Auf dem Weg in die Katastrophe
Museum Berlin-Karlshorst dokumentiert die Folgen des vor 85 Jahren in Moskau unterzeichneten Hitler-Stalin-Pakts


Der Saal, in dem die Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 besiegelt wurde, ist das Herzstück des im ehemaligen Kasinogebäude der Festungspionierschule untergebrachten Museums Berlin-Karlshorst. Der Komplex war während und nach der Schlacht um Berlin 1945 Hauptquartier der Roten Armee.


Nach 1945 war in den von Moskau abhängigen Ländern das von Ribbentrop und Molotow im Beisein des zufrieden grinsenden Stalin am 23. August 1939 unterzeichnete Geheimprotokoll ein offenes Geheimnis. In den USA war es schon in den 1940er Jahren publiziert worden.

Als Außenminister Molotow im November 1940 in Berlin weilte, hatten deutscher Versuche, die Sowjetunion für weiteres Abkommen zur Aufteilung der Welt zwischen ihr, dem Deutschen Reich und Italien zu bewegen, keinen Erfolg.

Beim Hitler-Stalin-Pakt hatten sich zwei Brüder im Geist gefunden, um ihre imperialistischen Träume zu verwirklichen.
Beide Diktatoren machen sich auf der Karikatur vergiftete Komplimente. Sie sind sich einig im Bestreben, Polen, die baltischen Staaten sowie Finnland, Rumänien und weitere Länder zu erobern und auszubeuten. Antifaschisten mussten umdenken, manche Enttäuschte brachten sich um.



Für Museumsleiter Jörg Morré und sein Team ist die seit drei Jahren vorbereitete Ausstellung zum Hitler-Stalin-Pakt ein guter Anlass, mit in- und ausländischen Museen und Forschungseinrichtungen die Sichtweisen auf die Absprachen der beiden Diktatoren und ihre Auswirkungen bis heute zu untersuchen und ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. In der Dauerausstellung im Haus der Kapitulation vom 8. Mai 1945 soll auch dieser Aspekt stärker als bisher erörtert werden. (Fotos/Repros: Caspar)
Das Museum Berlin-Karlshorst zeigt bis zum 26. Januar 2024 die Ausstellung „Riss durch Europa – Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts“. Das in Moskau am 23. August 1939 von den Außenministern von Ribbentrop und Molotow unterzeichnete „Freundschafts- und Nichtangriffsabkommen“ zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion ebnete den Weg zu riesigen Eroberungen in Mittel-, Ost- und Nordeuropa und hatten unendliches Leid in den betroffenen Völkern zur Folge. In einem geheimen Zusatzprotokoll „für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung“ sicherte sich die Sowjetunion die Zurückgewinnung von Territorien, die das Zarenreich im und nach dem Ersten Weltkrieg hatte abtreten müssen. Deutschland und die Sowjetunion zogen eine neue Grenzlinie durch Polen, das wenige Zeit später von beiden Seiten überfallen und ausgelöscht wurde.
Lange leugnete die Sowjetunion die Existenz der geheimen Abmachungen zwischen Hitler und Stalin, so wie auch das sowjetische Massaker von Katyn, dem 1940 unzählige polnische Offiziere und Intellektuelle zum Opfer fielen, wider besseren Wissens als deutsches Verbrechen bezeichnet wurde und aus naheliegenden Gründen beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess auf sowjetischen Wunsch nicht zur Sprache kam. Für Antifaschisten und Kommunisten brach eine Welt zusammen, denn von einem Tag zum anderen mussten sie schmerzhaft sehen, dass Hitler und seine Schergen mit ihrem Idol Stalin scherzen und im Übrigen Gefangene austauschen, denen in ihren Heimatländern nicht nur rote Teppiche zur Begrüßung ausgebreitet wurden. Bei der Pressekonferenz anlässlich der Ausstellungseröffnung im Museum Berlin-Karlshorst wurde auf diese wenig bekannten Folgen des Paktes und auf Selbstmorde unter Antifaschisten hingewiesen, die mit dieser „Wende“ und dem sich abzeichnenden Weg in die Katastrophe nicht klar kamen und sich zu Recht verraten fühlten.
