Bauopfer im Turmknauf

Berliner Nikolaikirche zeigt Grabmäler und andere Relikte aus der Stadtgeschichte



Seit 1995 gehört das Museum Nikolaikirche zur Stiftung Stadtmuseum Berlin. Eine umfangreiche Dauerausstellung und sich ablösende Sonderausstellungen gewähren interessante Einblicke in die über 800-jährige Geschichte der Stadt.



Das nach einem Seidenfabrikanten benannte Knoblauchhaus neben der Nikolaikirche birgt eine mit Möbeln, Bildern und Kunsthandwerk bestückte Ausstellung über die Biedermeierzeit in Berlin. Ein Neubau aus den 1970er Jahren mit spätbarocker Fassade ist das von der Stiftung Stadtmuseum genutzte Ephraimpalais aus dem 18. Jahrhundert.



Das Restaurant Gerichtslaube wenige Schritte von der Nikolaikirche entfernt ist ein mit Blick auf die 750-Jahrfeier Berlins errichteter Nachbau. Das schon recht marode Original wurde um 1869 im Zusammenhang mit dem Bau des Roten Rathauses abgebrochen und im Park Babelsberg als Backsteinbau neu errichtet.



In der Nikolaikirche ziehen Grabmäler aus der Barockzeit bewundernde Blicke auf sich, so die prächtige, 1725 von Johann Georg Glume geschaffene und in den vergangenen Jahren wiederhergestellte Grabkapelle für den Minister Johann Andreas von Krautt und rechts der auferstehende Christus in einem weiteren Grabmal aus der Barockzeit.



Wenn man durch das von Andreas Schlüter um 1701 geschaffene Tor zur Gruft des Goldschmieds Männlich und seiner Frau geht, kann man in den Vitrinen den Inhalt des Turmknaufs der Nikolaikirche betrachten. Die versilberte Kupferplatte von 1671 nennt Persönlichkeiten, die Münzen und Medaillen in den Turmknauf eingelegt haben.



Der Papierumschlag von 1734, der Bauernkalender von 1583 und der undatierte Dukat mit dem Bildnis des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm und des 1674 verstorbenen Kurprinzen Karl Emil stammen aus dem Turmknauf der Nikolaikirche.



Der brandenburgische Dickdreier aus dem Jahr 1562 und die rückseitig mit dem polnischen Adler und dem Monogramm SA von König Sigismund August geschmückte Gedenkmünze sind mit dem Stern des jüdischen Münzmeisters Lippold, den Kurfürst Johann Georg auf schreckliche Weise 1573 hinrichten ließ.



Die Medaillen des Kurfürsten Friedrich III., ab 1701 König Friedrich I. in Preußen mit der Ansicht der Berliner Schlossbrücke und zur Gründung der Universität in Halle an der Saale stammen aus den Jahren 1692 und 1694.



Es wird angenommen, dass Kleinmünzen wie diese im Fußboden der Nikolaikirche verschwanden. Sie kamen bei Ausgrabungen wieder zum Vorschein und werden in einer besonderen Vitrine gezeigt. (Fotos/Repros: Caspar)

Wer erinnert sich noch daran, wie es um 1980 rund um die Berliner Nikolaikirche ausgesehen hat? Die Kriegsruine bot ein trauriges Bild, es standen nur die Umfassungsmauern des im Zweiten Weltkrieg zerbombten Gotteshauses. Das gesamte Areal war eine Wüste, nur wenige Gebäude aus früheren Zeiten standen noch. Im Innere der Nikolaikirche lagen Schuttberge, man schaute hinauf in den blauen Himmel. So weit es in den Nachkriegsjahren möglich war, hatten Museumsleute, Restauratoren und Bauarbeiter steinerne Grabmäler geborgen und ins Depot gebracht in der Hoffnung, dass die Kirche eines Tages „aus Ruinen“ auferstehen wird, wie es in der alten DDR-Hymne heißt. Dem standen aber Forderungen der SED-Bezirksleitung entgegen, ihre Reste abzureißen und das Gelände ganz neu mit Wohn- und Geschäftshäusern zu besetzen.

