„Freie Wahlen ohne falsche Zahlen“

Wie Bilder von der Massendemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 ins westdeutsche Fernsehen gelangten



Während sich Erich Honecker und seine Genossen am 7. Oktober 1989 in der Berliner Karl-Marx-Allee bejubeln ließ, braute sich ein gefährliches Gewitter im Land zusammen. Es dauert nicht lange, da war der Spuk vorbei

 

Überall in Leipzig erinnern Fotos und Gedenktafeln an den Beginn der Friedlichen Revolution 1989 und wie die „bewaffneten Organe“ bei den Montagsdemos gegen die Menschen vorgingen, die nichts anderes wollten als Freiheit und Demokratie und das Ende der Alleinherrschaft der SED.
Die unter dramatischen Bedingungen gedrehten Szenen des Bürgerrechtlers und Journalisten Siegbert Schefke und seiner Freunde sowie weitere erschütternde Bilder gehören zum Gedächtnis der Friedlichen Revolution 1989.



Am 7. Oktober 2010 wurde das von Peter Luban in Form einer Kerze gestaltete Wende-Denkmal im Herzen von Plauen feierlich eingeweiht. Die im März 1990 frei gewählte DDR-Regierung gab eine Gedenkbriefmarke mit der Reformierten Kirche in Leipzig heraus, um die tausende Demonstranten mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ herumgingen. Von ihrem Turm aus hatten Aram Radomski und Siegbert Schefke ihre Filmaufnahmen gemacht.



Fotos von den Demonstrationen in Plauen erschienen zeitnah im Hofer Anzeiger und der Frankenpost. Die Rentnerin Annaliese Saupe hatte, den kleinen Grenzverkehr nutzend, die von ihrem Sohn Martin Flach angefertigten Aufnahmen ins bayerische Hof geschmuggelt und so dafür gesorgt, dass die Bilder auch überregionale Aufmerksamkeit erhielten.



Nicht mehr aufzuhalten waren im Herbst 1989 die Demonstrationszüge quer durch das Land wie hier auf dem Luisenplatz in Potsdam.



Die Ost-Berliner Gethsemanekirche und andere Gotteshäuser boten Oppositionellen Raum und Schutz, um sie herum hatte sich Stasi und Polizei aufgestellt, und es gehörte viel Mit dazu, die Andachten zu besuchen.



Im Deutschen Historischen Museum sind bei den Umzügen mitgeführte Plakate von 1989 ausgestellt.

(Fotos/Repros: Caspar)

Die friedliche Revolution in der DDR ging im Wesentlichen von Leipzig, der damals ziemlich maroden Buch-, Messe- und Universitätsstadt aus. Was sich hier am 9. Oktober 1989, vor nunmehr 35 Jahren, in Leipzig abgespielt hat, ist in Filmen und Büchern gut dokumentiert. Bei der Montagsdemonstration gingen 70.000 Menschen auf dem Innenstadtring für Freiheit und Demokratie auf die Straße. Neun Tage später musste SED- und Staatschef Erich Honecker angeblich aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten. Sein Nachfolger Egon Kranz fantasierte von der „Wende“ und versprach Reformen, doch kaum jemand glaubte ihm. Einen Monat später fiel die Mauer, und am 3. Oktober 1990 war die DDR Geschichte.

In Leipzig waren es erst wenige hundert Demonstranten, am 9. Oktober 1989 zählte man 70 000 und zum Schluss 120 000 Menschen, die unter den Augen der bis an die Zähne bewaffneten Staatssicherheit und der Polizei auf die Straße gingen. Auch wenn Polizeilautsprecher laut aufgedreht und Schlägertrupps auf die Demonstranten einprügelten – Rufe wie „Wir sind das Volk“ , „Keine Gewalt“, „Freie Wahlen ohne falsche Zahlen“, „Rechtssicherheit statt Staatssicherheit“, "Schließt Euch an!" und andere ließen sich nicht übertönen.