Digitale Fassung für Schulen
Museumsleiter Dr. Jörg Morré und Kurator Christoph Meißner kennen die Problematik und räumten ein, dass die Ausstellung schon aus Platzgründen nicht auch diesen und weitere grausige Aspekte des Themas berücksichtigen konnte. Die Wanderausstellung und der im September 2024 erscheinende Begleitband wollen Diskussionen und den Austausch über zum Teil recht unterschiedliche Perspektiven anregen. Neben der deutsch/englischen liegt bereits eine ukrainisch/englische Sprachfassung vor. Eine Präsentation in der Ukraine ist für 2025 geplant. Im deutschsprachigen Raum wird die Ausstellung im Museum Berlin-Karlshorst auch im digitalen Raum verbreitet. finden. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat in Kooperation mit dem Museum Berlin-Karlshorst alle Inhalte der Ausstellung auf ihre Website gestellt und eine Handreichung für die Nutzung der digitalen Fassung in Schulen erarbeitet.
Bis heute ist für Polen die 1939/40 vollzogene fünfte Teilung und zeitweilige Auslöschung des Landes eine die Beziehungen zum östlichen Nachbarn, früher Sowjetunion und heute das von Putin beherrschte Russland, eine schwer zu ertragend Hypothek. Auch in den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen ist die Okkupation durch die Rote Armee, die Ermordung und Deportation von Bewohnern dieser Länder bei gleichzeitiger Russifizierung präsent. In Finnland sind der von Stalin angezettelte Winterkrieg vom 30. November 1939 bis 13. März 1940 und die Gebietsabtretungen an die Sowjetunion danach ein heißes Eisen und belasten die Beziehungen zu Russland. Dass sich Estland, Lettland, Litauen, Polen,Tschechien, Slowenien, Slowakei, Ungarn und zuletzt Schweden und Finnland der NATO anschlossen, ist Ausdruck der in diesen Ländern verbreiteten Angst vor dem russischen Imperialismus und dass sich die Geschichte wiederholt. Niemand will ohne Schutz durch ein starkes Bündnis sein und ist auf alles gefasst, denn Putins Ziel ist die Wiederherstellung des alten Russischen Reichs, koste es was es wolle. Mit der Ukraine wollte er beginnen, doch das Ziel, binnen weniger Tage in Kiew ein ihm genehmes Marionettenregime zu installieren wie in Belorussland, wurde nicht erreicht und wird es hoffentlich auch nicht werden.
Auftakt zu tiefer gehende Analysen
Vom 12. bis 14. November 1940 weilte Außenminister Molotow in Berlin, von einer Ehrengarde begrüßt. Er traf mit Ribbentrop und Hitler zusammen und besprach Pläne, wonach die Sowjetunion in Fortsetzung des Hitler-Stalin-Pakts einem Bündnis zur Neuaufteilung der Welt beitritt. Danach sollte Italien den afrikanischen Raum, Deutschland Europa und die UdSSR die asiatische Sphäre in Besitz nehmen. Dieser Pakt kam nicht zustande. Ein halbes Jahr später überfiel Nazideutschland die auf einen solchen Angriff schlecht vorbereitete Sowjetunion.
Für das Museum Berlin-Karlshorst ist die neue Bild-Text-Ausstellung zum Hitler-Stalin-Pakt der Auftakt für eine tiefer gehende Analyse der Entwicklungen, die zum Zweiten Weltkrieg und seinen globalen Folgen führten. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm mit Podiumsdiskussionen über den sowjetischen Überfall auf Polen, postsowjetische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, das sowjetische Erbe der Ukraine vor dem Hintergrund der Abmachungen vom 23. August 1939 bis zu den von Stalin befohlenen Deportationen aus den in Sowjetrepubliken umgewandelten baltischen Staaten und den Umgang des heutigen Russland mit dem Nichtangriffspakt und seinen Folgen.
