Friedlicher Übergang vom Taler zur Mark
Grabmal auf dem Friedhof Georgen-Parochial I an der Greifswalder Straße in Berlin ist wie ein offenes Geschichtsbuch





Das im historisierendem Stil erbaute Grabmal der Familie Zeitler ist über und über mit Inschriften bedeckt und birgt im Inneren ein Mosaik aus dem Jahr 1902. Das Ehepaar Agnes und Carl Ludwig Zeitler ist durch die Bibel mit der Inschrift ICH GEH O HERR IN DEINE HAND ZURÜCK verbunden. Das ziemlich desolate und herunter gekommene Grabmal wurde 2004 mit Unterstützung der Berliner Arbeitsgemeinschaft Historische Friedhöfe denkmalgerecht saniert.





An kaum einem anderen Grabmal oder Mausoleum in Berlin findet man so viele Inschriften wie auf dem Zeitlerschen Familiengrab auf dem Friedhof an der Greifswalder Straße. Er befindet sich in der so genannten Königsstadt unweit des schon lange nicht mehr existierenden Königstors, durch das Friedrich I. 1701 nach seiner Krönung in Königsberg feierlichen Einzug in Berlin hielt.



Der 1888 gegründeten URANIA – hier ihr schon lange nicht mehr existierendes Gebäude im Ortsteil Moabit – hilfreich unter die Arme zu greifen, war für Carl, Ludwig Zeitler eine Herzensangelegenheit.





Für Witzbolde und Karikaturisten waren die Helden von der Berliner Schlossbrücke, ob nackt oder bekleidet, gefundenes Fressen. Hier zeigt eine Frau ihrem Mann, wo es lang geht. Was man alles mit dem Friedrich-Denkmal anstellen könnte, zeigt das zweite Spottbild. (Fotos/Repros: Caspar)

Ein Gang über Berliner Friedhöfe lohnt sich zu jeder Jahreszeit, man kann auf ihnen immer wieder etwas Neues und Überraschendes entdecken. So auch auf dem an der Greifswalder Straße im Bezirk Prenzlauer Berg gelegenen Friedhof Georgen-Parochial I, der im frühen 19. Jahrhundert angelegt wurde und auf dem es bis heute Bestattungen gibt. Nur wenige Schritte vom Grabmal des königlich—preußischen Münzmechanikers Gottlieb Ernst Kleinstüber mit der ehemals vergoldeten, von Christian Friedrich Tieck geschaffenen Trauernden an einer Urne gibt es ein wirtschafts- und stadtgeschichtlich interessantes Grabmal zu bestaunen, in dem Angehörige der seinerzeit hochangesehenen und wohlhabenden Baumeisterfamilie Zeitler bestattet wurden. Der Textilfabrikant Johann Jakob Zeitler, der von 1807 bis 1871 lebte, hatte es in der aufstrebenden preußischen und ab 1871 deutschen Haupt- und Residenzstadt zu Geld gebracht. Nach seinem Tod 1871 ließ der Sohn Carl Ludwig Zeitler auf dem schon erwähnten Friedhof für sich und seine Familie ein Mausoleum errichten, das in der Berliner Friedhofslandschaft seinesgleichen sucht. Außer dem Vater Johann Jacob Zeitler sind die Mutter Wilhelmine, der Bruder Emil, der Halbbruder Carl Ferdinand Gläser, Carl Ludwig Zeitlers Frau Agnes und und er selbst bestattet.

Höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit

Eine lange Inschrift auf der linken Seitenwand des Mausoleums verdient besondere Aufmerksamkeit. Sie nennt Löhne und Preise nach dem „glücklichen deutsch französischen Siebenmonats Krieg 1871 71 n. Chr.“ In der Reichshauptstadt Berlin habe es so viel Arbeit gegeben, dass Arbeiter „knapp“ waren. Man löste das Problem durch „höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit“, ist zu lesen. Als das Grabmal gebaut wurde, seien die Löhne gesenkt und die Kosten für die harte Ziegel merklich erhöht worden. Die Inschrift erwähnt, dass während der Bauzeit auch die bisher üblichen Maße und Gewichte sowie das Geld verändert wurden. Die Umstellung erfolgte von Rute und Zoll auf den „100 theiligen Meterstab“, und man rückte auch von der Zahlung in Talern ab und ging zur „Gold (Mark) Währung“ über. Neue Gesetze seien entstanden, heißt es am Schluss der ungewöhnlichen Inschrift, die auch erwähnt speziell die, wie wir heute sagen würden, Zivilehe und ein „Strafgesetzbuch für alle Deutschen“. Die aus über 1100 Buchstaben bestehende Inschrift ist ein einzigartiges Zeitdokument, das wie das Grabmal alle Zeiten und Katastrophen überstanden hat und zu Recht unter Denkmalschutz steht.

Der Berliner Baumwollweber Johann Jakob Zeitler stammte aus einfachen Verhältnissen, wie man damals sagte, und hatte sich zu einem wohlhabenden Textilfabrikanten und Händler von Stoffen aller Art hochgearbeitet. Indem er sich auch mit Immobilien- und Finanzgeschäften beschäftigte und Häuser und Grundstücke kaufte, begründete er den Reichtum der Familie. Da er diesen als Gottesgabe betrachtete, sah er es als Lebensaufgabe an ihn auch gottgefällig, das heißt im Interesse der Armen und Unterprivilegierten zu nutzen. Nach dem Erwerb eines unbebauten Grundstücks im Bereich der heutigen Büschingstraße nahe dem Alexanderplatz ließ er Wohnhäuser bauen, deren Einkünfte vorrangig minderbemittelte Studenten zugute kamen. In einem dieser Häuser wohnte er selbst mit seiner Familie und betrieb hier auch seine Textilhandlung. Querelen mit der Baubehörde und Anliegern trugen dem Baumeister, wie sich Carl Ludwig Zeitler nannte, viel Verdruss ein. Ihm gelang es aber, seine bebauten und unbebauten Grundstücke an der südlichen Büschingstraße mit Gewinn zu verkaufen und sein Vermögen in wohltätige Stiftungen anzulegen.

Unternehmer und Mäzen

Da der Unternehmer und Mäzen naturwissenschaftlich interessiert war, gehörte er zu den Gründern und Förderern der Berliner Urania, die URANIA. Ziel der nach der antiken Muse der Astronomie benannten und 1888 gegründeten Vereinigung war es, wissenschaftliche Kenntnisse unters Volk zu bringen und das allgemeine Niveau auch bildungsferner Schichten zu heben, wie wir heute sagen würden. Mit wachsendem Erfolg vermittelte der von Gelehrten, Industriellen, Kaufleuten und anderen Spitzen der Berliner Gesellschaft getragene Verein neue Erkenntnisse über Sterne und das, was die Welt im Inneren zusammenhält, sowie über viele andere, im Zeitalter der Industrialisierung benötigte Kenntnisse. Ganz im Geiste der Urania richtete sich Zeitler auf dem Dach seines Hauses Büschingstraße 35 eine Sternwarte ein, außerdem gab es hier einen Konzert- und Vortragssaal.

Als Mäzen nutzte Carl Ludwig Zeitler sein Vermögen und Nachlässe von Familienangehörigen für die Errichtung von Stiftungen, die Menschen in unverschuldeter Notlagen zugute kamen, aber auch ihrer der beruflichen Ausbildung und nicht zuletzt dem Ansehen der Familie in der Berliner Gesellschaft dienten. Wir kennen dieses Mäzenatentum, allerdings in weitaus größerem Umfang, auch von dem Berliner Textilhändler und Kunstsammler James Simon, der mit einem großen Teil seines Vermögens den Königlichen, nach 1918 Staatlichen Museen zu Berlin finanziell unter die Arme griff und ihnen bedeutende Kunstwerke und archäologische Objekte, allen voran die Büste der altägyptischen Königin Nofretete zu zukommen ließ und außerdem nach dem Grundsatz „Wer viel hat, der soll auch viel geben“ bedeutende Summen an Krankenhäuser und andere Einrichtungen überwies.

