Aufstand des Gewissens
Peter Hoffmanns Buch von 1985 über Widerstand und das Attentat vom 20. Juli 1944 zeigt die Schwierigkeiten, sich des Hitlers zu entledigen



Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock an der Stauffenbergstraße in Berlin setzt Claus Schenk Graf von Stauffenberg und all den anderen Kämpfern gegen das Hitlerregime ein ergreifendes, mit zahlreichen Text- und Bilddokumenten unterlegtes Denkmal. Das Foto zeigt den Zustand im Zweiten Weltkrieg.



Der zur Exekution geführte, von Richard Scheibe gestaltete Mann mit gefesselten Händen steht an der Stelle, von in der Nacht vom 20. zum 21. Juli 1944 Stauffenberg und einige seiner Mitkämpfer nach dem gescheiterten Attentat in der Wolfsschanze erschossen wurden. Der Attentäter sollt dabei „Er lebe das heilige Deutschland“ gerufen haben. Die Tafel vor der Figur trägt die Inschrift „Ihr trugt die Schande nicht Ihr wehrtet euch Ihr gabt das große ewig wache Zeichen der Umkehr Opfernd euer heißes Leben für Freiheit Recht und Ehre“.







Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand im ehemaligen Bendlerblock (ehemals Sitz des Allgemeinen Heeresamtes und des Befehlshabers des Ersatzheeres im Oberkommandos des Heeres, heute Teil des Bundesverteidigungsministeriums) an der Stauffenbergstraße unweit des Berliner Tiergartens setzt Claus Schenk Graf von Stauffenberg, seinen Mitstreitern und all den anderen Widerstandskämpfern im Deutschen Reich und den von der Wehrmacht besetzten Ländern ein ergreifendes Denkmal.



Hitler hat nach 1933 mehrere Attentatsversuche und auch den vom 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier Wolfsschanze überlebt und schrieb dessen Scheitern der „göttlichen Vorsehung“ zu. Die Fotos zeigen den Leichtverletzten in Begleitung mit dem italienischen Diktator Mussolini bei der Besichtigung der Baracke, in der die von Stauffenberg gelegte Bombe zwar explodierte, nicht aber Hitler, sondern andere Teilnehmer einer Lagebesprechung tötete.







Die 1952 eingeweihte Gedenkstätte in Berlin-Plötzensee rund um den ehemaligen Hinrichtungsschuppen informiert über den Kampf und den Tod unzähliger Widerstandskämpfer am Galgen und unter dem Schafott.



Die am 20. Juli 1944 im Hof des Bendlerblocks erschossenen Offiziere um Claus Schenk Graf von Stauffenberg wurden sofort auf dem Alten Matthäusfriedhof in Schöneberg beigesetzt, aber am Tag darauf auf Befehl vom Reichsführer SS Himmler ausgegraben und verbrannt. Ihre Asche hat man an einem unbekannten Ort verbrannt. (Fotos/Repros: Caspar)

Wie hätte sich die Welt entwickelt, wäre das Attentat des Grafen Claus Schenk von Stauffenberg auf Hitler am 20. Juli 1944 erfolgreich gewesen? Hätten sich die Deutschen einem neuen Regime angeschlossen? Wäre es zu einem Bürgerkrieg mitten im Zweiten Weltkrieg und einem schnellen Einmarsch der Alliierten mit anschließender bedingungslosen Kapitulation gekommen? Wäre eine neue Dolchstoßlegende in die Welt gesetzt worden, wonach angeblich ehrlose Vaterlandsverräter wie 1918 der siegreichen Wehrmacht in den Rücken gefallen sind und so den Untergang des „Tausendjährigen Reichs“ verschuldet haben. Niemand kann solche Fragen beantworten, aber sicher ist, dass der Zweite Weltkrieg schneller beendet worden wäre und Millionen Menschen auf allen Seiten nicht hätten sterben müssen und auch viele Städte vom Bombenhagel verschont geblieben wären. Die von Stauffenberg im Führerhauptquartier Wolfsschanze zur Detonation gebrachte Bombe hatte ihr Ziel nur knapp verfehlt. Hitler überlebte leicht verletzt und empfing schon ein paar Stunden später seinen Kriegspartner, den italienischen Diktator Benito Mussolini.

