Neustart im Tacheles
Kriegsruine an der Oranienburger Straße in Berlin wurde aufwändig umgebaut und erhält neue Aufgaben



Das 1907 und 1908 nach Plänen von Franz Ahrens in nur 15 Monaten Bauzeit als Friedrichstraßen-Passage eröffnete Gebäude verbindet die Friedrichstraße mit der Oranienburger Straße und war nach den Kaiserpassagen die zweitgrößte Einkaufsmeile der Stadt. Die Baukosten betrugen sieben Millionen Mark. Der in Stahlbetonbauweise erbaute Komplex avancierte durch seine ungewöhnliche Konstruktion und sein reiches Warenangebot zu einem Highlight in der Spandauer Vorstadt. Die Fotos aus den 1920er Jahren zeigen den Eingang an der Oranienburger Straße mit dem Schriftzug AEG und einen Blick in die Ladenpassage.





So zeigte sich das Tacheles bei einem Besuch Ende Juli 2023 außen und innen. Hier auch ein Blick auf die Friedrichstraße, zu der man trockenen Fußes von der Oranienburger Straße vorbei an noch leeren Läden und Restaurants gegen kann. Ein wenig Grün schmückt schon Berlins neueste Attraktion.





Nachdem 2012 ein Besitzerwechsel stattgefunden hatte, konnte der Um- und Neubau des Tacheles nach Plänen des Schweizer Architekturbüros Herzog & de Meuron Unter Wahrung des Denkmalschutzes beginnen. Der Auszug der bisherigen Nutzer verlief nicht ohne Proteste und Konflikte. Das untere Foto zeigt die Baustelle Ende Juli 2023.





Längst schon sind die geschmiedeten und geschweißten Kunst- und viele anderen Objekte aus dem Hof des Tacheles abgeräumt und an andere Standorte verlagert.



Die Pracht der alten Friedrichstraßen-Passage ließ sich bei bestem Willen nicht mehr wiederherstellen, aber die jetzt geschaffenen Räume und Durchgänge sind dennoch sehenswert und laden zum Verweilen ein.



So weit wie möglich, hat man beim Um- und Neubau des Stadtquartiers die aus der Kaiserzeit stammenden Fassaden, Reliefs und Figuren gesichert, gereinigt und restauriert, nicht aber ergänzt, um Spuren der Kriegs- und Nachkriegszeit zu erhalten. (Fotos: Caspar)

Wer dieser Tage an der Kreuzung Oranienburger Straße und Friedrichstraße im Berliner Bezirk Mitte entlang geht, wird den ehemalige Kunst- und Kulturstandort Tacheles nicht mehr erkennen. Fast alle Gerüste sind gefallen, die Fassaden haben Fenster bekommen, die Steinverkleidung wurde von Graffiti befreit und aufgehellt. Man kann durch den riesigen Komplex aus der Kaiserzeit von einer Straße zur anderen laufen und sieht, dass schon einige Läden geöffnet haben. Mieter und Bewohner ziehen nach und nach ein, und auch die Gastronomie ist da. Jahrzehntelang bot sich das Tacheles als ziemlich „verranzte“ Ruine dar, wie die Berliner sagen. In DDR-Zeiten waren bedeutende Bauteile auf dem Gelände zur Friedrichstraße hin abgerissen worden, doch der stattliche Rest an der Oranienburger Straße blieb stehen und wurde zum Teil auch von Künstlern genutzt.

Längst ist die Pracht des aus der Kaiserzeit stammenden Kaufhauses vergangen. Historische Fotos an einer Schaufensterreihe nahe der Friedrichstraße lassen ahnen, welch ein architektonisch und kulturgeschichtlich bedeutsames Kleinod Berlin verloren hat und wie der Wiederaufbau vonstatten ging. Am 24. August 1908 gestaltete sich die Eröffnung der Friedrichstraßen-Passage zu einem nationalen Ereignis, ist beim Rundgang zu erfahren. In Berlin gab es zu dieser Zeit bereits zwei Kaufhäuser von Weltformat - das Wertheim am Leipziger Platz und das Kaufhaus des Westens (KaDeWe) an der Tauentzinstraße im Ortsteil Schöneberg.

