„Wer Schnaps trinkt, füllt Irrenhäuser“
Um 1900 Jahren versuchte die Abstinenzbewegung des grassierenden Alkoholmissbrauchs Herr zu werden



Als Maler und Zeichner des Berliner „Milljöhs“ hat Heinrich Zille den so genannten kleinen Leuten ein ergreifendes künstlerisches Denkmal gesetzt, hier eine arme Familie, die nicht weiß, wie sie über die Runden kommt, und Bilder aus der Trinkerszene um 1900.



Wer benebelt war, ließ sich nicht von dem Hinweis beeindrucken, wonach Alkohol als Herrschaftsmittel der Bourgeoisie nur deshalb in großen Mengen ausgeschenkt wird, um die Kampfentschlossenheit der Massen zu dämpfen.



Heinrich Zille Zille kannte sich in Kneipen und Mietskasernen gut aus. Ein Nachbau des „Nussbaumhauses“ auf der Berliner Fischerinsel, das gerade von einem Kriminalpolizisten inspiziert wird, steht seit 1987 im Berliner Nikolaiviertel.



Der vom Staat, geldgierigen Unternehmern und skrupellosen Großgrundbesitzern geförderte, von weitsichtigen Leuten aber bekämpfte Alkoholkonsum wurde um 1900 als Volkskrankheit Nummer 1 eingestuft.







Die Ansicht aus der Vogelperspektive zeigt das Böhmische Brauhaus an der Landsberger Allee, das heute nur noch als Halbruine und Baustelle existiert und hoffentlich eines Tages wieder seinen alten Glanz zurück bekommt. Brauereien und Schnapsfabriken hatten in der Kaiserzeit, und nicht nur da, viel zu tun. Die Reklame von damals feierte feucht-fröhliche Biertrinker, leugnete die Gefahren unbegrenzten Alkoholkonsums und verdiente an ihm eine goldene Nase.



Einen guten Namen als Veranstaltungsort hat sich die zu allen Jahreszeiten gut besuchte Kulturbrauerei entwickelt. Hier gibt es auch ein DDR-Museum, das aus der wechselvollen Geschichte des zweiten deutschen Staats berichtet. (Foto/Repros: Caspar)

„Familie in der Kneipe“, heißt ein Bild, das Heinrich Zille, der Zeichner des Berliner „Milljöhs“, aus bester Kenntnis der Berliner Säufer- und Budikenwelt der kleinen Leute geschaffen hat. Ein Mädchen und zwei Männer dösen an einem Tisch vor sich hin und lassen sich von einem dicken Schreikind, das eine Frau auf den Tisch gestellt hat, nicht stören. „Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist“, heißt es auf einem Pappschild an der Wand. Mit solchen traurig-schönen Zeichnungen machte Zille in der Kaiserzeit Furore, weshalb seine Kritiker von Wilhelm II. abwärts man ihn einen Gossenkünstler nannten. In ungewohnter Deutlichkeit, aber auch mit Sympathie sprach der Zeichner und, was nicht so bekannt ist, Fotograf mit den Bildern ein nicht nur in Berlin weit verbreitetes Problem an, das des Alkoholismus.

In der Reichshauptstadt konnte man fast an jeder Ecke billigen Fusel oder Bier trinken, hier gab es weit und breit die meisten Kneipen. In den Tageszeitungen wurde reichlich für Schnaps geworben. Den allbekannten „Nordhäuser Korn“ gab es um 1900 für 1,25 bis drei Goldmark je nach Qualität. Dafür musste man schon ziemlich lange arbeiten, weshalb die Marke auch als Kopie billig angeboten wurde, was die Besitzer der Schnapsfabrik zu drastischen Reaktionen des Markenschutzes veranlasste. Viel Fusel gelangt aus ostelbischen Gütern in die Stadt an der Spree, wo überall auch Schnapsbrennerei existierten. Bis heute kann man sie an eine hohen Schornsteinen erkennen. Statistiker haben ausgerechnet, dass 1905 in der Reichshauptstadt auf einhundert Familien etwa vier Kneipen kamen. 129 Einwohner entfielen auf eine Gast- und Schankwirtschaft. Das war verglichen etwa mit den Verhältnissen in Hamburg (159), Dresden (232) oder Leipzig (290) ein bedenklich hoher Anteil. Saufen ist also kein Phänomen unserer Zeit, sondern war schon früher ein Problem, das wortreich und drastisch angeprangert wurde.

