„Deutschland, wir weben dein Leichentuch...“
Hungerkrisen und andere Katastrophen lösten im 19. Jahrhundert einander regelmäßig ab



König Friedrich Wilhelm IV. und seine fürstlichen Standesgenossen zeigten sich von Hungerkrisen und Kartoffelkrawallen unbeeindruckt und setzten ihre Soldaten gegen die Aufrührer, wie man sagte, in Marsch. Während der Märzrevolution von 1848 zog der König von Preußen erst den Hut vor den Menschen, die seine Soldaten erschossen hatten, um dann, als er wieder fest im Sattel saß, die Huldigungen seiner Untertanen entgegen zu nehmen.



Im Volkspark am Berliner Weinbergsweg (Prenzlauer Berg) erhebt sich das von Waldemar Grzimek geschaffene Denkmal Heinrich Heines aus dem Jahr 1956. Der Dichter hatte in der preußischen Hauptstadt studiert und der Stadt mit seinen „Briefen aus Berlin“ eine ironisch-kritische Liebeserklärung verfasst. Ein Zweitguss des Denkmals steht im Kastanienwäldchen hinter der Neuen Wache und neben der Humboldt-Universität an der Straße Unter den Linden.



Die Zinnmedaille von 1847 erinnert an die rasante Preissteigerungen in der Zeit des Vormärz. Andere Medaillen aus billigem Material wollen mit Sprüchen wie „Verzaget nicht Gott lebet noch“ und „Groß ist die Not -O Herr erbarme dich“ Trost spenden.



Anonyme Pamphlete und Karikaturen griffen vor und nach 1848 die in Saus und Braus lebenden Fürsten und die anderen Nutznießer von Ausbeutung und Unterdrückung scharf an. Wer damit erwischt wurde, kam ins Gefängnis.



Unter dem Eindruck des Dramas von Gerhart Hauptmann „Die Weber“ schuf Käthe Kollwitz 1893 den Grafikzyklus „Ein Weberaufstand“. Ungeachtet der Mühen der Zensurbehörden, die vom Aufruf zum Klassenhass sprachen, und mehreren Prozessen um die Aufführungserlaubnis wurden das Stück und Kollwitz' anklagenden Bilder sehr schnell populär. Die schlesischen Weber treten hier als Ausgebeutete und Entrechtete der Kaiserzeit auf.



Kinderarbeit in Fabriken oder zuhause war überall im 19. Jahrhundert gang und gäbe und wurde erst nach und nach verboten, als die Schäden bei den Heranwachsenden nicht mehr zu übersehen waren. In Preußen hat man 9- bis 16-Jährige länger als zehn Stunden täglich sowie sonntags und nachts arbeiten lassen. Das Mindestalter für die Fabrikarbeit wurde 1853 auf zwölf Jahre angehoben. Es gab eine große Dunkelziffer auch in der Landwirtschaft, wo Kinder auf den Gütern für wenig Geld schuften mussten.



Wegen ihrer aufwändigen Gestaltung mit reichem Skulpturenschmuck und kostbarer Innenausstattung nannte man die Markthallen „Gemüsekirchen“. „Sich wie Bolle auf dem Milchwagen amüsieren“ wurde sprichwörtlich, ebenso der Werbeslogan der Molkerei „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind / Von Bolles Spezialitäten begeistert sind“.





Obdachlose und arme Leute bekamen in Volksküchen ein wenig Mahlzeit, heute helfen „Tafeln“, die größte Not zu lindern. (Fotos/Repros: Caspar)

Der französischen Königin Marie Antoinette wird der Ausspruch nachgesagt, wenn sich die armen Leute kein Brot leisten könnten, dann sollten sie doch Kuchen essen. Nichts entlarvt so gut die Unkenntnis der Reichen, Mächtigen und Schönen über die wirkliche Lage im Lande wie dieser Satz. Die Königin und ihr Gemahl Ludwig XVI. wurden 1793 hingerichtet, was Preußens König Friedrich Wilhelm IV. und anderen Herrschern in der Revolution von 1848/49 erspart blieb und aus der sie sogar als Sieger hervor gingen. Berlin hatte sich im 19. Jahrhundert von einer mittelgroßen Residenzstadt zu einer Metropole von Weltrang entwickelt. Zwischen 1800 und 1870 stieg die Einwohnerzahl von 180 000 auf eine Million. Durch Eingemeindungen verfügte Groß-Berlin 1920 über 3,8 Millionen Bewohner. Die Versorgung von so vielen Menschen war ein großes Problem. Die „oberen Zehntausend“ merkten kaum etwas von den sich ständig wiederholenden Hungerkrisen. Sie nahmen nicht zur Kenntnis, was sich in den Berliner Elendsquartieren und an anderen Orten abspielt.

Politische und soziale Unruhen

Die Hilfe, die karitative Vereine und die Kirchen, aber auch für das Armen- und Bettelwesen zuständigen Behörden leisteten, reichten bei Weitem nicht aus. Als nach der Reichsgründung von 1871 der Alkoholismus in den Elendsquartieren und Mietskasernenvierteln (und nicht nur dort!) überhand nahm und die Volksgesundheit und der Nachschub für das Militär gefährdet war, bildeten sich Hilfsvereine, die das Übel nicht beseitigen konnten, denn dazu waren ihre Möglichkeiten zu gering. Warnungen vor politischen und sozialen Unruhen wurden von der „Obrigkeit“ leichtfertig in den Wind geschlagen, und wer es wagte, ihr Ratschläge zu erteilen und politische Forderungen zu stellen, geriet schnell ins Visier der Polizei und Justiz und büßte damit vielfach Freiheit und Lebensunterhalt ein. Die Folge war, das Hunderttausende vor allem in die USA auswanderten und sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie man sagte, nicht selten mit großem Erfolg eine neue Existenz aufbauten.