Großspurige Baupläne sahen die völlige Umgestaltung des Gründungsorte der Stadt vor. Hier sollte ein Gondelteich entstehen, und neben dem in einen Paradeplatz umgewandelten ehemaligen Schlossplatz wollte man nach Moskauer Vorbild ein riesiges „Haus der Kultur und des Volkes“ errichten. Vor allem der damalige SED-Bezirkschef Paul Verner machte sich für die Beseitigung der Kirchenruine stark, die nach seiner Meinung nicht in die sozialistische „Hauptstadt der DDR“ passte. Zum Glück besannen sich die DDR-Oberen eines Besseren, ließen von dem Teich und dem Wolkenkratzer ab und reservierten das Areal für einen noch zu schaffenden „politisch-kulturellen Bereich“.

Konglomerat von Alt und Neu

Die Nikolaikirche und das nach ihr benannte Viertel erlebten in den 1980er Jahren als Konglomerat von Alt- und Neubauten seine Wiedergeburt. Eingeweiht wurde es 1987 zur Siebenhundertfünfzigjahrfeier Berlins. Der damalige SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende der DDR Erich Honecker und die ostdeutschen Medien lobten unisono die Leistungen der Bauarbeiter und Architekten, die Altes und Neues auf harmonische Weise miteinander verbunden haben, sowie die Staatspartei und ihren Generalsekretär, die das alles ermöglicht hätten. Schaut man genau hin, dann stehen echte Altbauten wie die Nikolaikirche, das Knoblauchhaus und das Kurfürstenhaus neben dem wieder aufgebauten Ephraimpalais und der Gerichtslaube und ganz neuen Plattenbauten, denen Giebel nach Art norddeutscher Backsteinhäuser verpasst worden waren. Das war der spezielle Wunsch des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph, der von seinem Amtssitz, dem Stadthaus gegenüber, nicht auf kastenartige Plattenbauten blicken wollte.

Die Stiftung Stadtmuseum nutzt die im frühen 13. Jahrhundert begonnene und danach immer wieder umgebaute und erweiterte Nikolaikirche als Museum für eine Ausstellung über Berlin und sein Umland von den Anfängen bis zur Barockzeit. Weitere museal genutzte Häuser im Nikolaiviertel sind das barocke Ephraimpalais und das biedermeierliche Knoblauchhaus. Andere Bauten sind bewohnt oder werden wie die Gerichtslaube gastronomisch genutzt. Als Gotteshaus und Begräbnisort des Berliner Adels und der wohlhabenden Bürgerschaft besaß die prächtig ausgestattete Nikolaikirche große kulturelle und historische Bedeutung.

Eng bestattete Tote

Beim Wiederaufbau und der Sanierung der Kirche, die erst im ausgehenden 19. Jahrhundert seine zweite Turmspitze erhielt, haben Archäologen vom Landesdenkmalamt Relikte der sakralen Ausstattung und Überreste von Toten gefunden. Die Grabstätten gehören zu einem Friedhof, der erst im frühen 18. Jahrhundert aufgegeben wurde. Die dicht übereinander geschichteten Gräber lassen einen Blick in die frühe Geschichte der Stadt zu. Nach Berechnungen der Bodendenkmalpfleger könnten hier etwa 400 Bestattungen liegen. „Das deutet auf drangvolle Enge hin und wirft ein interessantes Licht auf wenig komfortable Lebensverhältnisse im alten Berlin“ sagt der Archäologe Uwe Michas, der auch Ausgrabungen in der Marienkirche und in der Klosterkirche betreute. Da und dort würden Verfärbungen im Boden auf Bestattungen in Särgen deuten, die sind schon längst vergangen sind. Lediglich eiserne Griffe und andere Relikte erinnern in der Ausstellung noch an sie.

Bei der Wiedergeburt der Nikolaikirche stellte der Bau des Kreuzgewölbes eine große Herausforderung dar. Sie wurden nach alter Handwerkerkunst Ziegel für Ziegel ohne technische Hilfsmittel gemauert, wenn man von den elektrischen Aufzügen absieht. Bei der Ausgestaltung der Gewölbe über der eindrucksvollen Hallenkirche und der Seitenkapellen entschloss sich das damalige Institut für Denkmalpflege der DDR zu ungewohnt bunten Farben, über die seinerzeit gestritten wurde. Doch konnten Restauratoren den Nachweis erbringen, dass die roten, grünen, blauen, gelben und schwarzen Fassungen authentisch sind. Aufmerksamkeit verdienen die in Seitenkapellen stehenden beziehungsweise an den Pfeilern hängenden Epitaphien aus Stein oder Holz, die die Kirche zu einem Pantheon der führenden Berliner Familien machen. Unter ihnen befinden sich reich geschmückte Grabplatten aus der Renaissance- und Barockzeit sowie das mit einem vergoldeten Doppelbildnis und der Figur des Todes geschmückte Grabmal des Goldschmieds Daniel Männlich, eines der wenigen Werke, das der Hofbildhauer Andreas Schlüter für Berliner Bürger geschaffen hat.

