„Liebe Kitty – Deine Anne“ -
Das Anne Frank Zentrum in einem Hinterhaus an der Rosenthaler Straße in Berlin besteht 30 Jahre

Im Haus Rosenthaler Straße 39 unweit des Hackeschen Markts gab es eine Wäschefabrik und eine Bürstenfabrik. Das im Hinterhof untergebrachte Anne Frank Zentrum bietet für Schulklassen und Jugendgruppen pädagogische Programme an. Von hier aus werden die deutschen Anne-Frank-Wanderausstellungen koordiniert.

Mit dem Schreiben werde sie alles los, ihr Kummer verschwinde, ihr Mut lebe wieder auf, schrieb Anne am 5. April 1944 und fügte die bange Frage an: „Werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden?“

Anne Frank wuchs in einer gut situierten jüdischen Familie auf. Das Foto von 1933 zeigt sie links mit der Mutter Edith und der älteren Schwester Margot in Frankfurt am Main. Die Familie floh 1934 nach Amsterdam und war dort bis zum deutschen Überfall 1940 auf die Niederlande sicher.

Mit einem solchen Radioapparat hörten die Untergetauchten hinter verhängten Fenstern heimlich den Londoner Rundfunk. Otto Frank markierte auf einer Landkarte den Vormarsch der Alliierten in der Hoffnung auf baldige Befreiung.

Anne Franks im Versteck an der Prinsengracht 263 verfasstes Tagebuch erschien in 70 Sprachen. 2009 wurde es von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen. Im Berliner Anne Frank Zentrum sind zahlreiche Tagebuchausgaben sowie Bücher über Anne Frank und ihre Familie zu sehen und zu lesen.

Das Grab von Margot und Anne Frank im KZ Bergen Belsen ist nicht bekannt. Der Stein erinnert an die Schwestern und die unzähligen anderen Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik.