Heinrich Zille kannte sich gut aus

Angesichts der beengten Wohnverhältnisse in den berüchtigten Mietskasernen- und Elendsvierteln mit ihren vier oder fünf dunklen Hinterhöfen blieb damals einem großen Teil der Arbeiterschaft und der kleinen Angestellten offenbar nichts anderes übrig, als ihre Freizeit vor allem in Etablissements wie den von Zille gezeichneten zu verbringen und einen großen Teil ihres nicht sehr üppigen Lohns dort für Bier und Schnaps auszugeben. Die meisten Kneipenbesucher waren junge Männer ohne Frau und Kinder und solche, die aus der Provinz in die Reichshauptstadt kamen und hier Arbeit auf dem Bau oder in den Fabriken gefunden hatten. Da sie niemandem Rechenschaft schuldig waren, fanden sie auch nichts dabei, ihr Geld zum „Budiker“ zu tragen.

Unter den Kneipengängern waren viele Obdachlose, die ihren Rausch auf Parkbänken und unter Brücken ausschlafen mussten. Doch auch Familienväter flohen in die Kumpelgemütlichkeit der Kneipen an der nächsten Ecke oder gleich im eigenen Wohnhaus, und wenn sie dort ihr bisschen Geld beim Trinken, Rauchen und Kartenspielen gelassen hatten, wurde angeschrieben und Bezahlung für die nächste Woche versprochen. Wiederkommen war ja garantiert. Verständlich, dass die um die Existenz ihrer Familien besorgten Ehefrauen und Mütter am Zahltag regelmäßig vor den Fabriktoren warteten, um ihren Männern ein wenig vom Lohn abzunehmen, bevor der gleich wieder verflüssigt wird.

Schlimme Neben- und Nachwirkungen

Es ist klar, dass sich gegen den grassierenden Alkoholmissbrauch mit all seinen schlimmen Neben- und Nachwirkungen wie Beschaffungskriminalität, Gewaltausbrüche, Krankheit und weitere Verelendung Widerstand regte. Mediziner sahen die Volksgesundheit in Gefahr und argumentierten, dass es um die Nachkommen der alkoholisierten Männer wohl nicht zum Besten bestellt sein dürfte. Doch auch die Politik und das Militär schalteten sich ein, denn Wirtschaft und Armee konnten mit unsicheren, weil alkoholisierten Leuten nichts anfangen. Appelle, von Schnaps und Bier abzulassen, waren wenig ehrlich, denn der Staat verdiente über die Steuern an ihm, und die Brauereien und Schnapsfabriken rechneten fest mit wachsender Kundschaft und malten das Gespenst der Arbeitslosigkeit und Insolvenz an die Wand. Wir kennen solche Argumente aus heutigen Diskussionen um Alkohol und Nikotin!

Dessen ungeachtet etablierte sich überall im Kaiserreich eine Abstinenzbewegung, die sich in bürgerlichen Schichten, aber auch in der Arbeiterbewegung Gehör zu verschaffen versuchte. Antialkohol-Vereine wetterten gegen Bierpaläste und Stehbierhallen, Destillen und Eckkneipen, aber auch gegen Schnapsfabrikanten und Bierkonzerne. In den Kampagnen wurden argumentiert, dass betrunkene Proletarier ihre Rechte nicht mehr wahrnehmen können, sich zu „Biersklaven“ machen lassen und dadurch ein leichtes Opfer von Ausbeutung werden. Dem wurde entgegen gehalten, dass sogar in SPD-Parteilokalen und bei Arbeiterausflügen fleißig getrunken wird, ja dass sich das allgemeine Elend nur im „Suff“ ertragen lässt.

Kneipen als Orte politischer Subversion,

Ob solche Sprüche etwas genutzt haben, ist nicht bekannt, auch nicht Warnungen, wie sie im Coburger Tageblatt vom 11. Juli 1912 veröffentlicht wurden: „Wer Schnaps trinkt, zahlt freiwillig Steuern, füllt Junkersäckel, ruiniert seinen Körper, zerstört die Familie, verblödet seine Nachkommen, hilft Irrenhäuser füllen.“ Allerdings haben solche Anklagen ebenso wenig genutzt wie heutige Warnhinweise auf Zigarettenschachteln oder künftig vielleicht auch auf Flaschen mit Hochprozentigem darin. Wer wirklich von Bier und Schnaps lassen wollte, tat das aus innerer Überzeugung und suchte Ausgleich und Entspannung in anderen Bereichen, etwa in Volkshochschulen, Arbeiterbildungs- und -sportvereinen und Büchereien, von denen es im trinkfreudigen Kaiserreich zum Glück viele gab und auch reichlich genutzt wurden. Selbstverständlich waren die Kneipen auch Orte politischer Subversion, eine Brutstätte systemfeindlichen Gedankengutes. An Stammtischen wurde gelegentlich deftig gegen Kaiser und Staat gewettert, und so nimmt es nicht Wunder, dass die Polizei auch in den Kneipen ihre Ohren offen hielt und die Gäste mit Razzien in Angst und Schrecken versetzte.

8. Februar 2024