Entrechtet, ausgestoßen, ermordet
Wer im Nazideutschland den Ariernachweis nicht erbringen konnte, wurde seiner Lebensgrundlagen beraubt



Wer den Abstammungsnachweis nicht erbringen konnte, war in seinen noch aus der Zeit der Weimarer Republik stammenden bürgerlichen Rechten noch mehr beschnitten als alle anderen Deutschen, verlor seine seine Arbeit und war als Voll-, Halb- und Vierteljude jeglicher Willkür ausgesetzt. Die Schauwand in der Topographie des Terrors in Berlin dokumentiert den rasanten Ausbau der Nazidiktatur und wie der bei vielen Menschen ankam.



Ein aus drei großen Spiegeln gebildetes Denkmal am Eingang zum U-Bahnhof Hausvogteiplatz ist den hier lebenden und tätig gewesenen Opfern der rassistischen Politik der Nazis gewidmet.



Der Tisch und die Stühle auf dem Koppenplatz in Berlin symbolisieren die Hinterlassenschaften von Juden, die erst aus ihren Wohnungen vertrieben und dann ins Gas geschickt wurden.



Der zwei Meter hohe Buchstabe B auf dem Wittenbergplatz sieht merkwürdig aus, an der fünf Tonnen schweren Stahlskulptur stimmt etwas nicht. Eine kleine Tafel klärt auf, dass der umgedrehte Buchstabe dem Motto „Arbeit macht frei“ über dem Eingangstor zum Vernichtungslager Auschwitz nachempfunden ist.



Was bei der Arisierung des auf billige Ratenzahlungen spezialisierte Kaufhauses Jonass an der Ecke Prenzlauer Allee/Torstraße geschah, wie das Gebäude in den Sitz der Reichsjugendführung umgewandelt wurde und wie die SED es nach 1945 nutzte, hat Sibyl Volks in dem ergreifen den Roman „Torstraße 1“ geschildert. Das Haus iat heute ein Hotel. (Fotos: Caspar)

Die Topographie des Terrors berichtet ausführlich, wie es 1933 zur Errichtung der Nazidiktatur kam und was folgte. Dargestellt wird auf einer Tafel im Außenbereich, wie der jüdische Kondomhersteller Julius Fromm von den Nazis gezwungen wurde, seine Fabrik weit unter Wert für 300.000 Reichsmark zu „verkaufen“. Sie ging an Hermann Görings Patentante Elisabeth Edle von Epenstein-Mauternburg, er erhielt als Gegenleistung zwei von ihren Burgen. 1945 wurde das Gummiwerk in Berlin-Köpenick bombardiert und brannte vollständig aus. Julius Fromm, der das Kriegsende in im Londoner Asyl erlebt hatte, überstand das Ende von Nazi-Deutschland, den Wiederaufbau seines Betriebes aber nicht. Am 12. Mai 1945 erlag er einem Herzversagen. Fromm's Kondome gab es weiter in der DDR zu kaufen. Sie waren als „Fromms“ bekannt. Kaum jemand kannte ihre historischen Hintergründe. (Fotos: Caspar)

Beamte, Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, Ärzte, Juristen, Wissenschaftler und andere Personen mussten nach Errichtung der Nazidiktatur nachweisen, dass sie arischer Abstammung sind, das heißt, dass sie keine Juden beziehungsweise Sinti und Roma sind und es keine Vorfahren aus diesen Gruppen gibt. Bestandteil des so genannten Ariernachweises waren Stammbäume, die den von der NS-Regierung und den Rassegesetzen geforderten Nachweise untermauerten. Der Ariernachweis wurde darüber hinaus von Berufsverbänden wie der Reichsschrifttumskammer, aber auch von Unternehmen als Voraussetzung für eine Einstellung verlangt. Selbstverständlich wurde der Ariernachweis von der NSDAP verlangt, wenn jemand sich um die Aufnahme bemühte. Die Forderung innerhalb der katholischen und evangelischen Kirche, dass Gemeindemitglieder einen Ariernachweis führen müssen, führte zu heftigen Auseinandersetzen und zur Opposition durch die Bekennende Kirche.

Grundlage für den als Instrument der nationalsozialistischen Rassenpolitik eingeführten Ariernachweis war der so genannte Arierparagraph im“ Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. In einer Durchführungsverordnung heißt es: „Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdischen Religion angehört hat.“ Um als arisch anerkannt zu werden, musste die Abstammung von nichtjüdischen Großeltern bewiesen werden.

Schnüffelei in Kirchenbüchern

Die Abstammung und Religion von Urgroßeltern und anderen Vorfahren wurde im Gesetz außer Betracht gelassen, was zu absurden Widersprüchen vor allem dann führen konnte, wenn jüdische Urgroßeltern ihre Kinder hatten christlich taufen lassen. Dann waren deren Kinder und Enkel laut Gesetz „reinrassige Arier“, anderenfalls waren sie „Nichtarier“. Trat ein Enkel christlicher Großeltern zum Judentum über, so waren seine Kinder und Enkel fortan ebenfalls „Nichtarier“, auch wenn ihre Vorfahren alle Christen gewesen waren.