Die Stolpersteine wurden 2009 am Pastorplatz 1 in Aachen gelegt, dem letzten Wohnort der Familie Frank in Deutschland vor ihrer Emigration in die Niederlande. Im Berliner Anne Frank Zentrum sind sie stellvertretend für die vielen über Europa verteilten Erinnerungsmale ausgestellt.
(Fotos/Repros: Caspar)
Das Anne-Frank-Zentrum im Hinterhof des Hauses Rosenthaler Straße 39 unweit des S-Bahnhofs Hackescher Markt in Berlin-Mitte entstand vor 30 Jahren als Bürgerinitiative mit dem Ziel, Wissen über die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocausts zu festigen und zu zeigen, und wie es Menschen gelang, im Untergrund zu überleben. Im vorderen Teil des Hofes erinnern die Blindenwerkstatt Otto Weidt und die Ausstellung „Stille Helden“ daran, wie Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus menschlich handelten, indem sie unter Lebensgefahr Juden bei sich aufnahmen und versorgten. Otto Weidt gelang es, das Leben einiger seiner Schützlinge zu retten, leider aber nicht das von allen.
Berichtet wird im Anne Frank Zentrum aus dem Leben von Anne Frank, ihrer Familie und ihren Freunden im Untergrund und wie sie im August 1944 an die Gestapo verraten, verhaftet und über Zwischentationen ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden. Anne und ihre Schwester starben im KZ Bergen-Belsen. Dort erinnert ein Gedenkstein an die Schwestern, die hier im Februar oder März 1945 an den Folgen einer Typhuserkrankung, Hunger und an Erschöpfung starben.Wie andere Häftlinge wurden sie anonym in einem Massengrab verscharrt.
Die Angst war allgegenwärtig
Als einziger der Familie überlebte dort Vater Otto Frank, und er war es auch, der die von den Freunden und Helfern der Familie, Miep Gies und Bep Voskujil, geretteten Tagebücher seiner heranwachsenden Tochter schon 1948 in den Niederlanden als Buch mit dem Titel „Het Achterhuis“ (Das Hinterhaus) heraus brachte. Das Tagebuch des dreizehn- bis fünfzehnjährgen Mädchens erschien seither in einer Millionenauflage in 70 Sprachen. Anne vertraute sich ihm an, um ihren Ängsten und den Problemen im Zusammenleben von acht Personen auf engstem Raum ohne ausreichende Versorgung und eine realistische Aussicht auf ein nahes Ende dieses Alptraums zu begegnen. Angesichts der ständigen Bedrohung durch Razzien, aber auch durch Luftangriffe war bei ihnen die Angst allgegenwärtig. Jederzeit konnten sie verraten und verhaftet werden. Was folgen würde, war allen klar – Zwangsarbeit, Deportation in ein Konzentrationslager und Tod.
Im Hinterhaus wusste man von den Massenmorden, im Radio war davon die Rede. Anne schilderte am 9. Oktober 1942, wie es gefangen genommenen Juden ergeht. „Wenn es in Holland schon so schlimm ist, wie muss es dann in Polen sein? Wir nehmen an, dass die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen, vielleicht ist das noch die schnellste Methode zu sterben. (…) Ein schönes Volk, die Deutschen, und da gehöre ich eigentlich auch noch dazu! Aber nein, Hitler hat uns längst staatenlos gemacht.“
Fotos, Dokumenten und Sachzeugen
Die Anne Frank und ihrer Familie und Freunden sowie den vielen anderen Opfern des Holocausts gewidmete Gedenk- und Bildungsstätte in der Rosenthaler Straße schildert anhand von Fotos, Dokumenten und Sachzeugen, warum Otto und Edith Frank, die Eltern von Anne und ihrer Schwester Margot, 1934 Frankfurt am Main verließen und in die Niederlande emigrierten. Als das Land 10. Mai 1940 von der deutschen Wehrmacht überfallen wurde, begann für die dort lebenden Juden und mit ihnen auch für die Familie Frank eine schwere Zeit. Die Verhaftung durch die Gestapo vor Augen, versteckten sich die Familie Frank und vier Freunde in einem Hinterhaus an der Amsterdamer Prinsengracht 263. Dort begann Anne am 12. Juni 1942 ihr an die fiktive Freundin Kitty gerichtetes Tagebuch in niederländischer Sprache. Anne hatte sich die Sprache ihres Gastlandes schnell angeeignet, und sie soll die neue Landessprache sehr gut mit einem leichten Akzent beherrscht haben. Nur allzu gern wäre Anne Niederländerin geworden. „Ich liebe die Niederländer, ich liebe unser Land, ich liebe die Sprache und will hier arbeiten. Und wenn ich an die Königin selbst schreiben muss, ich werde nicht aufgeben, bevor mein Ziel erreicht ist“, vertraute sie ihrem Tagebuch am 4. Mai 1944 an.