Welle der Vergeltung rollt an

In einer Rundfunkansprache meldete sich Hitler so zu Wort: „Eine ganze kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger, verbrecherisch-dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtführung auszurotten. Die Bombe, die von dem Obersten Graf von Stauffenberg gelegt wurde, krepierte zwei Meter an meiner rechten Seite. Sie hat eine Reihe von mir teurer Mitarbeiter sehr schwer verletzt, einer ist gestorben. Ich selbst bin völlig unverletzt bis auf ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen oder Verbrennungen. Ich fasse das als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen, so wie ich es bisher getan habe.“ Hitler bezeichnete das gescheiterte Attentat als „Fingerzeig der Vorsehung“, also ein göttliches Zeichen, und kündigte an, sein Werk unbekümmert fortführen zu wollen. Noch in der gleichen Nacht rollte die Welle der Vergeltung an, die Gestapo setzte Sonderkommissionen ein, nahm zahllose Verhaftungen vor und ermordete Beteiligte und Unbeteiligte. Die Nazipresse druckte Ergebenheitsbekundungen an Hitlers Adresse und beschuldigte den „ausländischen Feind“, in den Anschlag verwickelt zu sein.

Claus von Stauffenberg war mit seinen Gefährten schon lange davon überzeugt, dass es Zeit sei, etwas gegen Hitler zu unternehmen, und er war sich über die Konsequenzen für sich und seine Familie ganz im Klaren. „Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem Gewissen. Ich könnte den Frauen und Kindern der Gefallenen nicht in die Augen sehen, wenn ich nicht alles täte, dieses sinnlose Menschenopfer zu verhindern“, erklärte er einem Vertrauten.

Angst vor Gestapoterror und Blutjustiz

Ich habe das Buch von Peter Hoffmann „Widerstand – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler“ aus dem Jahr 1985 gelesen, weil ich wissen möchte, wie sich Stauffenberg und seine Gefährten die Zeit nach dem Attentat auf Hitler, wenn es geglückt wäre, vorgestellt haben und wie sie den zu erwartenden Widerstand in der weitgehend „braunen“ Bevölkerung sowie im Militär, SS, SA, Gestapo, NSDAP, Deutsche Arbeitsfront, Hitlerjugend, Bund deutscher Mädel und so weiter gegenüber dem neuen Regime mit dem Reichsverweser (Staatsoberhaupt) Ludwig Beck an der Spitze und Carl Friedrich Goerdeler als Reichskanzler brechen wollten. Unbestreitbar ist, dass viele, wenn nicht die meisten Deutschen treu und fest zu ihrem „Führer“ standen, solange es ihnen gut ging, die Wehrmacht von einen Sieg zum anderen eilte und auch dafür gesorgt wurde, dass die „Volksgenossen“ nicht hungern und frieren müssen. Die brutale Ausbeutung der besetzten Länder und der Einsatz von Millionen Zwangsarbeitern sowie rigorose Sparmaßnahmen machten die vergleichsweise gute Ernährungslage möglich.

Die von Joseph Goebbels gesteuerte Irreführung und Durchhaltepropaganda, die Angst vor der Gestapo, den Konzentrationslagern und der Freislerschen Blutjustiz waren die Grundlagen, dass die meisten Deutschen n i c h t in den Widerstand gingen, sondern mit sich machen ließen, wie es Hitler und seine Leute für richtig hielten. Die englischen und amerikanischen Bombenangriffe konnten ungeachtet hoher Verluste an Blut und Gut die allgemeine Kampfmoral nicht brechen, wie man es sich in England und den USA erhofft hatte.

Verdikt hatte lange Bestand

Viele Menschen dankten Gott oder wem auch immer, dass Hitler den Anschlag überlebt hatte, und stimmten seinem Rachefeldzug zu, denunzierten untergetauchte Verschwörer und versprachen einander, „noch“ fanatischer für den Erfolg des von Goebbels verkündeten totalen Kriegs zu kämpfen. Sie sahen in den Leuten um Stauffenberg nichts als elende Landesverräter und eidbrüchige Verbrecher, die den Tod verdient haben. Dieses Verdikt hatte nach 1945 lange Bestand in unbelehrbaren Kreisen im deutschen Westen. Sie taten sich schwer, die Naziverbrechen zur Kenntnis zu nehmen und mit den Tätern abzurechnen. Während der Gerichtsverfahren gegen sie kam es zu Sympathiekundgebungen, und es ergoss sich eine Fülle von Publikationen über das Land, die den Holocaust und die Kriegsverbrechen leugneten oder kleinredeten. Dass ehemalige Nazis weiter in Amt und Würden belassen wurde, wirft einen dunklen Schatten auf ihre frühen Jahre der Bundesrepublik. In der DDR hat man vor allem den Widerstand durch Kommunisten und, wenn es denn sein musste, der Sozialdemokraten und Kirchen in den Vordergrund gerückt. Dass es diesen aus unterschiedlichen Gründen auch in bürgerlichen und adligen Kreisen und beim Militär gab, wie Peter Hoffmann in seinem Buch ausführlich und überzeugend schildert, fiel weitgehend unter den Tisch.

