






Das 1924, vor nunmehr einhundert Jahren an der Archivstraße im still-vornehmen Berliner Stadtteil Dahlem eröffnete Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz verwaltet die schriftlichen Hinterlassenschaften eines Staates, den es seit 1947 nicht mehr gibt. Das Kontrollratsgesetz Nummer 40 vom 25. Februar 1947 hatte dem preußischen Staat den Todesstoß versetzt. Der nach einem kleinen Herzogtum an der Ostsee in der Nachbarschaft der polnischen Krone und des russischen Zarenreichs benannte größte deutsche Territorialstaat verschwand indes nicht spurlos in der Versenkung.
Viele kulturelle Hinterlassenschaften und Einrichtungen haben das alt Preußen überlebt. Dazu gehören die Staatlichen Museen, die Staatsbibliothek zu Berlin und das Geheime Staatsarchiv. Die ehemals preußischen Kulturgüter wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Besatzungszone, seit 1949 DDR, entweder sozialistisches Eigentum oder gingen im Westen in der vom Bund und den Ländern getragenen Stiftung Preußischer Kulturbesitz auf. Diese übernahm 1990 die Ostberliner Museumsschätze, die Staatsbibliothek sowie die in Merseburg (Sachsen-Anhalt) untergebrachten Akten des Geheimen Staatsarchivs.
Zum Glück wenige Kriegsverluste
Die Anfänge des Geheimen Staatsarchivs reichen in die Zeit der brandenburgischen Markgrafen und Kurfürsten zurück, die wichtige Staatspapiere gesondert und geheim, das heißt zum Haus oder zum Herrscher gehörend, verwahrten. Im „Gewelbe aufm grünen Hut“ des Berliner Schlosses und im Hohen Haus an der Klosterstraße existierten sichere Aufbewahrungsorte für Urkunden, Korrespondenzen, Rechnungen, Gesetzestexte, Testamente und andere Schriftstücke. Aus der Registratur des 1723 vom Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. gegründeten Generaldirektoriums hat sich das Geheime Ministerialarchiv entwickelt, das 1874 mit dem Geheimen Staatsarchiv vereinigt wurde.
Erfreulicherweise ging nur ein verhältnismäßig geringer Anteil seiner Akten durch Kriegseinwirkungen verloren. Vor der Wiedervereinigung hatten es Historiker schwer, die im jeweils anderen deutschen Teilstaat verwahrten Archivalien zu studieren. Nachdem die in Merseburg liegenden Bestände des dem DDR-Innenministerium unterstehenden Deutschen Zentralarchivs II Historische Abteilung 1993 und 1994 nach Berlin zurückgeschafft wurden, steht das Schriftgut wieder uneingeschränkt zur Verfügung.
Hinterlassenschaften auf 35 Kilometern
Zwar steht über dem am 26. März 1924 in Anwesenheit des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun eröffneten Archivgebäude in Dahlem die Inschrift „Preußisches Geheimes Staatsarchiv“, doch geheim ist hier nichts. 35 laufende Kilometer Archivgut zentraler Behörden und Ministerien des preußischen Staates können uneingeschränkt gelesen und ausgewertet werden, desgleichen die Unterlagen aus den ehemals preußischen Ostprovinzen, soweit sie wie etwa die ältere Überlieferung des Staatsarchivs Königsberg im Frühjahr 1945 in den Westen gerettet werden konnten. Hinzu kommen Nachlässe einzelner Persönlichkeiten und Familienclans. Wer etwa über den ostelbischen Landadel und seine Güter arbeiten möchte, findet hier wichtige Materialien.
Im Lesesaal steht eine umfangreiche Handbibliothek mit Publikationen zur Landesgeschichte, aber auch über das Haus Hohenzollern und einzelne Mitglieder der Herrscherfamilie. Eingesehen können hier auch die handgeschriebene und gedruckte Dekrete der Regierungen sowie Protokolle der Parlamente und Akten, die einzelne Ministerien in der Kaiserzeit und davor angelegt haben. Die fragilen Blätter stehen nicht immer im Original zur Ansicht. Umsie zu schützen, hat man sie verfilmt und digitalisiert, so dass ihre Nutzung gewährleistet ist.
„Alle Berliner sind faul und stehlen“
Oft bereitet das Lesen der geschriebenen Briefe und Dokumente, darunter auch der berühmt-berüchtigten Bemerkungen Friedrichs II., des Großen, am Rand der ihm vorgelegten Akten und Briefe Probleme. Aber dann helfen Archivare beim Entziffern von Randbemerkungen wie: „Alle Religionen seindt gleich und guht wen nuhr die läute so sie profesiren Ehrliche leudt seindt, und wen Türcken und Heiden Kähmen und Wolten das landt Pöpliren, so wollen wir (für) sie Mosqueen und Kirchen bauen“ oder „Alle Die berliner Seindt faul die lieber stellen (stehlen, H. C.) als arbeiten wollen“. Eine andere Notiz stellt fest: „Wan die Justiz Ungerechtigkeiten tuhet ist Sie Schlimmer wie Strasen Räuber, ein Müler ist wie ein Mensch Eben So Guht wie ich bin.“ Dieses Bekenntnis vom 19. Dezember 1779 bezieht sich auf die Aufhebung eines vom König als ungerecht angeprangerten Urteils gegen einen Müller in der Neumark, der mit Gutsbesitzern im Streit lag.
