„Heldendrama von antiker Größe“
Wie vor 80 Jahren die Nazi-Propaganda den Untergang der 6. Armee im Kessel von Stalingrad einen Sieg umdeutete



Der am 5. Mai 1953 verstorbene Diktator Josef Stalin kommt im heutigen Russland wieder zu Ehren. Er steht für den Sieg über Nazideutschland, aber auch für eine Schreckensherrschaft, der Millionen Menschen zum Opfer fielen. Putins Propaganda blendet Stalin Verbrechen aus und kündet an, in seinem Geiste gegen den Faschismus in der Ukraine zu kämpfen.





Die Nazipropaganda mochte es drehen und wenden, an der deutschen Niederlage bei Stalingrad konnte sie nichts ändern, und auch der Schwur, für sie Vergeltung zu üben, ließ sich nicht verwirklichen, denn nach dem 2. Februar 1943 ging es zurück und bergab.







Als der Propagandaminister am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast mit einer flammenden Rede den „totalen Krieg“ verkündete, war von Stalingrad nicht mehr die Rede. Das Thema war nach den Trauertagen aus den Schlagzeilen, Kinos und Theater nahmen ihr Programm wieder auf. Eine Tafel in der Potsdamer Straße in Berlin-Schöneberg erinnert daran, dass hier der Sportpalast stand, in dem Goebbels vor 80 Jahren zum totalen Krieg aufrief. Wer an frühere Siegesmeldungen erinnerte, machte sich verdächtig und konnte wegen Wehrkraftzersetzung" unters Fallbeil kommen.



Das Plakat zitiert leicht verändert Theodor Körner, den Dichter der Befreiungskriege von 1813 bis 1815, und gibt damit dem nationalsozialistischen Endkampf eine historische Weihe. Im Museum Berlin-Karlshorst, dem Ort der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945, wird die in Wolgograd auf einem Hügel stehende „Mutter Heimat“ mit dem Schwert in verkleinerter Form gezeigt.



Den sicheren Untergang und die Rache der Sieger vor Augen, mobilisierte die Naziführung 1944/45 allerletzte Reserven für den „Endsieg“. Die vor dem Propagandaministerium auf dem Wilhelmplatz in Berlin angetretenen alten und jungen Volkssturmmänner hatten keinen militärischen Nutzen und waren nichts anderes als Kanonenfutter. (Fotos/Repros: Caspar)

Als vor 80 Jahren, am 2. Februar 1943, in Stalingrad die 6. Armee der deutschen Wehrmacht unter der Führung von Generalfeldmarschall Friedrich Paulus kapitulierte, waren Hitler und seine Gefolgsleute außer sich. Den von der Roten Armee eingeschlossenen, durch grimmige Kälte und Hunger total erschöpften Soldaten und ihren Kommandeuren hatte Hitler die Aufgabe der hart umkämpften und wegen ihres Namens besonders symbolträchtigen Stadt an der Wolga strikt verboten. 100 000 deutsche Soldaten fielen, 90 000 gerieten in Gefangenschaft, aus der nur 5000 in die Heimat zurückkehrten. Insgesamt wird auf beiden Seiten mit 700 000 Toten gerechnet.

Russlands Diktator Wladimir Putin feierte am 80. Jahrestag des Sieges der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad mit großem Bombast und Drohreden. Dort wurden an Straßenschildern der Name Wolgograd durch Stalingrad ausgetauscht. Es gibt Bestrebungen, der Stadt ihren alten Namen zurück zu geben. Putin zufolge kämpft Russland heute wieder gegen Nazis, genauer gesagt gegen die in der Ukraine. Er verglich die Schlacht von Stalingrad vor 80 Jahren mit den den Kämpfen heute in der Ukraine, die er und andere stets als „Spezialoperation“ umschreiben. „Wir sehen leider, dass die Ideologie des Nationalsozialismus in modernem Gewand erneut eine direkte Bedrohung für die Sicherheit unseres Landes darstellt. Immer wieder sind wir gezwungen, die Aggression des kollektiven Westens abzuwehren. Es ist unglaublich, aber wahr: Wir werden wieder von deutschen Leopard-Panzern mit Kreuzen an Bord bedroht“, sagte Putin und wiederholte den Vorwurf, die Ukraine werde von einem Nazi-Regime regiert. Er drohte zwar nicht direkt mit dem Einsatz von Atomwaffen, machte aber klar, dass er nicht gedenke, sich von Panzerlieferungen einschüchtern zu lassen. „Wir sind in der Lage zu antworten. Der Einsatz gepanzerter Fahrzeuge wird die Angelegenheit nicht beenden“, sagte Putin und fügte hinzu. Russland werde siegen, das sei sicher.