Wackelige, unscharfe Bilder
Die Genossen in der SED-Bezirksleitung Leipzig beziehungsweise im SED-Zentralkomitee in Berlin standen vor der Frage, ob sie die Stimmung durch Gewaltanwendung, vielleicht sogar durch ein Blutbad, weiter anheizen sollen und der unausbleiblichen „Wende“ eine schlimme Hypothek auferlegen dürfen, oder ob es nicht besser wäre, die Lage durch Gewährenlassen zu deeskalieren, was im Wesentlichen dann auch geschah. Egon Krenz, der den erkrankten SED-Chef und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker vertrat, sah unkalkulierbare Risiken voraus und sprach sich für Vorsicht und Zurückhaltung aus und spielte sich später, als es ihm an den Kragen ging, als Friedensstifter und Vermittler zwischen den Fronten auf.

Bei einem Festakt im Gewandhaus erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz am 9. Oktober 2024, der 9. Oktober 1989 habe die Welt verändert. „Es waren wacklige, teils unscharfe Bilder, die in den Tagen nach dem 9. Oktober 1989 über die westdeutschen Sender liefen. Auf den heimlich vom Turm der Reformierten Kirche aufgenommen Bildern von Aram Radomski und Siegbert Schefke waren einzelne Personen kaum zu erkennen. Was man aber erkennen, was man auf den Aufnahmen noch vielmehr hören konnte: Da sind Abertausende auf den Straßen von Leipzig gewesen. ,Wir sind das Volk' - es war ganz besonders dieser Satz, der fast ohrenbetäubend in den Himmel über Leipzig aufstieg, ein Satz gegen die Angst, der heute noch Gänsehaut auslöst, auch bei mir, dem Westdeutschen aus Hamburg, der heute auch Brandenburger aus Potsdam ist. Ein Satz, dessen Entschlossenheit ein ganzes System aus den Angeln hob. Eben noch schien die Mauer unüberwindbar; einen Monat später brachte das Volk sie zu Fall. Der 9. Oktober 1989 hat die Welt verändert. Die mutigen Bürgerinnen und Bürger in Leipzig haben an diesem Tag die Welt verändert.“ Es sei unerträglich, wie schäbig Populisten und Extremisten den Ruf „Wir sind das Volk“ heute missbrauchen, indem sie „wir“sagen und „ihr nicht“. „Sie sagen ,Volk' und meinen ,Rasse'. Sie bekämpfen die Demokratie. Der Widerspruch zur Freiheitslosung der Frauen und Männer des 9. Oktober 1989 könnte nicht größer sein.“

Ist da was zu erkennen?
Dass die Bilder und Videos von der Massendemonstration am 9. Oktober 1989 ins westdeutsche Fernsehen gelangten, ist mutigen Bürgerrechtlern zu verdanken. In seinem Buch „Als die Angst die Seite wechselte - Die Macht der verbotenen Bilder" (Transit-Verlag Berlin 2019) beschreibt Siegbert Schefke, einer der Kameraleute, wie er mit seinem Freund und Kollegen Aram Radomski in Ost-Berlin der Stasi entwischte und in Leipzig vom Turm der Evangelisch Reformierten Kirche heimlich das dramatische Geschehen zu ihren Füßen filmte. „Wir hatten keinen Monitor, nur den kleinen Sucher. Später hörten wir uns auf dem Band flüstern: ,Ist da überhaupt was zu erkennen?' Einfach weiter drehen, nur laufen lassen. Aram fotografierte. Unten die Sprechchöre: ;Schließt Euch an!', ,Wir sind das Volk', ,Neues Forum zulassen', ,Gorbi, Gorbi', ,Völker hört die Signale'.“

Aram Radomski und Siegbert Schefke spielten auf abenteuerlichem Weg das Bildmaterial westlichen Medien zu. Wie Honecker und seinesgleichen auf die bald darauf im Westfernsehen gezeigten Aufnahmen reagierten, ist nicht überliefert. Aber die von der SED-Propaganda ausgegebene Legende, nur wenige Chaoten und „feindlich-negative Elemente“ würden, vom Westen gesteuert, Ruhe und Ordnung zwei Tage nach dem pompös gefeierten 40. Jahrestag der DDR stören wollen, war ad absurdum geführt. Die Filmkomödie „Vorwärts immer“ von 2017 schildert, wie es ein Schauspieler in der Maske des Erich Honecker auf skurrile Weise erreicht, dass in letzter Minute der Schießbefehl zurück gezogen und ein Blutbad in Leipzig verhindert wird. Wie die Staatssicherheit die als staatsfeindlich eingestuften „Zusammenkünfte oppositioneller Kräfte in Leipzig, Dresden und Magdeburg“ bewertete und wie sie ihnen machtlos gegenüber stand, haben Armin Mitter und Stefan Wolle in ihrem Buch „Ich liebe euch doch alle – Befehle und Lageberichte des MfS Januar – November 1989“ dokumentiert.