Stiftungen für einen guten Zweck

Die Inschriften auf dem Zeitlerschen Grabmal vermerken folgende Stiftungen: die 1889 errichtete Weber Johann Jakob Stiftung für Weber und andere Handwerker (Weberstiftung) zum Unterhalt verarmter Weber und anderer Textil-Handwerker sowie dem Erhalt des Erbbegräbnisses. Die Stiftungsmasse betrug 20.000 Mark, die 1901 auf 50.000 Mark erhöht wurde; das 1894 errichtete Wilhelmine Zeitlers Frauenheim zur Unterstützung von unverschuldet bedürftigen Frauen. Die Stiftungsmasse bestand aus dem Wohnhaus Büschingstraße 30, hinzu kamen die Wohnhäuser und Baugrundstücke Büschingstraße 31–35; das 1896 errichtete Agnes Zeitlers Kandidatenheim als freie Unterkunft für bedürftige evangelische Studenten der Theologie oder der klassischen Philologie; Ludwig Zeitlers Studienhaus, das 1901 errichtet wurde und mit dem bedürftige Studenten der Neueren Sprachen, der Mathematik oder der Naturwissenschaften sowie unvermögender Mädchen und Frauen bei der Ausbildung geholfen wurde. Die Stiftungsmasse wurde durch das Wohnhaus Büschingstraße 1 u. 2 (heute 2 u. 3) gebildet und erhielt das Haus Büschingstraße 1a (heute 1) als Zugstiftung; Emil Zeitlers Fachschulenhaus, das 1903 errichtet wurde und mit dem bedürftige Handwerker und Künstler beim Studium an Fach- und Kunstschulen geholfen wurde. Die Stiftungsmasse betrug 200.000 Mark, hinzu kamen Erträge aus dem Grundstück Linienstraße 20.

Die Stiftungen wurden der Stadt Berlin bzw. der Berliner Universität übertragen. Allerdings behielt sich Carl Ludwig Zeitler deren Verwaltung und die Auswahl der begünstigten Personen vorbehalten. Das Vermögen der Stiftungen soll 1908 annähernd eine Million Goldmark betragen haben, schrumpfte aber im und nach dem Ersten Weltkrieg. Lediglich haben die Häuser Büschingstraße 1–3 und 35 alle Zeiten überstanden und gehören zu den wenigen Zeugnissen der Bebauung der früheren Berliner Königsstadt im späten 19. Jahrhundert.

Familien- und Hausbau-Geschichte

Carl-Ludwig Zeitler verfasste im Privatdruck „Erinnerungen eines Berliners aus den letzten 70 Jahren des 19 Jahrhunderts“ und nannte sie im Untertitel „Eine kleinbürgerliche Familien und Hausbau Geschichte“. Geschildert werden in drei Folgen aus dem Jahr 1909 unter anderem die Entstehung der Zeitlerschen Studenten. Und Frauenheime. Die aufschlussreichen Erinnerungen wurden 2012 von der Arbeitsgemeinschaft für historische Friedhöfe und Kirche anlässlich ihres 30-jährigen Bestehens mit einer kurzen Einleitung als Nachdruck herausgegeben. Sie geht kurz auf das Grabmal auf dem Georgenfriedhof ein und berichtet, dass sie stark vernachlässigt war. Deshalb wurde sie Ende der 1990er Jahre im Auftrag der Denkmalschutzbehörde instand gesetzt. 2003 beschloss die Arbeitsgemeinschaft weitere Unterhaltungsmaßnahmen und die Erneuerung der verblassten Inschriften. Die Arbeiten 2005 abgeschlossen. Die Hefte befinden sich im Besitz des Zentrums für Berlin Studien und bilden eine wahre Fundgrube über ein Stück Berliner Familiengeschichte vor und nach der Reichseinigung von 1871.