Konkurs, Neuanfang und Krieg

Die Friedrichstraßen-Passage besaßen etwa einhundert Ladengeschäfte, boten aber auch Platz für Ausstellungen, Varietés und Büros. Der Komplex überstand die letzten Kriegstage fast unzerstört, obwohl die Umgebung in der Spandauer Vorstadt teilweise in Trümmern lag. Kurz vor dem Kriegsende am 8. Mai 1945 vernichtete ein Feuer Teile des Gebäudes. Gerüchten zufolge soll die SS, die hier Dienststellen unterhielt, im Keller Akten verbrannt haben.

Eine von Einzelhändlern gegründete Aktiengesellschaft hatte in der Kaiserzeit die Idee, die Läden nicht strikt voneinander zu trennen, sondern ineinander übergehen zu lassen. In einer zentralen Kassenstelle sollten die Einkäufe kontrolliert und bezahlt werden. Das war gut und weitsichtig geplant, der erhoffte Erfolg stellte sich aber nicht ein, denn schon bald musste das Passage-Kaufhaus Konkurs anmelden. Der Komplex wurde von Wolf Wertheim angemietet, der hier erneut ein Kaufhaus eröffnete. Das half wenig, denn noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs musste das Gebäude zwangsversteigert werden. Bei einem neuerlichen Umbau wurde 1924 ein noch heute erhaltener Tiefkeller, der so genannte Tresorraum, eingerichtet. Man hat die imposante Deckenhöhe der Passage mittels einer Stahl-Glas-Konstruktion auf die Höhe der Ladengeschäfte heruntergezogen. Das hat den imposanten Gesamteindruck der Halle stark verändert und wurde beim Wiederaufbau korrigiert, so dass man heute wieder eine neue Halle durchqueren kann.

Nazis im Haus der Technik

Die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft übernahm 1928 den riesigen Komplex und nannte ihn Haus der Technik. Auf einer Fläche von 10.500 Quadratmetern stellte die AEG ihre Produkte vor und beriet Kunden, denn das bisherige Schau- und Verkaufsgebäude des Elektrokonzerns in der Luisenstraße 35 war am 15. September 1927 bei einem Brand zerstört worden. Vor und nach der Errichtung der Nazidiktatur 1933 nutzten das Propagandaministerium und Dienststellen der NSDAP Räume im Haus der Technik und verdrängten jüdische Mieter und ausländische Firmen. Mitte der 1930er Jahre zogen die Nazi-Gewerkschaft Deutsche Arbeitsfront und die Organisation Kraft durch Freude, ferner der Blut und Boden Verlag sowie das Zentralbodenamt und weitere Dienststellen der SS ein, wie eine Gedenktafel berichtet. Während der Schlacht um Berlin im April 1945 fluteten die Nationalsozialisten den zweiten Tiefkeller, der seither unter Wasser steht. Die AEG versuchte nach dem Krieg einen Neuanfang im Haus der Technik, verlegte dann aber, als das unter kommunistischen Verhältnissen nicht gelang, ihren Firmensitz in den Westen. Aus der Trümmerlandschaft erhob sich weithin sichtbar wie ein Menetekel das alte Kaufhaus, das dann jahrzehntelang als Ort für Artistik und Kunst, Handwerk und Verwaltung genutzt wurde.

Ateliers, Artistenschule und ein Kino

Das im Krieg beschädigte Gebäude im Ostteil Berlins sah nach 1945 viele Nutzer wie den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB), Einzelhändler und Handwerksbetriebe, ein Reisebüro, eine Artistenschule, die Fachschule für Außenwirtschaft und Büroräume des Radio- und Fernseherstellers RFT. In den Tresorräume des Kellergeschosses hatte sich die Nationale Volksarmee breit gemacht. Im Torbau an der Friedrichstraße gab es für ein paar Jahre das Kino Camera und später die Oranienburger Tor Lichtspiele (OTL). Der Kinosaal wurde auch als Theatersaal genutzt. Das Kino erhielt nach einem Umbau 1972 wieder seinen alten Namen Camera zurück. Trotz intensiver Nutzung ist das kriegsbeschädigte Gebäude nie wirklich saniert und modernisiert worden. Statt dessen kam es zur Sperrungen verschiedener Räume und Korridore und ab 1980 zu Teilabrissen.Geplant war eine neue Straße als Abkürzung zwischen Oranienburger Straße und Friedrichstraße bilden. Das Kino wurde geschlossen und der noch komplett erhaltene Kuppelbau gesprengt. Was von dem Haus übrig geblieben war, sollte im Frühjahr 1990 gesprengt werden, in einer Zeit, da ein Bildersturm ohnegleichen über die DDR hinweg zog und vieles vernichtete, das man heute gern wieder zurück hätte. Der Abriss konnte verhindert werden, nachdem es von der „Künstlerinitiative Tacheles“ besetzt worden war. Das Gebäude mit der auffälligen Fassade aus Naturstein mit „jugenstiligen“ Schmuckelementen wurde unter Denkmalschutz gestellt, was aber Graffitisprayer nicht davon abhielt, es mit bunter Farbe und Parolen zu besprühen und zu bemalen.

