die von der Regierung verfügte Erhöhung der Normen. Damit wollte die SED-Führung unter Walter Ulbricht von den Arbeitern mehr Leistung erzwingen, war aber nicht bereit, dafür auch mehr Geld zu zahlen und auch für eine spürbare Verbesserung der Lebens- und Wohnverhältnisse zu sorgen. Überall in der DDR wurde für die Rücknahme der Normen, den Rücktritt der von Otto Grotewohl geführten Regierung sowie freie und geheime Wahlen und überhaupt Demokratie, die diesen Namen verdient, und nicht zuletzt Abschaffung der Zensur und Abzug der sowjetischen Besatzer demonstriert. Zu diesen Forderungen kamen die nach der Wiedervereinigung und die Beseitigung der Privilegien für „SED-Bonzen“ und ihre Helfershelfer.

Behandlung nach den Kriegsgesetzen

Da Ulbricht und Genossen auf die Forderungen nicht eingingen und, ihr politisches Ende bereits vor Augen, nach der Roten Armee riefen, eskalierten die Ereignisse. Der sowjetische Stadtkommandant erklärte den Ausnahmezustand über den Ostteil der Viersektorenstadt und drohte, Zuwiderhandlungen würden „nach den Kriegsgesetzen“ behandelt, mit anderen Worten, es treten Standgerichte in Aktion. Gewalt gegen Gewalt war das Motto, und es kamen auf beiden Seiten der Barrikaden viele Menschen ums Leben. Zu ihnen gehörten auch Angehörige der Roten Armee, die exekutiert wurden, weil sie sich weigerten, auf deutsche Arbeiter zu schießen.

Die westlichen Besatzungsmächte und die Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer waren von den Ereignissen überrascht. Um nicht einen bewaffneten Konflikt mit der Sowjetunion, gar einen Dritten Weltkrieg zu riskieren, erlegten sie sich große Zurückhaltung auf und kamen auch den bedrängten Ost-Berliner Arbeitern nicht zu Hilfe, wie hätten sie es auch tun können? Für Adenauer waren Ereignisse ein Grund, die „Westbindung“ der Bundesrepublik Deutschland weiter zu verstärken. Eine ähnlich passive Haltung legte der „Westen“ auch 1956 beim Aufstand in Ungarn und 1968 beim Einmarsch der Sowjets und ihrer Verbündeten in die CSSR an den Tag, als dem „Prager Frühling“ ein blutiges Ende bereitet wurde.

Beschleunigter Aufbau des Sozialismus

Die Ursachen für den 17. Juni 1953 waren vielfältiger Art. Die damals auch für SED-Mitglieder überraschende Forderung von Parteichef Walter Ulbricht, den Sozialismus in der DDR „beschleunigt“ aufzubauen, den Klassenkampf und die Unterdrückung der Kirche zu forcieren, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Enteignung von Gewerbetreibenden ohne Rücksicht auf Verluste voranzutreiben und außerdem weitere Einschränkungen im ohnehin dürftigen Lebensstandard zu akzeptieren, traf sogar im Machtzentrum auf Skepsis. Der 17. Juni 1953 wurde von der DDR-Propaganda als „Tag X“ als faschistischer Putsch diffamiert. Schuld seien vom Westen aus gesteuerte Provokateure, die die Herstellung der Einheit Deutschlands erschweren wollen – natürlich eine Einheit unter kommunistischen Vorzeichen.

Das Thema war in der DDR offiziell tabu. Angeblich habe der RIAS, der Rundfunk im Amerikanischen Sektor, die friedliebenden Bewohner des Arbeiter-und-Bauern-Staates gegen die eigene Führung aufgehetzt und sich einer „faschistischen 5. Kolonne“ in der DDR bedient. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Ursachen, dem Verlauf und den Auswirkungen fand dort nicht statt, von Analysen durch regimeferne Historiker und Dissidenten und literarischen Werken abgesehen, die nur im Westen erscheinen konnten. In der Bundesrepublik Deutschland fuhr man am „Tag der deutschen Einheit“, der dort bereits am 3. Juli 1953 als gesetzlicher Feiertag eingeführt wurde, ins Grüne und überließ es Politikern, mitfühlende Worte des Gedenkens zu sprechen.

Erinnerung stets wachhalten

In Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Aufarbeitung und dem Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur stellt die Kulturprojekte Berlin GmbH an verschiedenen Stellen in Berlin bis zum 19. Juni 2023 großformatige Fotos vom Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR aus. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner betonte in einer Ansprache vor der Installation Unter den Linden, gegenüber der Russischen Botschaft, der Aufstand stehe für den Freiheitswillen der DDR-Bewohner und darüber hinaus de deutschen Bevölkerung. Hunderttausende Menschen seien vor 70 Jahren auf die Straße gegangen, um gegen das SED-Regime und die desolate wirtschaftliche Lage in der DDR sowie für Freiheit, Demokratie und die deutsche Einheit zu demonstrieren. „Wir wollen diesem denkwürdigen Ereignis, an das bis zur Einheit in Westdeutschland ein gesetzlicher Feiertag erinnerte und das mit seiner Abschaffung zunehmend in Vergessenheit geriet, eine neue Sichtbarkeit geben. Mit der Ausstellung an verschiedenen Orten, die alle mit dem Geschehen rund um den 17. Juni 1953 zu tun haben, hoffen wir, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen“, sagte Moritz van Dülmen, Geschäftsführer der Kulturprojekte Berlin GmbH.