Zeitler geht unter anderem auf die Vorgeschichte und Geschichte der Revolution von 1848 ein und beschreibt wie es ihm, dem damaligen Schüler, dabei ergangen ist. Er erinnert an die Weihe des Friedrich-Denkmals Unter den Linden, das von Christian Daniel Rauch im Lagerhaus an der Neuen Friedrichstraße erst in Gips modelliert und dann in der ehemaligen Alten Münze an der Münzstraße in Bronze gegossen wurde das figurenreiche Reiterdenkmal 1851 fertig. Es wurde auf Walzen durch die Königstraße und über die durch Balken abgesteifte Schlossbrücke zum vorgesehenen Ort Unter den Linden gebracht. Bei der Enthüllungsfeier habe es auf nicht nur ein großes Aufgebot von Militär und Zuschauern gegeben, schreibt Zeitler, sondern es gab in den Zeitungen auch eine Flut von Gedichten, das sich auf den Zeitungsverleger Haude bezog. „Der große Fritz war zwar noch klein, / Doch schon ein kecker Geist, / Er wollte lesen allerlei, / Vom neuen Zeitgeist frank und frei, / Was Vater ihm verweist. / Und gegenüber von dem Schloss / Herr Haude wohnte just. / Hat ihm ein Stübchen eingericht't, / Da da kam der Prinz bei Lampenlicht / Und las nach Herzenslust. / Und als er selber König war / Sprach er: dir dank ich viel, / Erbitte eine Gnade dir / Ein Zeitungsblättchen wäre mir / Der Wünsche höchstes Ziel. / Der König sprach: Das sollst du ha'n / Und jeglicher Kurier, / Der in des Schlosses Hallen ritt, / Der bracht' für Haude mit.“ Zeitler fügte noch diese den Bildhauer Rauch betreffenden Zeilen hinzu: „Du hast uns den König gegeben / So recht nach dem Leben. / Den Dreimaster auf dem Kopf, / Im Nacken seinen Zopf. / Aber den strahlenden Geist im Blick / Mit dem er lenkte der Welten Geschick.“

Ärger mit nackten Marmorhelden

Über die Grabkapelle seines Vaters berichtet Zeitler, dass die Steinmetze, die nur sechs bis acht Taler (18 bis 24 Mark) Wochenlohn erhielten, die Arbeit einstellten; um höhere Löhne zu erzielen. Schwierigkeiten gab es, als die schweren Werkstücke auf den Friedhof transportieren wurden. Dabei riss ein armdickes Aufzugsseil, mit dem eine Säule hochgezogen werden sollte. Ein neues Seil konnte so schnell nicht beschafft werden, und als es endlich da war, wurde es gestohlen und später in der Nähe wieder gefunden. Zeitler zufolge gab es in dem Grabmal farbige Fenster mit Engelsfiguren, ferner eine Grablegung aus Gips, bei der die Figuren die Züge seiner Mutter und ihrer drei Söhne trugen. Nach dem Tod von Agnes Zeitler ließ ihr Mann das bis heute erhaltene Mosaikbild in Lebensgröße gegenüber der Tür anbringen.

Über die nackten Marmorhelden auf der Berliner Schlossbrücke vermerkt der Verfasser, sie hätten allerlei Anstoß erregt. Die für unsere nordische Gegend ungewohnten nackten Körper der Jünglinge und Krieger hätten den Zorn zahlreicher Damen erregt. Sie hätten es lieber gesehen, wenn die Marmorfiguren Hosen angehabt hätten oder man ihnen wenigstens vor dem unteren Teil des Leibes wie in den Vatikanischen Museen ein am Draht befestigtes Blechblatt vorgebunden hätten. „Dies Blech weißt doch geradezu hin auf Etwas vor den Augen und der Einbildungskraft junger Damen zu Verbergendes“, schreibt Zeitler. Da irgendwelche Leute den Figuren schwarze Hosen angemalt hatten, wurde ein Wachposten auf die Brücke gestellt. „Der ewige Schöpfer fand nichts Anstößiges an seinen unbekleideten Geschöpfen; das finden nur sündige, lüsterne Menschen.“

Zum Grabmal „Kleinstübers Ruhe“ unweit des Zeitlerschen Grabmals und Berliner Friedhofsnacht siehe Eintrag auf dieser Internetseite (Berlin/Brandenburg) vom 21. Juni 2023

8. Juli 2023