Zu ihrem 13. Geburtstag hatte Anne ein rosa eingebundenes Poesiealbum geschenkt bekommen. Als Tagebuch genutzt und schon bald voll geschrieben, wird eine Nachbildung In der Ausstellung gezeigt. Dort sind Alltagsgegenstände wie ein Radio, mit dem die Familie heimlich so genannte „Feindsender“ hörte, und andere Erinnerungsstücke aus der eigenen Sammlung oder als Leihgaben aus Amsterdam gezeigt. Zahlreiche Bild-Text-Tafeln und Zitate aus dem Tagebuch sowie Hörstationen helfen, Anne und ihrer Familie in Frankfurt am Main, Aachen und Amsterdam näher zu kommen und die Ängste, Gefühle, Hoffnungen und Beobachtungen des Mädchens zu erfassen, das sich in seiner Abgeschiedenheit nichts so sehr wünschte als einmal laut lachen und ohne Angst, an der frischen Luft spazieren zu gehen und die Schule besuchen zu können.
Zwischen Selbstvertrauen und Zweifeln
Annes Aufzeichnungen gehören zu den eindringlichsten Dokumenten für das Leben der Familie Frank und ihrer Freunde in tiefer Illegalität . Ihre Annes Gefühle schwanken zwischen Selbstvertrauen und Zweifeln, Träumen und Ängsten und sind gepaart mit der Hoffnung auf ein Ende der Gefangenschaft in der „Hinterburg“, wie sie schreibt. Ihrem Tagebuch vertraute sie an, dass sich ihre Eltern an den regelmäßigen Glockenschlag der benachbarten Kirche nicht gewöhnen können, während ihr diese Geräusche nicht unangenehm sind. „Das Hinterhaus ist ein ideales Versteck. Obwohl es feucht und ein bisschen schief ist, wird man wohl in ganz Amsterdam, ja vielleicht in ganz Holland kein so bequem eingerichtetes Versteck finden. Unser Zimmer war mit seinen nackten Wänden bis jetzt noch sehr kahl. Dank Vater, der meine ganze Postkarten- und Filmstarsammlung schon vorher mitgenommen hatte, habe ich mit Leimtopf und Pinsel die ganze Wand gestrichen und aus dem Zimmer ein einziges Bild gemacht. Jetzt sieht es viel fröhlicher aus“, schreibt Anne am 11. Juli 1942. Am 29. März 1944 notiert sie, Minister Bolkenstein (Gerrit Bolkenstein war in der Londoner Exilregierung für Bildung und Kultur zuständig. H. C.) habe im Radio Oranje seine Landsleute aufgefordert, Tagebücher und Briefe aus dieser Zeit zu sammeln, um sie nach dem Krieg zu veröffentlichen. „Natürlich stürmten alle gleich auf mein Tagebuch los. Stell dir vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman vom Hinterhaus herausgeben würde. Nach dem Titel allein würden die Leute denken, dass es ein Detektivroman wäre. Aber im Ernst, es muss ungefähr zehn Jahre nach dem Krieg schon seltsam erscheinen, wenn erzählt wird, wie wir Juden hier gelebt, gegessen und gesprochen haben. Auch wenn ich Dir von uns erzähle, weißt du trotzdem nur ein kleines bisschen von unserem Leben.“
Anne nahm den Aufruf des Ministers zum Anlass, ihre Aufzeichnungen so zu bearbeiten, dass sie auch von Dritten verstanden werden können. Ihren nicht immer friedlich und freundlich gesonnenen, sondern hohem Stress ausgesetzten Mitbewohnern gab sie Pseudonyme, die ihr Vater bei der Edition nach dem Krieg aber nicht beibehielt. Im Anne Frank Zentrum wird am Beispiel der ganz vorsichtigen Liebesbeziehung zu dem im gleichen Hinterhaus wohnenden, zwei Jahre älteren Freund Peter van Pels gezeigt, wie sie um Formulierungen gerungen hat, die nicht allzu sehr die Wünsche, Sehnsüchte eines Mädchens mitten in der Pubertät und dann noch als Gefangene im Hinterhaus preisgeben. Über ihren im August 1942 als Dummkopf und Faulpelz bezeichneten und nur mit Schreinerarbeiten beschäftigten Freund schreibt sie im Mai 1944, was er lernt: „Englisch, Französisch (schriftlich), niederländisch Steno, englisch Steno, deutsch Steno, englische Handelskorrespondenz, Holzbearbeitung, Staatswirtschaftslehre und ab und zu Rechnen. Liest wenig.“ Die beiden kamen sich mit der Zeit näher, aber unter den gegebenen Umständen wurde aus der Freundschaft nicht mehr. Auch Peter van Pels erlebte die Befreiung nicht.