Zweiter Turm erst spät ergänzt

Die Ursprünge der Nikolaikirche reichen in das frühe 13. Jahrhundert, die Gründungszeit Berlins, zurück. Propst Symeon, der 1237 und 1244 in Urkunden zum erstenmal mit seinem Namen und Hinweisen auf die Schwesterstädte Cölln und Berlin unterzeichnete, predigte in der Nikolaikirche, deren um 1230 aus Granitquadern gebildeter Westbau aus der Frühzeit der Stadt stammt. Wenn man alte Darstellungen betrachtet, sieht man, dass die Nikolaikirche über Jahrhunderte nur einen Turm besaß, während ein bescheidener Dachreiter die Stelle des anderen einnahm. Im Zuge einer umfassenden Erneuerung der Nikolaikirche hat der damalige Stadtbaumeister Hermann Blankenstein um 1876 auf den Turmunterbau zwei schlanke Spitzen setzen lassen. Die Türme, die die Nikolaikirche heute schmücken, sind denen von Blankenstein nachempfunden.

Der Eingang zur Gruft des kurfürstlichen Goldschmieds Daniel Männlich und seiner Familie ist ein besonderes Highlight Berliner Bildhauerkunst. Er wurde 1700/1 geschaffen und zeigt, wie der Tod Macht über die Menschen gewinnt und wie sich ein Kind ihm entziehen will. Münzfreunde kennen den Juwelier als Schöpfer schwergewichtiger Münzhumpen für den kurfürstlichen und königlichen Hof. Einige dieser mit kostbaren Talern und Medaillen brandenburgisch-preußischer Herkunft, aber auch aus Sachsen und aus anderen Gegenden verzierten Gefäße sind im Kunstgewerbemuseum Schloss Köpenick, im Schloss Königs Wusterhausen, im Schloss Charlottenburg und an anderen Orten ausgestellt.

Schatz wurde Gestohlen

Es ist ein guter alter Brauch, Münzen und Medaillen sowie Zeitungen, Baupläne, Grafiken, Fotografien und andere zeitgeschichtlich interessante Dokumente in die Kugeln auf den Spitzen von Kirchtürmen, Rathäusern und Schlössern zu legen. Bei Baumaßnahmen an der Berliner Nikolaikirche hat man die Beigaben für den Turmknauf immer wieder gesichtet und ergänzt. In einer ehemaligen Gruft im Turmbereich sind 287 Münzen und Medaillen, Medaillons und Plaketten zu sehen, die gemeinsam mit gedruckten und geschriebenen Urkunden, Chroniken und Büchern als Bauopfer in einer vergoldeten Kirchturmkugel gelegen haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Inhalt des Turmknaufes , der im Bombenschutt gefunden worden war, im Keller des Stadthauses, dem Roten Rathaus gegenüber, eingelagert. Unbekannte haben den wegen des Bezugs zur Stadtgeschichte so wichtige Schatz sowie die dazu zugehörigen Dokumente gestohlen. 1990 tauchte er wieder auf, als ein Berliner den Bestand im Zusammenhang mit einem Erbstreit dem Märkischen Museum zur Begutachtung vorlegte. Das Museum machte seine Eigentumsansprüche geltend und ließ die Münzen, Medaillen und Dokumente analysieren und restaurieren. So war es möglich, den Schatz aus der Kirchturmkugel zu erforschen und ab 2010 der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Luftdicht verschlossen und gut erhalten