Der Name des Tacheles geht auf das jiddische Wort Tacheles zurück und kommt in der Redewendung „Tacheles reden“ vor, womit Klartext gemeint ist. Die Bezeichnung der Künstlerinitiative ging nach dem Ende der DDR 1990 auf das ganze Haus über, das sich zu einer festen Größe in der Berliner Kunst- und Kulturszene entwickelte und unzählige Besucher anzog, darunter auch viele Prominente aus dem Musik- und Showgeschäft sowie bildende Künstler und Kunsthandwerker. Die Alternativen entwickelten den Komplex nach 1990 zu einem Kulturstandort der Extraklasse und eine in Reiseführern und Touristikforen gepriesene Sehenswürdigkeit, deren morbider Charme weit über die Landesgrenzen bewundert wurde. Hier konnte man ungestört tun und lassen was man wollte, und hier fanden Musiker, Theaterleute und andere Künstler gute Betätigungsmöglichkeiten.

Hitzige Diskussionen zum weiteren Schicksal

Das Tacheles bot bis zu seiner Schließung 2012 und Übernahme durch den Immobilienunternehmer Anno August Jagdfeld (Fundus-Gruppe) Platz für Ateliers und Ausstellungsflächen sowie ein Kino und Räume für Konzerte, Lesungen und Theatervorstellungen. Nachdem der Mietvertrag zwischen den Künstlern und den neuen Eigentümern nicht mehr verlängert wurde, gab es hitzige Diskussionen über den Erhalt des Kulturstandortes und seine weitere Nutzung. Die Plädoyers für die Bewahrung des einzigartigen Kulturstandortes hatten keinen Erfolg. Das Haus mit seinem spezifischen Flair, das von manchen gruselig, von anderen anheimelnd und anregend empfunden wurde, musste unter lautstarken Protesten geräumt werden und stand längere Zeit leer. Die aus dem alten Tacheles vertriebenen Künstler mussten sich Räume an anderen Orten suchen.

Mischung von Wohnen, Einkaufen und Gastronomie

Im September 2014 veräußerte Anno August Jagdfeld den Komplex an die New Yorker Vermögensverwaltung Perella Weinberg Partners LP, um mit dem Erlös seine Verbindlichkeiten gegenüber der HSH Nordbank zu bedienen. Am 4. April 2016 begannen die Vorarbeiten für den Um- und Neubau des Stadtquartiers mit dem Tacheles in der Mitte. Zur bunten Mischung von Wohnen, Einkaufen, Gastronomie, Kultur und Kunst kommen noch ein Hotel sowie Ateliers und ein Stadtplatz an der Oranienburger Straße. Die Neugestaltung des Areals am Ende der Friedrichstraße und Beginn der Oranienburger Straße wertet die ganze Gegend spürbar auf und wird ein großer Anziehungspunkt für die Berliner und Gäste aus alle Welt werden.

Der Anfang ist gemacht, und es hat sich schnell herumgesprochen, was Berlin mit dem „neuen Tacheles“ und anliegenden Bauten gewonnen hat. Laut Bebauungsplan soll der historische Flügel der ehemaligen Friedrichstraßen-Passage wieder kulturell genutzt. Das Haus wurde an der Oranienburger Straße durch einen Neubau ergänzt, der die Nachbargebäude überragt. Gut zu wissen ist auch, dass das Stockholmer Fotomuseum Fotografiska hier eine Dependance eröffnen will. Der luxuriöse und sehr teure Neubau ist nicht unumstritten, da dadurch an einem ehemaligen Ort der Kunst und Kultur Luxusimmobilien entstehen, die sich nur sehr wenige Menschen leisten können. So wurde noch vor Fertigstellung eine 250 Quadratmeter große Penthouse-Wohnung im Neubau für knapp zehn Millionen Euro verkauft, was einem Preis von rund 40.000 Euro pro Quadratmeter entspricht.



3. August 2023