Beim Kleinen Ariernachweis mussten amtlich beglaubigte Geburts- oder Taufurkunden sowie Heiratsurkunden der Eltern und Großeltern vorgelegt werden, ersatzweise auch ein beglaubigter Ahnenpass oder Ahnentafel. Bei der Überprüfung dieser Vorlagen mussten katholische Diözesen und evangelische Pfarrämter den staatlichen Behörden Einsicht in ihre Kirchenbücher gewähren und Auskünfte über persönliche Daten gewähren. Vor allem die Deutschen Christen, die sich „SA Gottes“ nannten, und ihnen nahestehende Geistliche fahndeten in ihren Tauf- und Trauregistern nach Gemeindemitglieder mit jüdischen Vorfahren meldeten sie den Behörden. Seit 1934 wurde der Personenkreis, der den Kleinen Ariernachweis erbringen musste, auf alle Mitarbeiter des Reiches und der Gemeinden sowie auf Ärzte, Juristen und Schüler höherer Schulen ausgedehnt.

Großes Leid durch Arisierung

Der von den Nationalsozialisten angeordnete Raub jüdischen Eigentums in Gestalt von Betrieben, Läden und anderen Einrichtungen im Deutschen Reich und den von der Wehrmacht besetzten Ländern hat unter dem Stichwort Arisierung immensen Schaden und großes menschliches Leid verursacht. In der dicht besiedelten Innenstadt von Berlin gab es zahlreiche Kaufhäuser, Textilfabriken und andere Betriebe in jüdischem Besitz. Systematisch gingen die Nazis nach 1933 gegen die Eigentümer vor. Die Enteignung erfolgte unter immensem Druck und meist ohne oder für geringe Entschädigung. Wer von den „Arisierten“ konnte, verließ das Land, andere bezahlten ihre Hoffnung auf Beruhigung der Lage und Besserung der Verhältnisse mit ihrem Leben.

Arisierung und Konfiszierung waren Teile der Judenverfolgung. Manche Familien mussten sich von ihren Immobilien oder/und Kunstbesitz unter hohen Verlusten trennen, um die Kosten für ihre Emigration bezahlen zu können. Diese Zwangsverkäufe spielen bei der aktuellen Diskussion über Raubkunst und ihre Restitution an die Nachkommen der früheren Besitzer eine große Rolle. Wer die so genannte steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung nicht nachweisen konnte, wer also nicht genug finanzielle Mittel besaß um zu fliehen, kam nach Kriegsbeginn in die Vernichtungslager und wurde ermordet.

Konkurrenten profitierten

Die Raubzüge erfolgten zugunsten von Konkurrenten, die sich Produktionsbetriebe, Warenhäuser, Läden und Ladenketten aneigneten und sie unter anderem Namen und mit neuer Leitung weiter betrieben. Ein solcher Fall war in Berlin Feinkost- und Spirituosenkette Meyer, deren Werbeslogan „Keine Feier ohne Meyer“ bis heute populär ist. Dass der 1913 verstorbene Firmengründer Hermann Meyer und zwei seiner Teilhaber Juden waren, spielte vor 1933 keine große Rolle. Nach der Errichtung der NS-Diktatur zunehmend antisemitischen Angriffen ausgesetzt und mit anderen als typisch jüdisch diffamierten Unternehmen zu „Totengräbern des deutschen Volkes“ abgestempelt, wurde die Firma bis 1938 arisiert. 1941 wurde das Schnaps- und Lebensmittelimperium in Robert Melchert & Co. AG umbenannt.

Ähnlich erging es verschiedenen am Hausvogteiplatz, einem der Zentren der Berliner Textilindustrie, befindlichen Textil- und Konfektionsbetrieben. Deren jüdische Besitzer wurden enteignet und mit ihren Angestellten, sofern sie nicht emigrieren konnten, deportiert und ermordet. Nach dem Ende des NS-Staates behaupteten regimetreue Schreibtischtäter, bei den Raubzügen nur nach Recht und Gesetz gehandelt zu haben. Den wenigsten ist je etwas geschehen, die Überlebenden des Holocaust und ihre Nachkommen kämpfen bis heute um ihre Ehre und ihr Eigentum. Im Westen und im Osten wurden ihnen in sehr vielen Fällen mit fadenscheinigen Begründungen Rückgabe und Entschädigungen verweigert.

Geraubte Mitte

Eine Ausstellung der Stiftung Stadtmuseum Berlin im Ephraimpalais dokumentierte im Gedenkjahr 2013 unter dem Titel „Geraubte Mitte - Die ,Arisierung’ des jüdischen Grundeigentums im Berliner Stadtkern 1933-1945“ die Verfolgung, Entrechtung, Enteignung und Ermordung Berliner Juden während der Zeit des Nationalsozialismus und blickte auch ins Mittelalter zurück, wo Juden ähnlichen Repressionen ausgesetzt waren. Im Unterschied zu anderen Berliner Bezirken eigneten sich im Zentrum der Hauptstadt die Reichsregierung beziehungsweise der Magistrat die meisten Grundstücke an. Viele wurden abgerissen, um auf den leer geräumten Flächen Hitlers Vision von der „Welthauptstadt Germania“ verwirklichen zu können. Von 1500 Grundstücken wurden 225 in jüdischem Besitz befindliche Liegenschaften enteignet oder zwangsweise unter Wert aufgekauft.

2. Februar 2023

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