In den „Beiträgen zur brandenburgischen preußischen Numismatik“ Heft 19 und 20 (2011 und 2012) hat sich Bernd Engelmann, Mitarbeiter des Märkischen Museums, mit dem Inhalt des Turmknopfes er Berliner Nikolaikirche beschäftigt. Der Bestand gilt als einer der bedeutendsten Turmknauf- oder Turmkugelschätze in Deutschland und enthält Spenden aus den Jahren 1514, 1538, 1551, 1584, 1671, 1695 und 1734. Mit dem ausgehenden Mittelalter wurde es auch im Nikolaikirchenkreis üblich, so schreibt Engelmann, dass Gemeindemitglieder bei Renovierungsarbeiten des Kirchturms Spenden in den Turmknauf legten. Die Sitte, sich damit für die Nachwelt zu verewigen, sei im christlich-europäischen Kulturkreis weit verbreitet gewesen. In die Hohlräume unter der Wetterfahnen hat man zeitgenössische Archivalien, Bücher, Münzen und Medaillen getan. Da die Objekte in der Regel luftdicht verschlossen oder in Kästen verlötet waren, befinden sie sich oft in einem sehr guten Zustand. Auch die in der Nikolaikirche ausgelegten Stücke aus der Kirchturmkugel lassen sich sehen und werden gut erläutert.

Auch im Fall der Berliner Nikolaikirche hat man die alten Spenden immer wieder durch neue durch neue ergänzt. Im 17. und 18. Jahrhundert hat man die Münzen und Medaillen in Papier eingewickelt und handschriftlich mit den Namen der Spender versehen. Interesse verdienen die gravierten Stifterplaketten aus versilbertem Kupfer, mit denen sich der Rat zu Berlin und einzelne Hofbeamte und andere Bürger als Spender zu erkennen geben. Wie Bernd Engelmann weiter schreibt hat man im Februar 1878 ein neues Protokoll über die im Turmknauf gefunden Münzen angefertigt. Eine Abschrift kam in das Märkische Provinzialmuseum (Märkisches Museum), das heute zur Stiftung Stadtmuseum gehört.

Raritäten aus grauer Vorzeit

Dessen Direktorium schlug seinerzeit einen Tausch zwischen den regionalgeschichtlich bedeutenden Objekten gegen drei zeitgenössische Medaillen vor. Doch der Gemeindekirchenrat ließ sich darauf nicht ein, obwohl die bekannten Numismatiker Hermann Dannenberg und Emil Bahrfeldt sich dafür eingesetzt hatten, den Bestand wegen seines besonderen Wertes ins Museum zu holen und wissenschaftlich bearbeiten zu lassen. So kam es, dass alle Stücke wieder in den Turmknauf gelegt wurde. Warum man damals keine neuen Dokumente und Münzen dazugelegt hat, kann nicht gesagt werden. Unter den Münzen im Turmknauf befinden sich einige Raritäten wie die aus Bodenfunde n stammende n Denare, ein „dicker“ Dreier von 1562 sowie eine sehr seltene Gedenkmünze von 1569 auf die Mitbelehnung Kurbrandenburgs mit dem Herzogtum Preußen, auf das sich ab 1701 der Name des neuen Königreichs bezog. Beide Stücke stammen aus der Schmiede des Münzmeisters Lippold, der sie mit dem sechseckigen „Judenstern“ gezeichnet hat. Mit falschen Anschuldigungen in einen Betrugsprozess verwickelt, starb Lippold 1573 auf dem Scheiterhaufen, und die in der Kurmark lebenden Juden waren schrecklicher Verfolgungen ausgesetzt.

Erwähnt sei, dass bei Ausgrabungen in der Nikolaikirche zahlreiche Münzen gefunden wurden, die hier in einer speziellen Vitrine gezeigt werden. Es wird vermutet, dass Kirchenbesucher die Groschen und Pfennige bei der Kollekte verloren haben. Ähnliches dürfte auch im Berliner Rathaus passiert sein, wo Kaufleute und ihre Kunden Geschäfte tätigten. Die Grabungen vor einigen Jahren im Zusammenhang mit dem Bau der U-Bahnlinie 5 von Hönow zum Hauptbahnhof erbrachten wichtige Erkenntnisse vor allem über das mittelalterliche Berlin und das Zusammenleben seiner Bürger. Die ältesten in diesem Areal entdeckten Kleinmünzen stammen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, die jüngsten sind Reichspfennige aus der NS-Zeit. Vertreten sind Denare der brandenburgischen Markgrafen Johann I. und Otto III., hingegen sind in Berlin geprägte Pfennige und Silbergroschen brandenburgischer Kurfürsten und preußischer Könige sowie solche aus umliegenden Territorien neueren Datums. Wie die Geldstücke im Turmknauf der Nikolaikirche sind auch sie interessante Belege für den Geldumlauf in älteren Zeiten, aber auch für die Wertschätzung, die man ihnen als zeitgeschichtliche Dokumente entgegen brachte.

1. Dezember 2023