Kapitulation ausgeschlossen

Zurück ins Jahr 1943. In einem Telegramm an den Kommandeur der 6. Armee, Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, forderte Hitler: „Kapitulation ausgeschlossen. Die 6. Armee erfüllt ihre historische Aufgabe damit, durch Aushalten bis zum äußersten den Widerstand der Ostfront zu ermöglichen“. Paulus hatte noch am 30. Januar 1943 an das Führerhauptquartier telegrafiert: „Zum Jahrestage Ihrer Machtübernahme grüßt die 6. Armee ihren Führer. Noch weht die Hakenkreuzfahne über Stalingrad. Unser Kampf möge den lebenden und den kommenden Generationen ein Beispiel dafür sein, auch in der hoffnungslosesten Lage nie zu kapitulieren, dann wird Deutschland siegen“.

Eigene Schuld am Untergang der 6. Armee sah Hitler selbstverständlich nicht. Paulus hätte sich umbringen sollen wie jene antiken Heerführer, die sich angesichts ihrer Niederlage selber töteten, erklärte er wütend. „Was mich persönlich am meisten schmerzt, ist, dass ich ihn zum Feldmarschall beförderte. Ich wollte ihm diese letzte Anerkennung geben. Das ist der letzte Feldmarschall, den ich in diesem Kriege ernannt habe. Man soll seine Hühner nicht zählen, bis man sie im Stall hat. [...] So viele Leute müssen sterben, und dann zieht so ein Mann in letzter Minute das Heldentum so vieler anderer in den Schmutz“, erklärte Hitler nach Bekanntwerden der Gefangennahme von Paulus und der ihm verbliebenen Soldaten. Seine größte Sorge war, dass er nun in Moskau vorgeführt wird und „Geständnisse“ macht, die kein gutes Licht auf die deutsche Führung werfen. Friedrich Paulus wechselte die Seite, rief als Mitglied des Bundes deutscher Offiziere zum schnellen Ende des Kampfes auf und war auch Zeuge im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal. Bei vielen seiner Kameraden war er unten durch, doch konnte er nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft einen ruhigen Lebensabend in der DDR verbringen, war als Zeitzeuge gefragt und starb 1957 in Dresden.

Die Wende im Zweiten Weltkrieg

Stalingrad bedeutete die Wende im Zweiten Weltkrieg, von nun ging es mit dem Deutschen Reich zurück und bergab. „Die Leute hungern, sie haben keine Munition mehr, sehen mit starren, in die Höhlen zurückgetretenen Augen der vollkommenen Auflösung entgegen“, zitiert Goebbels eine Bemerkung Hitlers, der durch seine Verbindungsleute bestens über die aussichtslose Lage im Kessel von Stalingrad Bescheid wusste. In den vom Propagandaminister kontrollierten Zeitungen und der Wochenschau wurde, untermalt von klassischer Musik und illustriert mit Soldatenbildern, der Untergang der 6. Armee als Heldenepos von geradezu antiker Größe verkündet. „Sie starben, damit Deutschland lebe. Unser Schwur: Vergeltung!“ titelte der „Völkische Beobachter. Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschland“ am 4. Februar 1943, und mit ihm behaupteten alle anderen Medien, jetzt erst recht würden die Deutschen dem „Ansturm der Steppe“ standhalten und alle Reserven für den „Endsieg“ mobilisieren.