Claus von Stauffenberg und seine Mitstreiter hatten weitreichende Pläne für die Zeit „danach“ ausgearbeitet und auch Listen von Persönlichkeiten aufgestellt, die nach dem Attentat, wenn es denn Erfolg gehabt hätte, die bisherigen Elite ersetzen, den Krieg beenden und das Deutsche Reich in eine bessere Zukunft führen sollten. Dazu gab es von Peter Hoffmann sorgsam dokumentierte Sondierungen mit England und den Vereinigten Staaten, deren Vertreter sich aber mit Zusagen, wie sie der Widerstand erwartete, zurück hielten. Funktionäre in der Regierung, den Sicherheitsdiensten,Justiz, Wehrmacht und Nazipartei, die Mörder in den Konzentrations- und Vernichtungslagern und den für Kranke und Schwache bestimmten Tötungsanstalten und viele andere Personen im Propagandaapparat und Planungsgruppen der SS mussten mussten mit juristischer Verfolgung rechnen und hatte viel zu verlieren. Sie hätten sich kaum freiwillig vor Gericht stellen und ins Abseits drängen lassen. Ein Bürgerkrieg mitten im Krieg wäre den Alliierten gelegen gekommen, denn sie wären schneller ans Ziel, die bedingungslose Kapitulation, gekommen. Viele Opfer der Naziideologie hätten im Untergrund den Kampf gegen die Eroberer und Besatzer gewagt. Überlegungen zu diesen Fragen scheinen in den Diskussionen unter den Leuten um Stauffenberg und in anderen Zirkeln eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Da und dort ist von „romantischen Vorstellungen“ darüber die Rede, dass sich alles zum Guten wende, wenn erst einmal Hitler tot ist.

Monarchie oder Demokratie

Unzählige brisante Dokumente fielen der Gestapo in die Hände. Peter Hoffmann zitiert aus Denkschriften, Verfassungsentwürfen, Plänen und Programmen. Zur Diskussion standen die Wiederherstellung der Monarchie mit dem Prinzen Louis Ferdinand von Preußen an der Spitze und ein Ständestaat vordemokratischen Musters, aber auch die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie, wie sie in der Weimarer Republik bestand, aber ohne ihre offensichtlichen Gebrechen, die zum Aufstieg der NSDAP führten. Alle diese Absichtserklärungen hatten die Tötung von Hitler zur Voraussetzung.

Die Widerstandskämpfer wollten die Deutschen mit Appellen an ihr Gewissen auf ihre Seite ziehen, doch wie das praktisch geschehen sollte und wie man die Stützen des Naziregie und alle die unzähligen Uniformträger mit blutbefleckten Händen „neutralisieren“ und ihres Einflusses auf die Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Lebensweise berauben wollte, wie man mit dem KZ-System, dem Holocaust und anderen Massenverbrechen umgehen wollte, ja auch wer denn über die Täter und Mörder richten sollte, bleibt in den Absichtserklärungen weitgehend offen.

Grausames Ende in Plötzensee

Erstaunlich ist, dass sich die Widerstandskämpfer ungeachtet der Überwachung durch die Gestapo längere Zeit ziemlich frei treffen, brisante Dokumente verfassen und austauschen und Kontakte in neutrale Staaten wie Schweiz und Schweden knüpfen und pflegen und wie sie in England und den USA um Unterstützung für ihre Pläne nachsuchen konnten. Peter Hoffmann zufolge hat die Gestapo Spitzel in Widerstandsgruppen geschleust, worauf deren Mitglieder verhaftet und ermordet wurden. Um von ihnen Geständnisse und Informationen zu erpressen, wurden die Gefangenen meist ergebnislos gefoltert. Bei Todeskandidaten hat man, wenn es opportun war, die Hinrichtung hinaus gezögert wurde, um an weitere Geheimnisse zu gelangen. Peter Hoffmann schildert auch, unter welch schrecklichen Umständen in Plötzensee die Hinrichtungen vollzogen und dabei der Todeskampf der am Strick hängenden Delinquenten (z. B. Goerdeler) noch künstlich verlängert wurde.