In der Zeit von Glasnost und Perestroika bequemte sich die Sowjetunion, die Existenz des in einem Moskauer Archiv befindlichen Zusatzprotokolls zuzugeben und auch über die Opfer der Stalin-Diktatur zu sprechen. Was als offenes Geheimnis galt, wurde auch in der damaligen DDR zu einem Thema. Statt sich ihm ehrlich und ohne Scheuklappen zu stellen, verbot Staats- und Parteichef Erich Honecker das sowjetische Magazin „Sputnik“, das über politischen Massenmord und Arbeitslager berichtete, konnte aber nicht verhindern, dass man sich auch mit Hilfe westlicher Medien informierte. Nach Zeiten von Offenheit und Einsicht ist das heutige Putin-Regime zur Stalinschen Deutung des Nichtangriffspakts zurückgekehrt, indem es behauptet, Stalin habe mit ihm Zeit gewonnen, um das Land und seine Bewohner auf einen deutschen Angriff vorzubereiten. Trotz ernstzunehmender Warnungen hat der Diktator diese Chance nicht genutzt. Beim Überfall am 22. Juni 1941 ging das Land weitgehend unvorbereitet in einen Kampf um Leben und Tod, in dem die deutsche Wehrmacht bis Stalingrad Anfang 1943 weitgehend die Oberhand hatte.
Unterschiedliche Erinnerungen
In je einem Ausstellungsmodul werden die vier von jenem Abkommen betroffenen Regionen gewürdigt und ihre Entwicklung in der Zwischenkriegszeit vorgestellt. Politiker und Schriftsteller, Soldaten und einfache Menschen waren von den Folgen des Pakts betroffen. Ausgewählte Biografien zeigen die Spannbreite der Reaktionen und Wirkungen von Kollaboration und Widerstand, Überleben und Sterben. In der Ausstellung spielen die ganz unterschiedlichen Erinnerungen an die Folgen des 23. August 1939 eine zentrale Rolle. Während in Deutschland der Nichtangriffsvertrag zunehmend in Vergessenheit geriet und hinter den Kriegsbeginn am 1. September 1939 und die deutschen Verbrechen in Europa, vorrangig die Shoa, zurücktritt, wird er im heutigen Russland geschichtspolitisch als Stalins kluger Schachzug instrumentalisiert. Im Gegensatz zu Westeuropa, wo die stalinistischen Verbrechen infolge des geheimen Zusatzprotokolls weitgehend ignoriert werden, sind der Pakt und seine Folgen in Ostmitteleuropas Teil des kollektiven Gedächtnisses und werden zum Anlass genommen, um das Verhältnis zum heutigen Russland zu prüfen und mit Hilfe ausländischer Partner Maßnahmen zum eigenen Schutz zu ergreifen. Auf europäischer Ebene schlagen sich diese Differenzen spätestens seit den Osterweiterungen der Europäischen Union im Jahr 2004 nieder. Während in den westeuropäischen Staaten die Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Zentrum der Betrachtung steht, fokussieren die ostmitteleuropäischen Staaten auf die stalinistischen Verbrechen.
