Seismograph einer Epoche

Staatsbibliothek erinnert an Franz Kafka und seine Familie / Zehn-Euro-Münze von 2008 zum 125. Geburtstag





Die bis 2. Juni 2024 laufende Ausstellung des Kulturwerks in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz macht anhand von zahlreichen Fotografien mit der Familiengeschichte von Frank Kafka bekannt. Das von Hans-Gerd Koch herausgegebene Buch „Kafkas Familie. Ein Fotoalbum“ erschien 2024 im Verlag Wagenbach und kostet 38 Euro (ISBN 978-3-8031-3738-8 ).



Die aus kleinen Verhältnissen zu Wohlhabenheit gelangten Eltern Hermann und Julie Kafka überlebten ihren 1924 verstorbenen Sohn um einige Jahre. Dieser kommt mit Schlips und Anzug sowie korrekt gezogenem Mittelscheitel daher, und man wird nicht gleich wissen, was in diesem zu langweiligem Bürodasein verurteilten Künstler steckte und wie sehr er das literarische und kulturelle Leben seiner Zeit und der Nachwelt geprägt hat.





Frantisek Chochola gewann den Wettbewerb für die Kafka-Münze zu zehn Euro, die die Bundesrepublik Deutschland 2008 diesem Ausnahmekünstler zu seinem 125. Geburtstag gewidmet hat. Mit seiner beängstigenden Labyrinth-Vision errang Heinz Hoyer einen dritten Platz. Das Insekt am Eingang und der Apfel am Ausgang spielen auf Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ aus dem Jahr 1912 an.



Das von Jaroslav Rónas geschaffene Kafka-Denkmal aus dem Jahr 2000 (links das Prager Stadtwappen) steht im Jüdischen Viertel von Prag etwa dort, wo Franz Kafka fast sein ganzes Leben verbracht hat. Die Bronzeskulptur besteht aus einem leeren Herrenanzug und einer zweiten Figur mit Hut obenauf. Sie soll den Dichter darstellen, der mit ausgestrecktem Zeigefinger den Menschen den Weg aus Angst, Selbstzweifel und Chaos weist.







Wenn Franz Kafka durch Prag ging, hatte er den Hradschin, die Burg der böhmischen Könige und den Veitsdom, aber auch den Altstädter Ring und die Bauten im Jüdischen Viertel wie hier die Synagoge neben dem Friedhof ständig vor Augen. (Fotos/Repros: Caspar)

Die bis 2. Juni 2024 laufende Ausstellung „Das Fotoalbum der Familie Kafka“ im Kulturwerk der Staatsbibliothek Unter den Linden 8 in Berlin zeigt etwa 130 meist recht kleinen Fotos, auf denen der vor 100 Jahren verstorbene Dichter und seine umfangreiche Familie zu sehen sind. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen bringen einen Schriftsteller von Weltrang im Kreis seiner Eltern, Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins in Erinnerung und erzählen von ihrem Alltag und gesellschaftlichen Aufstieg in der k. und k.-Monarchie und der ersten Tschechoslowakischen Republik. Die Kafkas stehen beispielhaft für jüdische Emanzipation vor und nach 1918, als der junge, von Selbstzweifeln und Krankheit geplagte, zudem unterbeschäftigte Schriftsteller weitgehend unbekannt war.

Auf der 2008 ausgegebenen deutschen Kafka-Münze zu zehn Euro tauchen die markante Gesichtszüge des Schriftstellers gleichsam aus seinem Werk auf. Dieses Hervorheben und Versinken bildet nach Meinung der Jury in gelungener Form das gespannte Verhältnis des Autors zu seinen Texten ab. „Die linke Seite zeigt auf dem Münzgrund den Veitsdom, nicht nur als ein Kennzeichen dieser Stadt und als Verweis auf diesen Ort, sondern vor allem als Schauplatz in Kafkas Werken, auch als Andeutung des historisch-kulturellen Hintergrunds von Kafkas Lebensgeschichte“, befand das Preisgericht.