Die wie königliche Kontoauszüge wirkenden Schatullrechnungen vermitteln interessante Einsichten in das finanzielle Gebaren des Herrschers, und sie dokumentieren seinen Hang zum Luxus, zu kostbaren Möbeln, Gemälden, antiken Figuren sowie edlen Raumausstattungen à la Rokoko, aber auch seine Liebe für teure Speisen und Weine, exotisches Obst und edles Tafelgeschirr. Außerdem zeigen sie, dass sich der königliche Flötenspieler und Komponist die Beschäftigung ausgewählter Musiker und Tänzer viele tausend Taler kosten ließ, während er Bittgesuche von armen Witwen und Kriegsinvaliden um ein paar Taler Unterstützung rüde mit dem Hinweis auf seine leeren Kassen abwies. Er habe nichts zu verschenken, beschied er die Bittsteller, wenn sie um eine milde Gabe nachsuchten, etwa um ihre Söhne studieren zu lassen, oder wenn es um einen Kredit für die Gründung einer Manufaktur ging. Auf der anderen Seite öffnete Friedrich II. seine Taschen, wenn verschuldeten Gutsbesitzern geholfen und wenn Handwerker und Bauern aus fremden Ländern angesiedelt werden mussten. Für die Urbarmachung sumpfiger Landstriche an der Oder stellte der König viele tausend Taler zur Verfügung, wofür man ihm dort bis heute dankbar ist. Er zahlte, wenn Not am Manne war, aus seiner Schatulle erhebliche Summen, um den Hunger seiner Untertanen zu stillen oder die Folgen von Bränden und Überschwemmungen zu lindern.
König ist doch kein Krämer
Selbst Vertraute konnten sich nicht sicher sein, dass der König ihre Wünsche erfüllte. „Sie schreiben mir von Wachslichtern und hier spricht man von Heringen. In der Tat, darum verlohnte es sich, Krieg zu führen, dass ich auf meine alten Tage zum Krämer werden soll. Ich gehe auf das große Ganze, mein Lieber, ich ordne den Münzfuß und andere Dinge von größerer Bedeutung für den Staat; Brot und Fleisch gehören zu dieser Kategorie, aber Heringe, Stiefel und Wachslichter werden von selbst in Ordnung kommen, wenn die Hauptsache geregelt ist“ ließ er seinen Kammerherrn Jean Babtiste d’Argens nach dem Siebenjährigen Krieg am 14. April 1763 wissen.
Aus Platzmangel sind große Teile der Bestände im Berliner Westhafen eingelagert. Jeder Transport der Akten in Aluminiumkisten von dort nach Dahlem zehrt an der Substanz, jedes Bremsen des Autos, jede feuchte Wetterlage, jedes Umblättern oder Kopieren. Paradoxerweise sind die ältesten Unterlagen, etwa Pergamenturkunden aus der Zeit der Markgrafen oder kurfürstliche Kanzleischriften aus lumpenhaltigem Bütten vergleichsweise widerstandsfähiger als die Industriepapiere, die ab 1850 aus einer holzschliffhaltigen Masse hergestellt wurden. Sie zu erhalten, stellt Restauratoren vor große Aufgaben, die nur mit erheblichem finanziellen Aufwand bewältigt werden können. Das Problem kennt man auch in der Zeitungs- und Zeitschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, die auch im Westhafen angesiedelt ist.
Einsatz moderner Technik bei Erschließung der Akten
Da sich der Zustand der Akten mit den Jahren verschlechtern wird und um sie bequemer nutzen zu können, werden sie nach und nach verfilmt und digitalisiert. Den Filmstreifen wird eine Haltbarkeit von etwa 150 Jahren zugeschrieben. Das Geheime Staatsarchiv arbeitet mit Hochdruck und Einsatz moderner Technik seine Bestände weiter auf, legt neue Findbücher an und stellt Archivalien ins Internet. Solche Wegweiser und Datenbanken erleichtern Lesern in aller Welt den Zugang zu bestimmten Schriftstücken. Bestandsinformationen vermitteln einen Überblick über die Aktengruppen einschließlich der aus Merseburg zurückgekehrten Archivalien.
Für Berufs- und Laienforscher ist es nicht allzu schwer, Leser des Geheimen Staatsarchivs zu werden. Anträge müssen ausgefüllt, Aktenwünsche benannt werden. Archivare helfen, anhand der Findbücher und im Computer die Unterlagen zu beschaffen. Man kann einen tragbaren Computer in den am Montag, Mittwoch bis Freitag von 8 bis 15.30 Uhr und Dienstag bis 19.30 Uhr geöffneten Lesesaal mitbringen, und wo es sich machen lässt, werden auch Kopien von Archivgut angefertigt. Allerdings müssen sich Benutzer auf Wartezeiten wegen der Transporte einstellen, und sie müssen auch damit rechnen, dass bestimmte Akten nicht mehr vorhanden sind. So sind Bestände des Brandenburg-Preußischen Hausarchivs schon 1943 bei der Bombardierung des Charlottenburger Schlosses verbrannt, wo man sie eingelagert hatte. Und auch bei der Plünderung des kriegsbeschädigten Archivs in Dahlem durch marodierende Rotarmisten wurde viel zerstört.
20. Juni 2024
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