Viel Sprachwitz und Scharfsinn
Die Leipziger investierten viel Sprachwitz und Scharfsinn in ihre Transparente und Sprechchöre. Als Bewohner einer von den Versäumnissen der DDR-Wirtschaft und Politik, von mangelhafter Infrastruktur, Verfall der Bausubstanz und Umweltbelastung durch Stromerzeuger und Chemiebetriebe in der Nähe getroffenen Stadt hatten sie besonders zu leiden. Am eigenen Leib erlebten sie die Diskrepanz zwischen öffentlicher Selbstdarstellung des Regimes zweimal im Jahr während der Messe und ihrem tristen, von Mangel und Hoffnungslosigkeit geprägten Alltag. Hinzu kam, dass sie sehen mussten, wie die letzten Ressourcen des Landes nach Ostberlin gepumpt wurden, das als „Hauptstadt der DDR“ und sozialistisches Aushängeschild herausgeputzt und in vielfältiger Hinsicht, vor allem bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs, aber auch mit Baumaterial für marode Stadtquartiere aus der Gründerzeit bevorzugt wurde. Das entfachte Gefühle von Neid und Ohnmacht, und auch diese brachen sich in den Montagsdemonstrationen Bahn.

Was in den dramatischen Wochen im Herbst 1989 geschrieben und skandiert und was sofort von den in den Massenversammlungen stationierten Spitzeln Stasi-Zentrale nach Ostberlin weitergegeben wurde, brachte die Erwartungen der unzufriedenen DDR-Bewohner auf den Punkt. Sie fassten mehr und mehr Mut und konnten auf angesehene und für die Stasi unangreifbare Persönlichkeiten wie den weltbekannten Dirigenten Kurt Masur und den Superintendenten des Kirchenbezirks Leipzig-Ost, Friedrich Magirius zählen. Der 2008 produzierte Spielfilm "Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen" basiert auf der Lebensgeschichte von Siegbert Schefke, Aram Radomski und Roland Jahn.

Deutsche Oktoberrevolution '89
In seiner Dokumentation mit dem „Leipziger Demontagebuch“ hat Wolfgang Schneider aufgeschrieben und durch eindrucksvolle Fotos belegt, was sich in „Leipzig, der Heldenstadt der DDR“ zutrug, wie die Demonstranten ihr Leipzig nannten. „Der Straßenzug um die Innenstadt wurde mit seinen von Montag zu Montag lawinenartig anwachsenden Demonstrationszügen zum Symbol eines kämpferisch erfochtenen Erneuerungsgedankens, der mehr und mehr auf das ganze Land ausstrahlte“, schrieb Schneider 1990. Der demokratische Aufbruch werde als Oktoberrevolution 1989 in die Geschichtsbücher eingehen, seine welthistorische Einmaligkeit gewinne er aus dem Umstand, „dass unorganisierte Volksmassen in führerloser Spontaneität gegen ein von ihnen vermeintlich getragenes gesellschaftliches System auftraten“.

In Berichten über die Friedliche Revolution von 1989 in der DDR ist zu Recht von den Friedensgebeten und den Montagsdemonstrationen in Leipzig die Rede. Nur am Rande und dann meist in Aufzählungen wird erwähnt, was sich in anderen Städten von Rostock über Potsdam bis nach Dresden und Erfurt und anderen Städten ereignete. In der 80 000-Einwohner-Stadt Plauen hatte sich angesichts der Manipulationen und Fälschungen bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 viel Frust angesammelt. Höhepunkt des Widerstandes war eine Massenversammlung mit 20 000 Plauenern am 7. Oktober 1989, als überall im Land der 40. Jahrestag der DDR-Gründung gefeiert wurde. Die zur Niederschlagung aufmarschierten Sicherheitsleute schlugen sich in die Büsche, Hetze in der SED-Presse fruchtete wenig. Hier wie anderswo konnte ein Blutbad vermieden werden.