Labyrinthe des Lebens

Die meisten Münzentwürfe bilden das Porträt des Schriftstellers ab, den man einmal einen „Seismographen unserer Epoche“ genannt hat. Für die Situation voller Ängste und Absurditäten hat sich der Begriff „kafkaesk“ eingebürgert. Er wurde zum Synonym für bedrückende Zustände, für ein Gefühl der Verlorenheit des Einzelnen gegenüber anonymen, unbegreiflichen, unnahbaren, aber immer vor allen in Diktaturen und Überwachungsstaaten präsenten Kräften. So sieht man auf einem Modell von Heinz Hoyer, der im Wettbewerb von 2008 den dritten Platz erhielt, den Schriftsteller zusammengesunken an einem Tisch sitzend, umgeben von schräg aufgestellten Wänden, aus denen es kein Herauskommen zu geben scheint. Das einer Kafka-Zeichnung nachempfundene Motiv zeigt einen Künstler, der über sein Leben und Werk verzweifelt. Andere Münzentwürfe verzichten auf sie und spielen statt dessen auf Kafkas Welt an, auf die Gefangenschaft des Menschen in den undurchschaubaren Labyrinthen des Lebens und sein Ausgeliefertsein an anonyme Mächte.

Am 3. Juli 1883 in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie in Prag geboren, ließ er sich ungern ablichten und tat das nur, wenn er Fotos für amtliche Dokumente benötigte oder seine Berliner Freundin Felice Bauer um sie bat. Sich selber fand Kafka auf Fotografien „ohne Schuld und ohne Richtigkeit“ nie gut getroffen, weshalb die Versendung von Abzügen heraus zögerte. Es gibt nur wenige Aufnahmen, auf denen er mit Verwandten zu sehen ist, und keines gemeinsam mit den Eltern und seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brod. Das letzte Kapitel der sehenswerten Ausstellung im Anschluss an das Buchmuseum der Staatsbibliothek folgt den Biografien von Kafkas Familienangehörigen und endet mit ihrer Ermordung nach der Zerschlagung und Okkupation des Landes 1938 durch die Nationalsozialisten.

Große und bunte Verwandtschaft

Kafkas Vater Hermann hatte drei Brüder und zwei Schwestern und seine Frau Julie fünf Brüder.. Alles in allem hatte der Schriftsteller 23 Cousins und Cousinen, eine zahlreiche Verwandtschaft also, wobei die nächste Generation noch gar nicht mitgezählt ist. Er beklagt sich in seinem Tagebuch über den Lärm in der elterlichen Wohnung, und er hasste die Unruhe, die mit diesen Besuchen verbunden war. Sich ihnen zu entziehen gelang ihm nicht. Zu den Besuchen der Prager Familie kamen weitere aus dem Ausland. Es war also eine große und bunte Verwandtschaft, vor allem aber die Konflikte mit dem übermächtigen Vater, die dem jungen Dichter ihm reichlich Stoff für seine literarische Arbeit versorgten.

Franz Kafka studierte auf Wunsch des übermächtigen Vaters recht lustlos Germanistik und Jura an der Deutschen Universität in Prag und arbeitete bis zu seiner krankheitsbedingten Pensionierung als Jurist an der Arbeiter-Unfall-Versicherung in Prag, der zur österreich-ungarischen Monarchie gehörenden Hauptstadt des Königreichs Böhmen. Wie es in dem „dunklen Bürokratennest“ zuging, hat der Versicherungsangestellte mit Doktortitel seinem Freund Max Brod so geschildert: „Wie bescheiden diese Menschen sind. Sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten."

Vieles ging verloren

Die Muttersprache des Künstlers war deutsch, doch beherrschte er auch die tschechische Sprache. Bereits als Schüler begann er zu schreiben. Für ihn war das eine Möglichkeit, für eine kurze Zeit aus der unglücklichen, von Furcht vor dem dominanten Vater geprägten Familienwelt zu entfliehen. Bereits als Student hatte Kafka Zugang zur Prager Literaturszene. So lernte er 1902 er den jungen Schriftsteller Max Brod kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Brod ermutigte den von starken Selbstzweifeln geplagten Kafka zum Schreiben, und so entstand 1904/05 das früheste erhaltene literarische Werk, die Novelle „Beschreibung eines Kampfes“.