Da der Untergang der 6. Armee mit dem zehnten Jahrestag der „Machtergreifung“ zusammenfiel, schickte Hitler, der stets am 30. Januar eine flammende Gedenkrede zu halten pflegte, Reichsmarschall Hermann Göring und seinen Propagandaminister Goebbels vor, dem Massensterben an der Wolga einen „höheren Sinn“ zu verleihen. Angeblich würden sich die in Stalingrad eingeschlossenen Männer mit dem Gedanken trösten, Teilnehmer eines Ereignisses von welthistorischer Bedeutung zu sein. „Noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit heiligem Schauer vor diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erinnern, dass dort trotz allem Deutschlands Sieg entschieden worden ist“, behauptete Göring und wusste genau, dass diese Vision eine furchtbare Lüge ist. Für die Behandlung des Themas Stalingrad gab Goebbels klare Anweisungen. „Nicht in Frage kommen Trauer, Sentimentalität, erst recht nicht Nassforschheit. Dagegen müssen die drei Gedenktage der inneren Sammlung, Besinnung und Kraftkonzentration dienen“, wies er am 3. Februar 1945 die Medien an und bestimmte, die gesamte Propaganda müsse das Heldentum von Stalingrad zum Mythos werden lassen und den kostbarsten Besitz der deutschen Geschichte bilden. Unangebracht seien eine übertriebene Verwendung des Wortes Heldentum, Flaggen auf Halbmast und Trauerränder in den Zeitungen waren verboten. Die Tagesparole des Reichspressechefs Otto Dietrich vom gleichen Tag konkretisierte die Linie dahingehend, der Heldenkampf um Stalingrad werde nunmehr zum größten Heldenlied der deutschen Geschichte. „Aus dem unsterblichen Heldentum der Männer von Stalingrad werden sich in der deutschen Nation noch stärker als bisher der Geist der Kräfte entfalten, die ihr den Sieg sichern, den zu erringen sie jetzt um so fanatischer entschlossen ist“.

Gestapo registriert Stimmungstief

Über die deutschen Verluste in der Schlacht wurde nichts gesagt, lediglich meldeten die NS-Medien, es seien 47 000 Verwundete aus dem Kessel von Stalingrad gerettet worden. Goebbels verbot der deutschen Presse über die „Mobilisierung der letzten Reserven“ zu schreiben, weil das nur zu Pessimismus führe. Die Gestapo registrierte in ihren Spitzelberichten ein Stimmungstief, und wo sich unter dem Eindruck der Katastrophe Widerstand regte wie bei der Flugblattaktion der Gruppe „Weiße Rose“ in München, schlug die NS-Justiz schnell und unerbittlich zurück.

Mit markigen Worten sagte der Propagandaminister bei seiner Rede im Sportpalast dem „internationalen Judentum“, aber auch so genannten Drückebergern, Schiebern und anderen Personen den Kampf an, die bei den Kriegsanstrengungen abseits stehen oder sie gar sabotieren. Dass es den Nazis mit ihren Drohungen ernst war, zeigte die wachsende Zahl von Todesurteilen des Volksgerichtshofs wegen so genannter Wehrkraftzersetzung. Die Zeitungen berichteten über Exekutionen, um die von Todesmeldungen, Bombenangriffen und und Rückzugsmeldungen, die als Frontbegradigung verschleiert wurden, verängstigten und entnervten Menschen weiter bei der Stange zu halten.