Im Hinterhaus ist Aufruhr
Hoffnung auf ersehnte Befreiung kam auf, als die Eingeschlossene in der BBC London von der Invasion der Briten und Amerikaner am D-Day, dem 6. Juni 1944, an der Atlantikküste hören. „Das Hinterhaus ist in Aufruhr. Sollte denn nun wirklich die lang ersehnte Befreiung nahen, die Befreiung, über die so viel gesprochen wurde, die aber zu schön, zu märchenhaft ist, um je wirklich werden zu können? (…) Die schrecklichen Deutschen haben uns so lange unterdrückt und uns das Messer an die Kehle gesetzt, dass Freunde und Rettung alles für uns sind. (…) Vielleicht, sagt Margot, kann ich im September oder Oktober doch wieder zur Schule gehen.“
Wenige Tage vor ihrer Entdeckung und Verhaftung hören die Eingeschlossenen vom Attentat des Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Hitler am 20. Juli 1944. Dass es scheiterte, bedauern sie zutiefst. Anne notiert, der Anschlag sei der Beweis, „dass es viele Offiziere und Generäle gibt, die den Krieg satt haben und Hitler gern in die tiefsten Tiefen versenken würden, um dann eine Militärdiktatur zu errichten, mit deren Hilfe Frieden mit den Alliierten zu schließen, erneut zu rüsten und nach 20 Jahren wieder einen Krieg zu beginnen.“
Verraten und in den Tod geschickt
Nachdem die Familie Frank und weitere Mitbewohner am 4. August 1944 von einem namentlich mit letzter Gewissheit nicht bekannten Juden- oder Kopfgeldjäger an die Gestapo verraten und verhaftet worden war, begann für sie ein entsetzlicher Leidensweg, der sie ins Sammellager Westerbork und von dort nach Auschwitz und in andere Konzentrationslager führte. Annes Aufzeichnungen waren bei der Verhaftung der Familie der Gestapo entgangen. Miep Gies, eine Freundin der Familie, übergab sie nach dem Krieg an Otto Frank, der als einziger der Untergetauchten Auschwitz überlebt hatte. Er veröffentlichte sie 1947 unter dem schon von seiner Tochter vorgesehen Titel „Het Achterhuis“ (Das Hinterhaus). 1950 erschien „Das Tagebuch der Anne Frank“ in deutscher Übersetzung. Alt- und Neonazis versuchten und versuchen, es als Fälschung hinzustellen und überhaupt den Mord an den Juden durch die Nationalsozialisten zu leugnen oder klein zu reden.
Hitlers Ende und das des Zweiten Weltkriegs zu erleben, war Anne Frank nicht vergönnt. Ewig aber bleibt sie im Gedächtnis durch ihr Tagebuch und weitere, weniger bekannte autobiographisch Texte, aber auch Märchen und Erzählungen. Was aus ihr geworden wäre, lässt sich nicht sagen. Dem aus Österreich stammenden SS-Oberscharführer Karl Josef Silberbauer, der Anne Frank und ihre Familie am 4. August 1944 verhaftet hatte, ist nach dem Krieg nichts geschehen. Ein Gericht sprach ihn frei, weil er „nach Befehl“ gehandelt hatte. Der Bundesnachrichtendienst schloss ihn als Mitarbeiter in seine Arme, und er war nicht der einzige seiner Art.
„...wenn du dich wendest, schweige nicht“
Anne Franks Erlebnisse, Ängste und Träume unter den Bedingungen der Illegalität zwischen dem 6. Juli 1942 und dem 4. August 1944 waren der Stoff für Filme und eine Oper. 1957 gründete Otto Frank die Anne Frank Foundation, um das Haus in Amsterdam, in dem er und seine Familie sich verborgen gehalten hatten, vor dem Verfall zu retten und es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Außerdem schuf er in Basel den Anne Frank Fonds als Wohltätigkeitsstiftung. Er vermachte ihm das Copyright an dem Tagebuch mit der Auflage, den überwiegenden Teil der Einnahmen für humanitäre Projekte einzusetzen. So hilft der Fonds Verfolgten des Naziregimes und Überlebenden des Holocausts und kümmert sich um die Erziehung der Jugend gegen Rassismus. Zahlreiche Schulen, Denkmäler und Straßen erinnern an Anne Frank, und es stimmt optimistisch zu sehen, wenn Schulklassen, Jugendgruppen und andere Besucher im Berliner Anne Frank Zentrum nach der berühmten Tagebuchschreiberin fragen. Mir fällt dabei ein Spruch ein, den ich auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee in Berlin las und der zu meinem Lebensmotto wurde: „Hier stehst du schweigend, doch wenn du dich wendest, schweige nicht.“
13. Dezember 2024