Was Kafka in dieser frühen Periode noch schrieb, ist nicht erhalten, weil er diese Texte selbst vernichtet hat. 1907 entstand das Romanfragment „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“, ein Jahr später wurden Kafkas erste Arbeiten in der Münchner Literaturzeitschrift „Hyperion“ veröffentlicht, und 1910 folgten weitere Texte in der Prager Literaturzeitschrift „Bohemia“. Kafka ging dazu über, seine Erlebnisse und Erfahrungen, Reflexionen und Selbstanalysen sowie Werkentwürfe seinem Tagebuch anzuvertrauen. Zugleich begann er, sich mit dem jiddischen Theater und ganz allgemein mit dem Judentum zu beschäftigen mit dem Ergebnis, dass er von einem assimilierten und zufälligen zu einem bewussten Juden wurde, wie er selber schrieb.

Brief an den übermächtigen Vater

Im Sommer 1912 lernte Kafka bei Brod die Berliner Prokuristin Felice Bauer kennen, mit der er einen auch in der Ausstellung dokumentierten Briefwechsel pflegte. Die Beziehung gipfelte in einer Verlobung, die aber nur kurz hielt. Biographen sehen in der unglücklichen Liebe Kafkas Unfähigkeit, Bindungen einzugehen, und konstatieren ein gestörtes Verhältnis zu Frauen. Dabei wünschte sich der Schriftsteller nichts sehnlicher als eine Frau und eine Familie. Die Jahre der Beziehung zu Felice gehörten zu Kafkas produktivster Zeit. Nachdem er 1912 an dem Fragment gebliebenen Roman „Der Verschollene“ zu schreiben begonnen hatte, verfasste er in nur einer Nacht die Erzählungen „Das Urteil“ und anschließend „Die Verwandlung“, die seinen schriftstellerischen Durchbruch markierten. 1914 begann er die Erzählung „In der Strafkolonie“ und sein Hauptwerk, den Roman „Der Prozess“. Dort wird der Protagonist Josef K. aus unerfindlichen Gründen angeklagt und verurteilt. Am Vorabend seines 31. Geburtstages wird er von zwei Männern abgeholt und in einem Steinbruch „wie ein Hund“ erstochen. Der Roman liest sich, als habe Kafka die Unterdrückungs- und Justizpraktiken einige Jahre später unter Stalin in der Sowjetunion und in Nazideutschland voraus gesehen. Sie in Wirklichkeit zu erleben und zu erleiden blieb dem Dichter erspart, seine Werke aber wurden hier wie dort verboten.

Nach seiner Erkrankung an Lungentuberkulose im Jahr 1917 schrieb Kafka einen langen Brief an seinen Vater, in dem er ein bedrückendes Resümee seines eigenen Lebens und der spannungsreichen Beziehung zu seiner Familie schilderte. Die 103 handschriftlichen Seiten, in denen der Sohn die Konflikte mit seinem Vater zu bewältigen versucht, haben diesen nie erreicht und wurden erst 1952 veröffentlicht. Der Brief beginnt so: „Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wusste Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.“ In dem hält Franz Kafka seinem übermächtigen Vater vor, er habe „äußerst wirkungsvolle, wenigstens mir gegenüber niemals versagende rednerischen Mittel bei der Erziehung wie Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und – merkwürdigerweise – Selbstbeklagung“ angewandt. Er kritisierte seinen Vater auch wegen der Verachtung gegenüber seinen Untergebenen und ausbeuterischen Verhaltens.