Nazipropaganda musste sich umstellen
Für Hitler war es im Sommer 1939 nur eine Frage der Zeit, wann er den Krieg gegen Polen beginnen würde, der sich zum Zweiten Weltkrieg auswuchs. Wichtig für den Überfall am 1. September 1939 war die Absicherung im Osten durch den Hitler-Stalin-Pakt. Das unter hohem Zeitdruck ausgehandelte Abkommen war auf zehn Jahre befristet und legte es unter Berufung auf einen 1926 abgeschlossenen Neutralitätsvertrag fest, dass sich beide Staaten jeglicher Gewalt des einen gegenüber dem anderen enthalten. Im Falle eines Krieges wollten sie sich neutral verhalten und auch keine Koalition unterstützen, die sich gegen die andere Seite richtet. Darüber hinaus wollten das Deutsche Reich und die Sowjetunion mögliche Konflikte „freundschaftlich“ beilegen. Hitler drängte auf Eile, weil er im Osten für seinen Polenfeldzug den Rücken frei haben wollte. Er musste damit rechnen, dass England und Frankreich bei einem Krieg mit Polen nicht stillhalten werden, was dann auch eintraf. Teil des Vertrags war ein Wirtschaftsabkommen, nach dem die Sowjetunion Nahrungsmittel, Öl und Erz nach Deutschland liefert und im Gegenzug von dort Industrieerzeugnisse und Steinkohle erhält. Außerdem wurden deutsch-sowjetische Militärkonsultationen ermöglicht.
Die NS-Propaganda musste sich umstellen. Sie feierte das überraschende Zusammengehen mit der als „jüdisch-bolschewistischer Erzfeind“ verteufelten Sowjetunion als Fortsetzung der von Reichskanzler Otto von Bismarck während der Kaiserzeit praktizierten freundschaftlichen Beziehungen zum zaristischen Russland, während in der Sowjetunion die Losung ausgegeben wurde, sie müsse Zeit gewinnen, um für einen möglichen Krieg mit dem Deutschen Reich gewappnet zu sein. Beide Seiten verzichteten bis zum Überall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 auf gegenseitige verbale Angriffe und zelebrierten mehr oder weniger mühsam so etwas wie deutsch-sowjetische Freundschaft. Gezeigt wurden in den Medien Bilder freundschaftlicher Treffen von Soldaten beider Länder, und auch sonst gab es beschwichtigende Kommentare und Berichte über den bisherigen Erzfeind Sowjetunion.
Geheimes Zusatzprotokoll lange geleugnet
In einem geheimen Zusatzprotokoll geht es um die „Abgrenzung der beiderseitigen Interessenssphären in Osteuropa (…) für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung. In den zu den baltischen Staaten Finnland, Estland, Lettland, Litauen gehörenden Gebieten „bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessenssphären Deutschlands und der UdSSR.“ Der Sowjetunion ging es um die Zurückgewinnung verlorener Territorien. Das östliche Polen sowie Finnland, Estland und Lettland wurden in dem Dokument zu sowjetischen Interessensphären, das westliche Polen und Teile Litauen zu denen des Deutschen Reiches erklärt. Gleich nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen haben Deutschland und die Sowjetunion einen Grenz- und Freundschaftsvertrag abgeschlossen. Während die Rote Armee das östliche Polen sowie die beiden baltischen Staaten und Teile der heutigen Ukraine besetzte, weil sie ehemals zum Zarenreich gehörten, verwandelte das NS-Reich Teile von Polen in das Generalgouvernement und errichtete dort ein Terrorregime, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Offiziell wurde das Zusatzprotokoll, dessen Existenz lange geleugnet wurde, erst am 24. Dezember 1989 vom sowjetischen Volksdeputiertenkongress für null und nichtig erklärt. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, von dem ein Faksimile in der Ausstellung gezeigt wird, wird insgesamt von Politikern und Historikern kontrovers beurteilt. Während einerseits der Sowjetunion ein berechtigtes Interesse an der Wiederherstellung der alten polnisch-russischen Grenze zugestanden wird, wird vor auf der anderen Seiten Stalin vorgeworfen, er habe sich mit Hitler gemein gemacht und unverfroren die Gelegenheit genutzt, sein Herrschaftssystem nach Westen und Süden auszuweiten.
Die Ausstellung im Museum Berlin-Karlshorst gibt der Diskussion über ein lange zurück reichendes und vielfach unterschätztes Ereignis von Weltrang neuen Schwung und weitet den Blick auf das aktuelle, von Kriegen und Konflikten geprägte Zusammenleben der Völker. Dem Museum sei gedankt, dass es dabei auf überzeugende Art hilft.
21. August 2024