Das Buch endet mit dem Schicksal von Männern, Frauen und Kindern, die in Sippenhaft genommen wurden. Leider geht es auf die Frage ein, wie es nach dem Krieg und dem Ende der Naziherrschaft den Widerstandskämpfern beziehungsweise den Tätern und Mördern erging. Eine kritische Bestandsaufnahme hätte das Buch von Peter Hoffmann abgerundet, wird aber in anderen Publikationen vorgenommen. Seine Lektüre hatte mir Prof. Dr. Johannes Tuchel (Gedenkstätte Deutscher Widerstand) empfohlen, nachdem ich ihm die obigen Fragen gestellt hatte.

Angeklagte wurden zu Anklägern

Peter Hoffmann schildert, der wie die Verhandlungen vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler geführt wurden und wie er die Angeklagten in unflätiger Weise anbrüllte. Hinter den Hakenkreuzfahnen gab Filmaufnahmegeräte, die jeweils auf sein Klopfzeichen in Gang gesetzt wurden. Freislers Ziel war es, die Angeklagten vor ihrer schon vorher festgelegten Hinrichtung seelisch zu vernichten und sie als jämmerlich und moralisch minderwertig erscheinen zu lassen. Der Film wurde nur in internen Kreisen gezeigt und erreichte das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung. Sämtliche Angeklagten zeichneten sich durch aufrechte , mutige Haltung aus und wurden mit den wenigen Worten, die Freisler ihnen gestattete, zu Anklägern.

So hielt der von Folter und Haft gezeichnete ehemalige Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben hielt Freisler entgegen: „Sie können uns dem Henker überantworten . In drei Monaten zieht das empörte und gequälte Volk Sie zur Rechenschaft und schleift Sie bei lebendigen Leibe durch den Gosse der Straße.“ Obwohl Freisler meist mit Erfolg versuchte, die Angeklagten daran zu hindern, etwas über ihre Motive zu sagen, gab es solche Erklärungen. Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg sagte: „Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einen namenlosen Elend zu bewahren. Ich bin mir klar, dass ich darauf gehängt werde, bereue meine Tat aber nicht und hoffe dass sie ein anderer in einem glücklicheren Augenblick, durchführen wird.“ Fritz Graf Schwerin von Schwanenfeld erwähnte die vielen Morde in Polen, worauf ihm Freisler ins Wort fiel und weiteres Sprechen verbot. Peter York von Wartenberg erklärte, das Wesentliche sprach den totalen Anspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger an und leitete daraus seine religiöse und sittliche Verpflichtungen ab, dagegen aufzustehen. Hans Werner von Haeften nannte Hitler einen großen Vollstrecker des Bösen. Fritz Graf Schwerin von Schwanenfeld erwähnte die vielen Morde in Polen, worauf ihm Freisler ins Wort fiel und weiteres Sprechen verbot. Peter York von Wartenberg erklärte: „Das Wesentliche ist, was alle diese Fragen verbindet, der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen Gott gegenüber.“ Hans Werner von Haeften nannte Hitler einen großer Vollstrecker des Bösen.

„Freisler ist unser Wyschinski“

Alle diese Äußerungen kamen nicht ins amtliche Gerichtsprotokoll und wurden erst nach dem Ende der Naziherrschaft bekannt. Hitler ließ sich die heimlich gemachten Filmaufnahmen vorführen und weidete sich auch an den Todesqualen der in Plötzensee erhängten Widerstandskämpfer. Überliefert ist seine Äußerung, wonach „diese Verbrecher“ aus der Wehrmacht ausgestoßen werden sollen. „Sie kommen vor den Volksgerichtshof. Die sollen nicht die ehrliche Kugel bekommen, die sollen hängen sie gemeinde Verräter. (…) Die müssen sofort hängen ohne jedes Erbarmen“, sagte er und fügte hinzu: „Aber der Freisler wird schon machen, das ist unser Wyschinski“, womit der Ankläger in den Moskauer Schauprozess in den dreißiger Jahre gemeint war, die Stalin gegen seine Gegner veranstaltete und regelmäßig mit Todesurteilen endeten.

6. Juli 2023