Kafka begegnete 1920 der Journalistin Milena Jesenská, die seine Werke ins Tschechische übersetzte. Sie war der einzige Mensch, dem der Dichter seine Tagebücher und den langen Brief an den Vater zu lesen gab. In den wenigen Jahren, die ihm noch blieben, entstanden zahlreiche Erzählungen, darunter „Ein Hungerkünstler“ sowie der Anfang des unvollendeten Romans „Das Schloss“. Wer Kafkas Werk überschaut, lernt zahlreiche Tiere wie sprechende Affen, fleischfressende Pferden oder tief in der Erde wühlende und bauende, freilich nicht näher definierte Wesen kennen. In Kafkas autobiographisch geprägter Erzählung „Die Verwandlung“ geht es um Probleme und Abgründe familiären Zusammenlebens und wie der Handlungsreisende und Familienmensch Gregor Samsa, der sich für seine Familie aufopfert, eines Tages als Insekt aufwacht und schließlich an Auszehrung zugrunde geht.

An Schlaflosigkeit, Angst und Verzweiflung leidend, erlitt Kafka Anfang 1922 einen Nervenzusammenbruch, dem ein erneuter Erholungsurlaub und Frühpensionierung folgten. Während einer Kur im Ostseebad Müritz lernte Kafka die polnische Jüdin Dora Diamant kennen, zu der er Ende September 1923 nach Berlin zog. Die folgenden sechs Monate waren vielleicht die glücklichsten seines Lebens. Erstmals erlebte Kafka weit entfernt von Prag und seiner Familie die einzige harmonische Beziehung zu einer Frau. Allerdings verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, und so begab er sich nach Österreich in ärztliche Behandlung. Am 3. Juni 1924 starb er Schriftsteller im Sanatorium Kierling bei Wien und wurde auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag bestattet. Das Geburtshaus des Schriftstellers befand sich am heutigen Franz-Kafka-Platz. Es wurde später bei einem Brand bis auf das Portal vollständig zerstört. Ein ihm gewidmetes Museum wurde im Sommer 2005 in der ehemaligen Hergetova-Ziegelei am Moldauufer eröffnet.

Für Dogmatiker ein rotes Tuch

Franz Kafka hatte testamentarisch verfügt, dass sein unveröffentlichter Nachlass nach seinem Tod vernichtet werden soll. Doch hielt sich Max Brod nicht an diesen Wunsch, sondern publizierte posthum die Romanfragmente „Der Prozess“, „Das Schloss“ und „Amerika“. Mit der Herausgabe der Schriften in sieben Bände mit einer Biographie von Brod begann die weltweite Rezeption des zu Lebzeiten nicht ausreichend beachteten Schriftstellers und sein Ruhm bis heute. Von den Nationalsozialisten verfemt und verboten, wurde Kafkas rätselhafte, bedrohliche, surrealistische Welt erst nach 1945 in Deutschland und im deutschsprachigen Raum neu entdeckt.

Für Partei- und Kulturfunktionäre der DDR war Kafka so etwas wie ein „rotes Tuch“. Die SED-Führung unter dem Stalinisten Walter Ulbricht sah in ihm das „Gespenst des tschechischen Schriftstellers deutscher Zunge“ und befürchtete die Aufweichung des Marxismus-Leninismus unter dem Deckmantel der Freiheit der Kunst und des Andersdenkens. In den kurzen Jahren des „Tauwetters“ nach Stalins Tod (1953) hatte die Forderung, Kafka aus der Versenkung zu holen und ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, keinen Erfolg. Der zeitweilig allmächtige SED-Kulturpolitiker Alfred Kurella, der als Leiter der Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED nicht in deren Weltbild passende Literaten, Maler und Theaterschaffende drangsalierte und verteufelte, sah in Franz Kafka so etwas wie eine Fledermaus, „die tagsüber mit dem Kopf in düsteren Korridoren hängt“, statt zur Morgenröte des Sozialismus aufzublicken. Letztlich führte die den damaligen Dogmatikern in Moskau, Ostberlin, Budapest und Prag fatale Aufmerksamkeit für Kafka in den frühen 1960er Jahre geradewegs zum „Prager Frühling“ von 1968 und daraus folgend zur langsamen Aufweichung und Beseitigung des kommunistischen Weltsystems.

7. März 2024