Kein Artenschutz für Wendehälse
Am 4. November 1989 kamen eine halbe Million Ost-Berliner auf dem Alexanderplatz zur größten freien Demonstration zusammen, die die DDR in ihrer 40jährigen Geschichte gesehen hat. Plakate mit Aufschriften wie „Glasnost und nicht Süßmost“, „Volksauge sei wachsam“, „Pässe für alle – der SED den Laufpass“, „Stasi an die Stanze“, „Öko-Daten ohne Filter“, „Kein Artenschutz für Wendehälse“ oder „Rücktritt ist Fortschritt“ und „Sägt die Bonzen ab - nicht die Bäume“ wurden hoch gehalten, dazu Honecker in Häftlingskleidung und eine Karikatur von Egon Krenz als zähnefletschender, Kreide fressender Wolf wie im Märchen vom Rotkäppchen.

Es gibt erschütternde Berichte von Augenzeugen und Betroffenen über die Brutalität und die Menschenverachtung, die Stasi-Leute und Volkspolizisten bei der Auflösung der Protestmärsche und bei den so genannten Zuführung an den Tag legten. Noch im Oktober 1989 veröffentlichte der Berliner Maler und Grafiker Manfred Butzmann eine hektografierte Broschüre mit dem Titel "Ich zeige an. Berichte von Betroffenen zu den Ereignissen am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin". Das 150-seitige Heft beginnt mit dem Zitat von einem Zettel, den junge Leute verbreitet hatten und in dem gefordert wurde: "Werdet aktiv! Tausende Bürger verlassen unser Land, Demonstrationen werden niedergeknüppelt, eine Opposition ist illegal. Eine greise starre Regierung feiert sich in unglaublicher, verdächtiger Weise (Fackelzug usw.), stellt sich: blind - taub - stumm. Nur wenn wir alle endlich den Mund aufmachen und gemeinsam handeln, gibt es für unser krankes Land Hoffnung."

Prügelorgien der Stasi
Die Broschüre enthält zahlreiche Gedächtnisprotokolle von Frauen, Männern und Jugendlichen, die geprügelt wurden und stehend mit den Gesichter zur Wand wie Schwerverbrecher in Garagen und auf kalten Gefängnisgängen festgehalten wurden, ohne dass sie etwas zu essen und zu trinken bekamen und ohne dass sie auf eine Toilette gehen durften. Die Berichte wurden von Butzmann, der selber zu den Betroffenen gehörte und geschlagen wurde, zur Grundlage einer Anzeige gemacht. Es soll Volkspolizisten gegeben haben, notiert Butzmann, die sich an den Einsätzen nicht beteiligen wollten. „Beweisen wir auch ihnen unsere Solidarität, wie sie auch uns bewiesen wurde, von Christen, von Kollegen und Genossen, Genossen also, deren Mitgefühl größer war als ihre Parteidisziplin."

Die Berichte aus dem Gefängnis Rummelsburg und an anderen Orten in Berlin zeigen dies klar und unmissverständlich: Hier wollte das Regime Stärke zeigen und abschrecken. Es machte keinen Unterschied zwischen Demonstranten auf der einen Seite und einigen Randalierern, die es natürlich auch gab und die es auf Prügeleien mit der Polizei und Stasi abgesehen hatten.

Verhaftet und drangsaliert wurden völlig unbeteiligte Bürger, die zufällig im Prenzlauer Berg unterwegs waren und in eine Polizeifalle gerieten, und auch solche, die wegen ihrer Kleidung oder Frisur von Sicherheitsleuten als feindlich-dekadent eingestuft wurden und deshalb in den Strudel der Gewalt gerieten. Die von Stasiminister Erich Mielke angeheizte Prügelorgien und die gewaltsamen Zuführungen haben viele Menschen, die bis dahin loyal zur SED und zur DDR standen, in tiefe Zweifel an der Richtigkeit dessen gebracht, was offizielle Staats- und Parteipolitik war. Mielkes Schlägertrupps sorgten ungewollt dafür, dass die Zahl derer weiter zunahm, die von der SED-Herrschaft die Schnauze voll hatten.

10. Oktober 2024