Neben der zentralen Ausstellung auf der Straße Unter den Linden sind weitere Orte des Aufstands mit großen Fotos markiert - der Beginn des Aufstands als Protestzug Ostberliner Bauarbeiter an der damaligen Stalinallee und heutigen Karl-Marx-Allee und ihr Ziel, dem damaligen Haus der Ministerien und heutigen Bundesfinanzministerium an der Leipziger- und Wilhelmstraße, der Potsdamer Platz als einer der Orte, an dem Fotos entstanden, auf denen sich Demonstrierende mit Steinen werfend gegen die sowjetischen Panzer zu wehren versuchten, sowie der Friedhof an der Seestraße im Westberliner Ortsteil Wedding, auf dem elf Opfer bestattet sind.

Politik gegen die Interessen der Bevölkerung

Der Volksaufstand in der DDR wurde von Panzern der Roten Armee sowie DDR-Sicherheitskräften niedergeschlagen und war danach bis zum Fall der Mauer am 9. November 1989 und dem Ende der SED-Herrschaft ein Tabu. In Ostberlin und der DDR wurden im Zusammenhang mit dem „faschistischen Putschversuch“, wie die SED-Propaganda wider besseren Wissens behauptete, mindestens 55 Menschen getötet, mehr als 15.000 wurden verhaftet. Es wurden Todesurteile vollzogen und hohe Zuchthausstrafen ausgesprochen. SED-Chef Walter Ulbricht und seine Genossen mussten einige ihrer Zwangsmaßnahmen zurück nehmen, saßen aber nach der Niederschlagung der Erhebung fester denn je im Sattel und verfolgten unverdrossen ihre verhängnisvolle Politik g e g e n die Interessen der Bevölkerung, so dass sich tausende Menschen auf die Flucht in den Westen begaben. Auf dem Höhepunkt dieses Exodus wurde ab 13. August 1961 in Berlin und entlang der innerdeutschen Grenze die Mauer gebaut. So breitete sich so etwas wie Friedhofsruhe über der DDR aus. Es dauerte dann noch 28 Jahre, bis sich die Bevölkerung in der Friedlichen Revolution von 1989 Gehör verschaffte, die Mauer am 9. November 1989 fiel und gleich darauf das SED-Regime verschwand.

Ereignisse waren in der DDR immer präsent

In der DDR war der 17. Juni 1953 zwar ein Ereignis, über das offiziell nicht gesprochen wurde, aber es war als latente Bedrohung stets präsent. Die Staatssicherheit, Polizei und Armee wurden rund um dieses Datum in Alarmbereitschaft versetzt und zu allergrößter Wachsamkeit verpflichtet. Als im Herbst 1989 die Volksbewegung gegen das SED-Regine anschwoll und SED- und Staatschef Erich Honecker zurück treten musste, hielt es Stasi-Minister Erich Mielke für möglich, dass es wie 1953 wieder zu Streiks kommen könnte. Die in einer Dienstbesprechung gestellte Frage, ob ein neuer 17. Juni ausbricht, hat ihm ein hoher Stasi-Offizier so beantwortet: „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“ Die am Abend des 9. November 1989 eher beiläufig beantworte Journalistenfrage, wann denn die Mauer geöffnet wird, beantwortete SED-Politbüromitglied Günter Schabowski eher beiläufig mit „Das gilt nach meiner Kenntnis ab sofort“. Er konnte in diesem Moment noch nicht wissen, dass das wörtlich genommen wurde und die Leute beiderseits der Grenzanlagen Durchlass verlangten und bekamen und der Arbeiter-und-Bauern-Staat, wie sich die DDR immer nannte, binnen eines Jahres Geschichte sein wird.

Der von der SED-Führung wohlwollend behandelte Dichter Stephan Hermlin gab 1980 angesichts der Gewalttaten während des 17. Juni 1953 zu bedenken, es hätte schon seltsam zugehen müssen, wenn nicht auch die Nazivergangenheit der Deutschen an diesem Tag, acht Jahre nach Zusammenbruch des „Dritten Reichs“, eine Rolle gespielt hätte. In seinem Roman „Fünf Tage im Juni“ schildert der regimekritische Schriftsteller Stefan Heym die Ereignisse im Sommer 1953 aus der Sicht der Arbeiter und des Gewerkschafters und Kommunisten Martin Witte von damals unter Beifügung authentischer Dokumente und abseits ideologischer Phrasen, welche politischen und wirtschaftlichen Zustände zu dem Aufstand geführt haben. Der die verlogene Politik von Ulbricht & Co. entlarvende Roman durfte in der DDR nicht erscheinen, sondern kam 1974 in der Bundesrepublik Deutschland und erst 1989 in der DDR heraus.

14. Juni 2023