So erging es auch dem Dichter und Publizisten Heinrich Heine, der nach Paris ins Exil gehen musste, weil er in Preußen und anderen deutschen Ländern keine Zukunft hatte. Da er Jude war, haben ihn die Nationalsozialisten zu einer Unperson gemacht , seine Bücher verboten und alles, was an ihn erinnerte, aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt. Über den Schlesischen Weberaufstand von 1844 schrieb Heinrich Heine sein Gedicht „Die schlesischen Weber“, in dem es heißt: „Im düstern Auge keine Träne, / Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: / Deutschland, wir weben dein Leichentuch, / Wir weben hinein den dreifachen Fluch - / Wir weben, wir weben! [...] Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, / Den unser Elend nicht konnte erweichen, / Der den letzten Groschen von uns erpresst / Und uns wie Hunde erschießen lässt - / Wir weben, wir weben!“ Heines Worte haben die Öffentlichkeit mobilisiert und die Mächtigen herausgefordert. Sie waren eine Reaktion auf die blutige Niederschlagung des Weberaufstände im Juni 1844 im schlesischen Peterswaldau und Langenbielau . Das Gedicht ging als Flugblatt von Hand zu Hand und wurde immer wieder nachgedruckt und avancierte zum Kampflied der Arbeitervereine.

Nahrungsmittel verdarben unterwegs

Die Nahrungsmittel, die zum Teil über viele Kilometer auf unsicheren Straßen oder Wasserwegen herbeigeschafft, manchmal auch mühsam auf krummem Rücken herangeschleppt wurden, reichten vorn und hinten nicht. Viele Menschen konnten sich nur ein Stück Brot, Kohlsuppe und Kartoffeln leisten, wenn überhaupt. Mehr war nicht möglich, Fleisch und Butter schon gar nicht. Viele Lebensmittel verdarben auf dem Weg in die Stadt. Sie zu kühlen, wurde erst im späten 19. Jahrhundert möglich. Milch galt lange Zeit als Medizin für kleine Kinder und alte Leute, Bier wurde auch deshalb getrunken, weil das Trinkwasser verschmutzt war. Erst als Berlin nach englischem und französischem Vorbild eine weit verzweigte Kanalisation erhielt, wurde auch dieses gesundheitspolitisch heikle Problem gelöst. Durch den Bau von Markthallen ließen sich die hygienischen Zustände bei der Lebensmittelversorgung spürbar verbessern. Carl Andreas Julius Bolle, der Gründer und Besitzer einer berühmten Meierei, machte das Milchtrinken populär, denn bis dahin hat man Milch nur als eine Art Medizin zu sich genommen. Seinen Spitznamen Bimmel-Bolle erhielt der Unternehmer wegen der Verkäufer, die mit kleinen Glocken durch die Straßen zogen und für ihr Angebot warben. Bolles Erfolg gründete sich wesentlich auf die Nutzung von Natureis aus dem Rummelsburger See, das als Kühlmittel verwendet wurde.

Missernten, Preissteigerungen, Hamsterkäufe und Hungerrevolten waren im 19. Jahrhundert an der Tagesordnung. Der Revolution von 1848 ging 1847 die so genannte Kartoffelrevolution voraus. Ausgelöst durch eine Missernte und sprunghaft ansteigende Lebensmittelpreise, lieferten sich die Berliner Stadtarmut mit der Polizei erbitterte Straßenschlachten. Im Oktober wandten sich die Stadtverordneten mit der Bitte an Friedrich Wilhelm IV., er möge angesichts der dürftig gefüllten Vorratskammern die für die Hersteller und wegen der Steuereinnahmen für den Staat lukrative Verarbeitung von Kartoffeln zu Branntwein verbieten. Empört wies der König das Ansinnen zurück, weil es den Abgeordneten nicht zusteht, ihm solche Vorschläge zu unterbreiten. Statt dessen wurde die Parole ausgegeben, man möge sich in Enthaltsamkeit üben und billiges Pferdefleisch essen. Die Kartoffelrevolution hatte ein Nachspiel, denn die Gerichte sprachen gegen Anführer Gefängnis- und Zuchthausstrafen in einer Gesamtdauer von einhundert Jahren aus.

Der Revolte folgte 1848 die Revolution

Als 1872 die hohen Mietpreise in der jungen Reichshauptstadt zu neuem Aufruhr führten, riet Kaiser Wilhelm I., die Vorkommnisse nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, denn der Hungerrevolte von 1847 sei ein Jahr später eine wirkliche Revolution gefolgt. An der prekären Lage auf dem Wohnungsmarkt haben die Bedenken wenig geändert. Jahrhundertelang wurden in Berlin, und nicht nur dort, Lebensmittel und andere Erzeugnisse unter freiem Himmel verkauft. Das war mit manchen Problemen verbunden, denn Fleisch, Fisch, Butter, Milch, Gemüse und andere Waren verdarben schnell. Wer dergleichen zu sich nahm, konnte sich schnell den Magen verderben und riskierte sein Leben. Deshalb wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Millionenstadt Berlin der Ruf nach Markthallen laut. 30. Januar 2024