„Wollt ihr den totalen Krieg“

Höhepunkt der im Rundfunk übertragenen und ausgiebig in der Presse zitierten Sportpalast-Rede unter dem Motto „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ war Goebbels‘ Frage „Wollt ihr den totalen Krieg“. Die Antwort des sorgsam ausgesuchten Publikums war ein vielstimmiges „Ja“, das von der Propaganda als eine Art Volksabstimmung für die Verschärfung des Kriegskurses gewertet wurde. Der Minister behauptete, das im Nationalsozialismus erzogene, geschulte und disziplinierte deutsche Volk könne die volle Wahrheit vertragen. Es wisse, wie schwierig es um das Reich bestellt ist, und deshalb könne das Volk seine Führung auffordern, aus der Bedrängtheit der Situation die nötigen Folgerungen zu ziehen. „Wir Deutschen sind gewappnet gegen Schwäche und Anfälligkeit, und Schläge und Unglücksfälle des Krieges verleihen uns nur zusätzliche Kraft, feste Entschlossenheit und eine seelische und kämpferische Aktivität, die bereit ist, alle Schwierigkeiten und Hindernisse mit revolutionärem Elan zu überwinden“, rief der Propagandaminister in die Menge und erhielt tosenden Beifall. Goebbels stellte Fragen und gab sogleich die Antworten. „Die Engländer behaupten, das deutsche Volk habe den Glauben an den Sieg verloren. Ich frage euch: Glaubt ihr mit dem Führer und mit uns an den endgültigen totalen Sieg des deutschen Volkes? Ich frage euch: Seid ihr entschlossen, dem Führer in der Erkämpfung des Sieges durch dick und dünn und unter Aufnahme auch der schwersten persönlichen Belastung zu folgen?“ Jedesmal erklang ein vielstimmiges „Ja“.

An seine „Volksgenossen“ gewandt, erklärte Goebbels, der totale Krieg sei das Gebot der Stunde. Jetzt müsse ein Ende sein mit bürgerlichen Zimperlichkeiten, das Volk sei mit seiner Führung entschlossen, nunmehr zur radikalsten Selbsthilfe zu greifen. Rücksicht auf Stand und Beruf würden nicht genommen, Arm und Reich und Hoch und Niedrig müssten in gleicher Weise beansprucht werden. Jetzt gelte der Grundsatz „Räder müssen rollen für den Sieg“, aber weiterhin würden Theater, Kinos, Musiksäle sowie Sportveranstaltungen „voll im Betrieb bleiben“. „Wir Deutschen sind gewappnet gegen Schwäche und Anfälligkeit, und Schläge und Unglücksfälle des Krieges verleihen uns nur zusätzliche Kraft, feste Entschlossenheit und eine seelische und kämpferische Aktivität, die bereit ist, alle Schwierigkeiten und Hindernisse mit revolutionärem Elan zu überwinden“, rief der Propagandaminister und erhielt erwartungsgemäß tosenden Beifall. Er verlieh seiner Rede einen patriotischen Anstrich, als er sie mit diesem Aufruf schloss: „Wenn wir je treu und unverbrüchlich an den Sieg geglaubt haben, dann in dieser Stunde der nationalen Besinnung und der inneren Aufrichtung.“

Letzte Reserven werden mobilisiert

Nach der Rede des Propagandaministers wurden letzte Reserven mobilisiert, die Kriegsmaschine lief auf Hochtouren, Frauen mussten an der Seite unzähliger Zwangsarbeiter in den Rüstungsfabriken unter ständiger Bedrohung durch Luftangriffe Dienst tun. Ab September 1944 wurden im Volkssturm alle bisher noch nicht kämpfenden Männer zwischen 16 und 60 Jahren für die Verteidigung der Heimat rekrutiert, sofern sie irgendwie dafür geeignet waren. Dieser unausgebildeten Truppe oblagen Bau- und Schanzarbeiten, Sicherungsaufgaben sowie die Verteidigung von Ortschaften. Großsprecherisch wurde diese letzte Kampfreserve als notwendig für den Endsieg erklärt. Mit einem Schlag standen Millionen Volkssturmmänner unter der Gewalt von Martin Bormann, der als Chef der Parteikanzlei der NSDAP zu Hitlers engsten Vertrauten gehörte. Die militärischen Befehle erteilte Reichsführer SS Heinrich Himmler als Befehlshaber des Ersatzheeres, in dem bis unmittelbar vor der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 noch unzählige Junge und Alte einen kläglichen Tod fanden.

3. Februar 2023

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